Archiv: Chopin & Sibelius

Wien Musikverein Großer Saal Musikverein | Großer Saal

Interpreten

  • Beatrice Rana, Klavier
  • Yutaka Sado, Dirigent

Programm

Einer der bekanntesten österreichischen Komponisten der Moderne war Gottfried von Einem. Sein Tanz-Rondo spielen die Tonkünstler ihm zu Ehren, denn die Musikwelt feiert 2018 seinen 100. Geburtstag. «Er ist nicht nur Virtuose, er ist auch Poet», schrieb Heinrich Heine über Frédéric Chopin. Mit seinem ersten Klavierkonzert kehrt Beatrice Rana zu den Tonkünstlern zurück. Die italienische Pianistin bezauberte ihr Publikum bereits beim Antrittskonzert von Chefdirigent Yutaka Sado. Er wählte für das Finale dieses Programms die fünfte Symphonie von Jean Sibelius mit der berühmten «Schwanenhymne» aus.

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Gottfried von Einem

Tanz-Rondo op. 27

Dauer

130 Min.

Entstehung

1959

Gottfried von Einem zählt zu jenen großen Komponistenpersönlichkeiten, die wesentlichen Anteil hatten am Wiederaufbau der nach 1945 brachliegenden österreichischen Musikszene. Diese war von der in vieler Hinsicht verheerenden, vor allem modernen Strömungen gegenüber feindselig eingestellten Kulturpolitik des Austrofaschismus und noch mehr des Nationalsozialismus gezeichnet. Einems Verdienste am Wiederaufbau gründen sowohl in verschiedensten ehrenamtlichen und beratenden Funktionen als auch seiner Musik selbst, die eine Fortsetzung der Tradition mit zeitgemäßen Mitteln, jedoch unter Verzicht auf experimentelle Methoden abbildet. Geboren am 24. Jänner 1918 in Bern, wuchs Einem in Deutschland auf, wo er ab 1938 als Kapellmeister und Korrepetitor an der Berliner Staatsoper und in Bayreuth arbeitete. 

Rettung vieler Werke vor der Vernichtung: Von 1941 bis 1943 studierte er Komposition bei Boris Blacher. Den schlimmsten Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs konnte er durch die Übersiedlung auf den Familienstammsitz in der Ramsau in der Steiermark ausweichen, wodurch er sich auch dem Blickfeld der Gestapo entzog, die ihn wegen subversiver Handlungen beobachtet hatte. Nicht zuletzt ist ihm die Rettung vieler Werke verbotener Kollegen vor der Vernichtung zu verdanken. Nach Kriegsende wirkte er unter anderem bei den Salzburger Festwochen, der Wiener Konzerthausgesellschaft und den Wiener Festspielen, in den 1960er-Jahren an der Wiener Musikhochschule und der Wiener Staatsoper. Seine Werke wie sein starkes gesellschaftspolitisches Engagement brachten Einem gleichermaßen hohe Anerkennung wie Anfeindung und machten ihn weit über musikinteressierte Kreise hinaus bekannt. Zu den vielen hohen Auszeichnungen, die er erhielt, gehörten die Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien 1988 sowie der Kulturpreis des Landes Niederösterreich 1989. Gottfried von Einem starb am 12. Juli 1996 in seinem Haus im niederösterreichischen Oberdürnbach. 

Prägnante thematisch-melodische Einfälle, scharf akzentuierte Rhythmik und ein ausgeprägtes Gefühl für differenzierte Klangfarben bestimmten früh Gottfried von Einems sehr persönliche Tonsprache, die er während seines gesamten Lebens beibehielt. Alle diese Elemente sind auch in dem 1959 im Auftrag des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks entstandenen Tanz-Rondo op. 27 präsent. Als Kompliziertheit im Einfachen könnte man die formale Struktur bezeichnen: Im Sinne der Rondoform wird der Wiedererkennungseffekt des Refrainhaften angestrebt. Gleichzeitig wird aber das dreiteilige Thema im A-B-A-Schema kunstvoll in drei Variationen verarbeitet, wodurch sowohl charakterliche als auch instrumentatorische Veränderungen hervor- und einer bloßen Wiederholung entgegentreten. Als einen Höhepunkt mag man wohl die zweite Variation mit ihrer prächtig aussingenden Streichermelodie ansehen. Erst zum Schluss kehrt das Thema in einer Reprise in seiner Originalgestalt wieder, die freilich durch die zwischendurch erfolgten musikalischen Entwicklungen unter einem neuen Blickwinkel betrachtet werden könnte - der Intention Einems nach aber auf jeden Fall Spaß bereiten sollte. 

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Dr. Christian Heindl

Frédéric Chopin

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 e-Moll op. 11

Sätze

  • Allegro maestoso

  • Romanze.Larghetto

  • Rondo. Vivace

Dauer

34 Min.

Entstehung

1830

Rund um sein 20. Lebensjahr beendete Frédéric Chopin seine Beschäftigung mit dem Orchester für immer. Sowohl die beiden Klavierkonzerte, als auch alle anderen insgesamt vier Werke für Klavier und Orchester entstanden im Wesentlichen noch während seiner Warschauer Zeit, also vor oder im Jahr 1830. Die enge Verwandtschaft zum Opernschaffen Vincenzo Bellinis ist besonders im Ersten Klavierkonzert mit seinen weit gesponnenen Themen offenbar. Bei Chopin tritt eine sinnliche Kraft hinzu, die in erster Linie den Möglichkeiten des Klaviers entspricht. Die Exklusivität dieses einen wahren Instrumentes, dem er all seine Kreativität anvertraute, ist selbst im Vergleich mit anderen, ebenso hervorragenden Pianisten seiner Zeit ungewöhnlich. Sogar der gestrenge Klavierpädagoge Carl Czerny schrieb auch rein symphonische Werke, von Franz Liszt, dem berühmtesten Klaviervirtuosen seiner Zeit, ganz zu schweigen.

Bei Chopin sollte das Orchester allein als Grundierung für pianistische Abläufe dienen, und es erfüllt genau diesen Zweck. Selbst bei Passagen, die nur aus Akkordzerlegungen oder einfach langen Läufen bestehen, bleibt das melodische Material im Klavier, während das Orchester in möglichst warmen, satten Farben den harmonischen Hintergrund bildet und in Einleitungen und Zwischenspielen den Klavierpart kontrastiert und vorbereitet. Chopin liegt damit ganz im Stil des Virtuosenkonzertes seiner Zeit. Dennoch sahen sich selbst Zeitgenossen wie die Pianisten Karl Klindworth oder Carl Tausig dazu veranlasst, dem Orchesterpart durch Retuschierungen und Umarbeitungen größeres Gewicht zu verleihen. Später griff etwa der russische Komponist Mili Balakirew in die Partitur ein, und vor einigen Jahren hat der Pianist und Dirigent Mikhail Pletnev eine sanfte Neuinstrumentierung vorgenommen. Nötig ist das offenbar nicht: Denn während alle anderen Virtuosenkonzerte des 19. Jahrhunderts, von Henri Herz, Ignaz Moscheles oder Theodor Kullak, um nur einige zu nennen, höchstens noch am Plattenmarkt in Spuren, aber gar nicht im Konzertalltag präsent sind, zählen die beiden Klavierkonzerte Chopins bis heute zu den Fixpunkten im Repertoire jedes Pianisten und aller Konzertveranstalter, unabhängig von Orchestrierungs-Details.

Das Klavierkonzert Nr. 1 e-Moll op. 11 entstand von April bis August 1830, nach dem f-Moll-Konzert, wurde jedoch als erstes (1833) veröffentlicht, wodurch die umgekehrte Nummerierung zustande kam. Die traditionelle dreiteilige Anlage mit zwei schnellen Ecksätzen und einem ruhigen Mittelsatz liegt ebenso ganz im Stil der Zeit wie die damit einhergehenden Anforderungen an den Klaviervirtuosen. Die lange Orchestereinleitung bringt drei Themen: Das erste, pathetisch-strenge in e-Moll, darauf das lyrische Hauptthema, ebenfalls in e-Moll, und das zarte Seiten­thema in E-Dur. Das Klavier setzt kraftvoll, quasi improvisatorisch weit ausholend ein und wiederholt alle drei Themen. Nach außen hin scheint nun der einzige wirkliche Kontrast zwischen Haupt- und Seiten­thema die Dur-Aufhellung, doch trügt dieser Schein: das Geheimnis liegt in der linken Hand des Klaviersatzes begründet. Während nämlich zum Hauptthema leise pochende Akkorde erklingen, folgen dem Melodieverlauf des Seitenthemas weiträumige Bassfiguren. Damit erklärt sich auch der Unterschied im Charakter der Themen, die zwischen Tristesse und positivem Aufschwung pendeln. Die weitere Verarbeitung des Materials erfolgt im Wesentlichen solistisch, wobei vor allem der Variation als Gestaltungsmittel großer Platz gewährt ist. Als groß angelegtes, wunderschönes Nocturne über gedämpftem Orchesterteppich entpuppt sich schließlich der zweite Satz, zu dem sich Chopin selbst in einem Brief äußert: "Das Adagio des neuen Konzertes ist in E-Dur. Es ist eine Art Romanze, ruhig und melancholisch. Es soll den Eindruck eines liebevollen Rückblicks erwecken, eines Rückblicks auf eine Stätte, die in uns tausend süße Erinnerungen wachruft. Es ist wie eine Träumerei in einer schönen, mondbeglänzten Frühlingsnacht. Deshalb wird es mit sordinierten Geigen begleitet; das sind Geigen, die durch eine Art Kämme gedämpft werden, die, auf den Saiten angebracht, einen nasalen, silbernen Ton bewirken." Spätestens hier erübrigen sich auch alle Kritikpunkte den Orchestersatz betreffend. Das finale Rondo ruft mit scharfen Akzenten aus dem Traumland der Romanze zurück in die Welt des polnischen Volkstanzes: Im Rhythmus des Krakowiak hebt das Klavier an und reißt sogleich wieder den ganzen Satz an sich. Das Orchester leitet bald zu einem harschen Temperaments-Ausbruch nach cis-Moll über, um nach einigem beeindruckenden Passagenwerk im A-Dur-Seitenthema zu landen, das unisono wieder ganz den Volksliedgedanken aufgreift. Es ist auch genau dieses Thema, das letztlich dem Satz seine Würze verleiht. Nach dem nochmaligem, variierten Hauptgedanken folgt dem Seitenthema (diesmal in E-Dur) ein temperamentvoller Kehraus in atemberaubendem Tempo.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Markus Hennerfeind

Jean Sibelius

Symphonie Nr. 5 Es-Dur op. 82

Sätze

  • Tempo molto moderato - Allegro moderato

  • Andante mosso, quasi allegretto

  • Finale. Allegro molto

Dauer

37 Min.

Entstehung

1915/16/19

Jean Sibelius hörte im Alter von 60 Jahren auf, zu komponieren. Er befand sich auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Lebens, weltweit als Komponist   anerkannt, seine Werke von den bedeutendsten Dirigenten und Orchestern aufgeführt. In den verbleibenden 30 Jahren   seines Daseins bis zu seinem Tod vor einem halben Jahrhundert lebte Sibelius meist zurückgezogen auf dem nach seiner Frau benannten Anwesen Ainola in Järvenpää. Er besuchte Aufführungen seiner Werke in Finnland und hörte seine Musik im Radio an. Eine Ende der Zwanzigerjahre von dem Dirigenten Serge Koussevitzky in Auftrag gegebene Symphonie (es wäre in der Zählung der Symphonien die achte gewesen) wurde von Sibelius nicht mehr veröffentlicht. Er fühlte sich offenbar an einem Endpunkt seiner kompositorischen Entwicklung angekommen. Sibelius, der nie einer kompositorischen «Schule» angehörte, beschloss in einer Zeit, in der Strawinski, Schönberg und Hindemith die musikalische Welt veränderten, fortan zu schweigen.Der 1865 in Hämeenlinna geborene Sibelius wuchs zunächst schwedisch-sprachig auf. Dann besuchte er aber die erste finnische Grammatikschule, was für seinen weiteren Werdegang von größter Bedeutung sein sollte. Die Beherrschung der finnischen Sprache eröffnete Sibelius die Welt der finnischen Mythologie, die in einer von Elias Lönnot 1835 herausgegebenen Sammlung von so genannten Runo-Gesängen in 23.000 Versen unter dem Titel «Kalevala» festgeschrieben worden war. «Ich finde das ‹Kalevala› durch und durch modern. Meiner Meinung nach ist es reine Musik, ein Thema mit Variationen», schrieb Sibelius 1890 in einem Brief aus Wien, wo er zu einem einjährigen Studienaufenthalt weilte, an seine Verlobte und spätere Frau Aino Järnefeldt. Die intensive Beschäftigung mit der Dichtung des «Kalevala» während seines Aufenthaltes in Österreich, wo ihn die Bäume des Wienerwaldes an die finnische Heimat erinnerten, führte zur Komposition der «Kullervo»-Symphonie über einen der «Kalevala»-Helden. Nach der Uraufführung von «Kullervo» in Helsinki wurde Sibelius spontan als bedeutendster Komponist seines Landes gefeiert, der dem unter russischer Herrschaft lebenden finnischen Volk eine eigene musikalische Sprache und Identität gab.Dabei hat Sibelius in keines seiner Werke volksmusikalische Themen eingeführt, vielmehr hat er den Runengesang karelischer Volkssänger studiert und einige Charakteristika davon auf die Melodien und die Metrik der Musik übertragen. Neben einer Fülle von Tondichtungen hauptsächlich über mythologische Stoffe und einem Violinkonzert schrieb Sibelius sieben Symphonien. «Meine Symphonien sind erdacht und ausgearbeitet als Ausdruck der Musik, ohne irgendwelche literarische Grundlage. (...) Sie sind bei ihrer Entstehung und Befruchtung immer rein musikalisch gewesen.»Einen Ratschlag, den er während seines Studienaufenthaltes in Wien erhielt, beherzigte Sibelius mit allergrößter Entschlossenheit. Von dem Finnen mit ersten Orchesterstücken konfrontiert, legte ihm der Kompositionslehrer Karl Goldmark nahe, die musikalischen Ideen immer wieder zu überarbeiten, damit sie stärkeren inneren Charakter erhielten. Wie kaum ein anderer Komponist, beschäftigte sich Sibelius mit der Durchdringung von thematischem Material, mit dessen Transformation, Reduktion, Expansion und Konzentration. Er zerlegte Themen in ihre Bestandteile und trennte ihre harmonischen und rhythmischen Charaktere. Er entwickelte die Musik aus kleinsten Zellen und Kernen, baute ganze Sätze auf einem Intervall auf und machte einen einzigen Ton zum Gestaltungsmittel. Er schuf eine perspektivische Wirkung durch Absetzung von thematischen und harmonischen Blöcken. Er gewann aus dem Inneren des Klangkerns Folgetöne für die Themenbildung und verstärkte die Obertonschwingungen durch die Instrumentation.Viele dieser Faktoren machten und machen Sibelius’ Musik für moderne Komponisten so interessant und inspirierend, von Morton Feldman und John Adams bis zu den französischen Spektralisten und dem Sibelius-Landsmann Magnus Lindberg. In seinem Orchesterwerk «Parada» griff Lindberg zum Beispiel ein interessantes Phänomen aus dem ersten Satz von Sibelius’ Fünfter Symphonie auf, in dem ein langsamerer Teil und ein schneller Scherzoteil unmerklich ineinandergeschoben sind.So unaufhaltsam vorwärtsdrängend, so kraftvoll und wie aus einem Guss die Symphonie Nr. 5 Es-Dur op. 82 auch wirkt, hat Sibelius dennoch an keinem anderen Werk länger gearbeitet als an ihr. Beschäftigt hat sie ihn seit dem Jahr 1912, eine erste Niederschrift nahm er 1914 unmittelbar nach seiner erfolgreichen Reise durch die USA vor, wo die besten Orchester seine Werke aufführten, und er den luxuriösen Lebensstil in der Neuen Welt genoss. Die neue Symphonie in zunächst vier Sätzen erlebte an Sibelius’ 50. Geburtstag am 8. Dezember 1915 in Helsinki eine erfolgreiche Uraufführung. Doch Sibelius quälten in einer Zeit, in der sich die Symphonie als Gattung überlebt zu haben schien, Zweifel, er zog die Fünfte zurück und überarbeitete sie, doch diese zweite Version veröffentlichte er dann gar nicht und arbeitete sie bis ins Jahr 1919 neuerlich um. In dieser endgültigen Version hat sie nur mehr drei Sätze  (beziehungsweise sind eben im ersten Satz zwei Sätze verschmolzen). Die Symphonie beschäftigte Sibelius also vor, während und noch nach dem Ersten Weltkrieg. Auf ihre Aussage hatten die weltpolitischen Ereignisse keinen Einfluss.Thematischer Kern der Symphonie in der «Eroica»-Tonart Es-Dur ist ein kurzer Hornruf vom Beginn des Werkes: zwei aufsteigende Quarten innerhalb der Oktave, womit auch die Quint enthalten ist, wenn man vom ersten zum dritten und vom zweiten zum vierten Ton springt. Das Thema des zweiten Satzes ist dann von der Quart geprägt, das Hauptthema des dritten Satzes wird von der Quint eröffnet.Der erste Satz: Der Hornruf vom Beginn wird zunächst von einer Figur der Flöten und Oboen beantwortet, die sich wenig später in eine Melodie verwandelt. Alle weiteren Themen sind auf diese erste Themengruppe bezogen: das eng geführte zweite Thema, das von den Oboen und Klarinetten eingeführt wird; das wieder von den Holzbläsern vorgestellte dritte Thema, das die Intervallsprünge des Kernthemas übernimmt; schließlich das aufwärtsstrebende vierte Thema, in dem die Holzbläser und die Streicher um eine Steigerung wetteifern, die zum ersten Einsatz des ganzen Orchesters führt. Die Trompete schmettert als Signal die Quart vom Beginn der Symphonie. Danach läuft die ganze Einleitung der Symphonie mit leichten Veränderungen noch einmal ab.Im folgenden Durchführungsteil gewinnt Sibelius aus Vorangegangenem ein fünftes Themenfeld: einen vierstimmigen Streichersatz. Das Fagott kommt mit absinkenden Tonfolgen dazu. Sibelius verwandelt hier das Thematische in fragmentarische Ableitungen. Er schafft eine starke räumliche Wirkung, wenn aus diesen vagen Passagen zwischendurch Thementeile wieder hervortreten.Dann scheint aber wieder Klarheit vorzuherrschen und ganz nach dem Muster der traditionellen Symphonieform die Reprise zu folgen, denn das Eröffnungsthema wird selbstbewusst von den Trompeten etabliert und vom ganzen Orchester überzeugt begleitet. Zwei Faktoren machen den Hörer allerdings stutzig: Das Hauptthema erscheint in einer im Werkzusammenhang fremd wirkenden Tonart (H-Dur) – und die ganze Passage erhält nach nur wenigen Takten Übergangscharakter.Tatsächlich folgt ohne Unterbrechung ein scherzohafter Teil in neuem Tempomaß und neuem Charakter. Ein eigenständiger Satz, könnte man meinen, der sich immerhin über mehr als 240 Takte erstreckt! Aber alle thematischen Erscheinungen werden aus dem bisherigen Verlauf der Symphonie entwickelt, was das Scherzo wiederum als integrativen Bestandteil eines ganzen Satzes erscheinen lässt. Es führt auch zielstrebig zu einer massiven Reprise des ersten und vierten Themas und zu einer triumphalen Koda. Der Übergang des Tempos und des musikalischen Charakters vollzieht sich allerdings unmerklich. Man befindet sich plötzlich in einem neuen Raum und einer neuen Zeit. Eine faszinierende Verwandlung.Der zweite Satz: Ganz unvermittelt fängt der in G-Dur gehaltene Mittelsatz an, und zwar mit einem schlichten Legato-Einstieg der Holzbläser, aus dem die Bratschen und Celli im Pizzikato ein Thema machen. Die sechs Variationen schwanken zwischen Lieblichkeit und heftiger Erregung. Das Andante ist auch mit den beiden anderen Sätzen verbunden. In der zweiten und der vierten Variation taucht in den Kontrabässen jeweils unauffällig bereits das Hauptthema des Finales auf. Und in der fünften Variation hört man in den Hörnern zweimal einen verdunkelten Nachklang auf den Beginn der Symphonie. So bescheiden, wie er kam, geht der Satz wieder: mit einer einfachen Holzbläserwendung des Themas.Das Finale knüpft mit der einleitenden raschen Tremolo-Streicherbewegung in der Stimmung an das Scherzo des ersten Satzes an. Eine Art Thema schält sich in den Bratschen heraus. Ein erster Hörnereinsatz ist noch einmal eine ferne Erinnerung an den Kopfsatz, der zweite Hörnereinsatz gilt aber dem eigentlichen Hauptthema des Finales, das zunächst, wie schon im zweiten Satz und wie aus einem anderen Raum kommend, von den Bässen angekündigt wird: ein erhabenes symphonisches Thema mit großen Intervallsprüngen, das die Hörner neun Mal aufeinander folgen lassen, erweitert von einem gewölbten Holzbläserchor, begleitet von Echowirkungen der Streicher.Mit dem unvermuteten Abbruch des Hornthemas verschwindet auch wieder eine konkret fassbare Thematik. Die neue dritte Themengruppe wirkt flatterhaft und besteht aus einzelnen Figurenfeldern in Holzbläsern und Streichern, die Verwandtschaft zur ersten Themengruppe zeigen. Diese setzt dann «misterioso», gedämpft und flüsternd in den Streichern ein.Umso optimistischer wirkt der feierliche Wiedereintritt des Hauptthemas in den Posaunen, die das ganze Orchester mitziehen und zurück in die Grundtonart Es-Dur führen. Über einem Orgelpunkt baut Sibelius ein Geflecht aus Echos, Engführungen und Akkordüberblendungen des Hauptthemas auf, das einem prächtigen Höhepunkt zusteuert. Den endlos scheinenden Strom der Musik beenden abrupt sechs Akkordschläge, die zur Grundtonart Es-Dur kadenzieren und harmonisch das komplette Hauptthema enthalten.

© Rainer Lepuschitz ׀ Tonkünstler-Orchester