Dmitri Schostakowitsch

Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 77

Sätze

  • Nocturno. Moderato

  • Scherzo. Allegro - Poco più mosso

  • Passacaglia. Andante - Cadenza

  • Burlesque. Allegro con brio

Dauer

34 Min.

Entstehung

1947/48

Dmitri Schostakowitsch nimmt in der Musikge­schich­te des 20.Jahrhunderts eine Solitärstellung ein, nicht zuletzt durch seine von ­politischen und kulturpolitischen Repressalien gezeichnete Lebensgeschichte. Sein unsagbar großes Œuvre, stets von allerhöchster ­Qualität und reich an Inspiration, dokumentiert ein­drucks­voll we­sentliche musikgeschichtliche Aspekte der Vor- und Nachkriegszeit. Mit seinen Symphonien und seinen Streich­quartetten schuf er ­Meisterwerke, die klar widerlegen, dass die «al­ten» Formen überholt waren; gleichzeitig sprengte er in ebendiesen Werken praktisch jede bis dahin gültige Norm. Mit seiner Person, seinem Weg als Mensch und Künstler, ist gleichzeitig auch die Geschichte mehrerer kultur­politischer Strömungen der UdSSR verknüpft, die ein Licht auf ­widersprüchliche, irritierende und oft geradezu schockierende ­Sachverhalte werfen und Zeugnis eines er­schreckenden Bei­spiels­ ideologisch erstarrter Willkür abgeben.

Die noch junge Sowjetunion war auf der Suche nach einem künstlerischen Profil – etwas, das eben nicht auf dem Reißbrett konstruiert werden kann. Die Forderung, dass die Kunst volksnah, verständlich und unkompliziert zu sein hatte, führte dazu, dass man zwischen den Gewollten und den Ungewollten scharf trennte und Komponis­ten wie Schostakowitsch öffentlich diffamiert wurden: «Chaos statt Musik» war der Titel eines Artikels in der «Prawda», zu deutsch «Wahrheit», der am 28. Jänner 1936 erschien und mit einigen Komponisten hart ins Gericht ging. Schostakowitsch musste sich neben anderen Kollegen vor den politisch Verantwortlichen rechtfertigen und war damit dem Urteil derer ausgesetzt, die kaum kompetent genug waren, um über den Wert seiner Arbeit befinden zu können. Mit einem öffentlich vorgetragenen Lippenbekenntnis des Komponisten wurde wieder Ruhe hergestellt.

Schon wenige Jahre später war er als Symbolfigur der sowjetischen Widerstandskraft mehr als gern gesehen, als er 1942 in der Uniform eines Feuerwehr­manns für die Propagandafotografen posierte und mit dem Wasserschlauch in der Hand seine brennende Heimatstadt Leningrad rettete, die von deutschen Truppen belagert wurde. Das Sujet des behelmten Dmitri Schostakowitsch schaffte es im Juli 1942 sogar auf die Titelseite des US-amerikanischen «Time» Magazins. Doch die nächste große Welle kulturpolitischer Repres­salien ließ nicht lange auf sich warten. Nach dem Ende des «großen vaterländischen Kriegs» konzentrierte man sich in der UdSSR ­wieder auf die inneren Werte und versuchte im Zuge dieser ­Bestre­bungen, die unliebsamen Irrwege mancher Künstler auf die rechte Bahn zu bringen. 1948 musste Dmitri Schostakowitsch wiederum vor die selbst ernannten Richter treten, um im Anschluss an die Abkanzelung seiner Musik als «volksfremd und formalistisch» erneut ein öffentliches Schuldbekenntnis nebst einem Gelöbnis zur Besserung abzulegen – dass es sich hier um echte Reue handelte, darf bezweifelt werden.

In ebendiese Zeit fällt die Arbeit an seinem ersten Violin­kon­zert, die er im Juli 1947 aufnahm und am 24. März 1948 vollendete. Und auch an der Auffüh­rungs­geschichte des Werkes lassen sich die politischen Drangsalie­run­gen nachzeichnen, unter denen Schosta­kowitsch zu leiden hatte. Der staatliche Musikverlag Moskau, der die Partitur des ersten Violin­kon­zerts 1957 herausgab, verpasste dem Werk die Opuszahl 99, um den Eindruck zu erwecken, dass es sich um eine soeben fertig gestellte Komposition handle. Dass das Konzert bereits neun Jahre zuvor fertig gestellt worden war und die korrekte Opuszahl 77 darüber auch keinen Zweifel lässt, wurde schlicht ignoriert. In einem einleitenden Text, welcher der Partitur vorangestellt ist, heißt es über den Komponisten: «Der Komponist schrieb seine Fehler überwindend [sic!] viele hervorragende inhaltsreiche und ausdrucksvolle Werke.» Anhand dieses Zitates lässt sich mehr als erahnen, womit Schostakowitsch zu kämpfen hatte – ein Kampf, der ihn in unterschiedlicher Härte sein ganzes Leben begleitete.

Sein erstes Violinkonzert widmete er dem Jahrhundert­geiger David Oistrach, der es am 29. Oktober 1955 zum ersten Mal in der Heimat­stadt des Komponisten aufführte. Dabei wurde er von der Leningrader Philharmonie unter Jewgeni Mrawinski begleitet. Zwei Monate danach spielte Oistrach das Konzert erneut, diesmal bei der «westlichen Uraufführung» in der New Yorker Carnegie Hall, wo Dmitri Mitropoulos das New York Philharmonic dirigierte.

Der erste Satz (Nocturne. Moderato) wird von einem Fluss dunkler und subtiler Orchesterfarben getragen und leitet das Werk mit düs­teren Schattierungen ein. Die Solovioline hebt sich mit einem weit ausholenden Thema darüber und vermittelt unmittelbar das Gefühl von Einsamkeit und Beklemmung. Als Kontur sticht mitten im Satz eine dramatische Entwicklung hervor, die sich als Auf­be­geh­ren deuten lässt, jedoch sehr bald wieder der elegisch-traurigen Grund­stimmung weicht. Die Vio­line stellt in dieser Einleitung musikalisches Material vor, das wie aus einer anderen Welt klingt. Und tatsächlich bedient sich Schostakowitsch auch «fremder» musikalischer Elemente, die ihm während der Entstehungszeit durch seinen Schüler Benjamin Fleischmann nahe gebracht worden waren: Die jüdische Volksmusik wurde in diesem ­Le­bens­abschnitt zu einer wertvollen In­spi­­ra­tionsquelle, aus der der Komponist un­zäh­lige Ideen für Themen, rhythmische Strukt­uren und Skalenbildungen schöpfte. Unter dem Einfluss der «antizionistischen» Kampagnen der Staats­­len­kung war an eine Uraufführung in diesen Jahren somit nicht zu denken – hierin liegt auch ein Grund für die sieben­jährige Zeitspanne zwischen Fertig­­stel­lung und Uraufführung.

Im zweiten Satz (Scherzo. Allegro) kommen die neuen musikalischen Ein­flüsse aus der jüdischen Musik besonders stark zum Tragen: scharfkantige Themensplitter durchbohren keck den morbid-tänzerischen Orchesterpart. Insbe­sondere die Blä­ser spielen diese Ideenfetzen oft wieder an das Solo­in­stru­ment zurück; fast gewinnt man den Eindruck, dass die Violine musikalischen Geschossen ausweichen muss. Die wendige Ra­se­rei des Scherzos gewinnt durch aufwändige Doppel­griffe und gehetzte Glissando-Figuren noch mehr an Lebendig­keit. Die Violine wird zeitweise auch vom Gejagten zum Jäger und spielt so manchen musikalischen Streich, dreht dem Or­ches­ter sogar hörbar eine lange Nase – und doch kann der temperamentvolle Satz nicht den Eindruck abschütteln, ein Leiden zu verbergen, das sich nur flüchtig die Maske der Heiterkeit vorhält.

Dem tragisch witzigen Scherzo folgt im dritten Satz eine Passa­caglia (Andante – Cadenza), die die klassische Satztechnik dieser Form heranzieht um auf eigene Art und Weise erweitert und durch­brochen zu werden. Das ständige Fortspinnen einer Idee über einem gleich bleibenden Bass, das wesentliche Merk­mal der Passacaglia, gibt Schostakowitsch Gelegenheit, das weitschweifige Thema des ersten Satzes zu zitieren und das Material zu entwickeln. Die Violine bringt hier Teile des Originalthemas zur Vollblüte und lässt einzelne musikalische Gedanken zu Phantasiegewächsen heranwachsen, die sich schließlich zu einem großen Gemälde einer gequälten Seele zusammenfinden. Diesem Gesamtbild entsteigt dann organisch die Kadenz, in der die Violine noch einmal das gesamte Spektrum des bisher erklungenen Materials auslotet: Dunkelheit und Licht, Aufbe­geh­ren und Unterdrückung, Spott und Häme – sämtliche Gefil­de der bisher erlebten Seelenwanderung werden noch einmal in virtuoser Abgeschiedenheit vorgeführt, bevor die Violine eine Eruption einleitet, die den Beginn des Finales markiert.

Der vierte Satz (Burlesque. Allegro con brio) erinnert sofort an das Scherzo, ist jedoch spürbar weniger verzweifelt. Der Sym­pho­­niker Schostakowitsch bricht hier durch und überträgt dem gesamten Instrumentarium auf der Bühne die Aufgabe, das Werk im großen Stil zu finalisieren. Was vorher manchmal wie ein Gegen­einan­der von Violine und Orchester geklungen hatte, ist hier ein eilig drängendes Miteinander. Der Solopart gibt dabei stets die Richtung vor und scheint einem sichtbaren Ziel zuzustreben. Mit rhythmischen Konturierungen, komplex geführten Orchester­stim­men und  straffer, fast martialischer Organisation spannt der Komponist dabei noch einmal den Bogen über die wichtigsten thematischen Elemente, bis die Violine das Tempo abermals drastisch steigert und das Konzert mit gepeitschten Repetitionen den Schluss­takten zutreibt.

© Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore

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