Claude Debussy

«La Mer» Drei symphonische Skizzen für Orchester

Sätze

  • De l'aube à midi sur la mer (Von der Morgenröte bis zum Mittag auf dem Meer)

  • Jeux de vagues (Spiel der Wellen)

  • Dialogue du vent et de la mer (Zwiegespräch von Wind und Meer)

Dauer

22 Min.

Entstehung

1903-05

Claude Debussy hatte zu Anfang des 20. Jahrhunderts aus finanzieller Notwendigkeit begonnen, sich als Musikkritiker zu verdingen und zu diesem Zweck einen scharfzüngigen, Zigarre rauchenden Gesprächspartner namens Monsieur Croche erfunden. Doch auch später noch, als längst etablierter Komponist, war Debussy für seine spitze Feder bekannt, seinen betonten französischen Nationalismus und für so manches gehässige Bonmot auf Kosten berühmter Kollegen und Vorgänger. «Kein Mensch ist verpflichtet, nur Meisterwerke zu schreiben, und wenn man die Pastoral-Symphonie als solches behandelte, würde diese Bezeichnung an Kraft einbüßen», ätzte er einmal in Richtung Ludwig van Beethovens. – Eine so rigorose Ablehnung also ausgerechnet jenes symphonischen Werks, in dem Beethoven das Leben auf dem Lande in Töne übersetzt, wo doch Debussy selbst die musikalische Schilderung der Natur, gerade etwa in «La Mer», keinesfalls verschmäht hat? Um den offensichtlichen Widerspruch aufzulösen, muss man bedenken, dass Debussy, obwohl anfangs auch er der in Frankreich grassierenden Begeisterung für Richard Wagner erlegen war, sich später mit Vehemenz von dieser gelöst und seine Vorbilder anderswo gefunden hat: weit abseits der sich selbst allzu wichtig nehmenden deutsch-österreichischen Musikgeschichte, beim urwüchsig-ungezügelten Russen Modest Mussorgsky, bei der javanischen Gamelan-Musik und ihrer Pentatonik, in der Klarheit der französischen Clavecinisten des Barock, in den Synkopen des aufkommenden Ragtime. Das jeweilige Verhältnis sowohl zu Beethoven als auch zu Wagner war zwar für die nachfolgenden Komponistengenerationen in Deutschland und Österreich die zentrale Frage, an der sich alle messen lassen mussten – für Frankreich hingegen leugnete Debussy deren Bedeutung, weil dies für ihn die Fixierung auf einen überholten ästhetischen Standpunkt darstellte: «Es schien mir bewiesen, dass die Symphonie seit Beethoven überflüssig geworden war. Bei Schumann und Mendelssohn ist sie ohnehin nur eine respektvolle Wiederholung der gleichen Formen, mit bereits geringerer schöpferischer Kraft. Die Neunte war allerdings ein genialer Fingerzeig, ein großartiges Verlangen nach Erweiterung der Formen», schrieb Claude Debussy in einem Aufsatz zur Symphonie, um sodann den Schluss zu ziehen: «Beethovens wirkliche Lehre bedeutete also nicht die Bewahrung der alten Form, noch weniger die Verpflichtung, in die Fußstapfen seiner ersten Versuche zu treten.»

Debussy wollte jedoch sowohl das Erbe Beethovens als auch jenes Wagners überwinden: Hatte er auch in seiner Oper «Pelléas et Mélisande» (1893–98) noch unweigerlich Wagner bis zu einem gewissen Grad seine Reverenz erweisen müssen, ließ er das frühere Vorbild nun ebenso hinter sich wie die Gebote der konservativen Instrumentalmusik – schließlich mochte er sich seine musikalische Erfindung genauso wenig von der in der Wiener Klassik entwickelten und von Brahms noch weiter getriebenen Durchführungstechnik mit ihrer motivisch-thematischen Arbeit einschränken lassen. Mit Bedacht nannte der Komponist sein «La Mer» im Untertitel «trois esquisses symphoniques», also «drei symphonische Skizzen»: Skizzen, weil in dieser Musik die formalen Kriterien ebenso wie die inhaltlichen Prinzipien althergebrachter Orchestersprache suspendiert sind; symphonisch, weil sich die Themen dieses großangelegten Werkes doch entwickeln, in den Ecksätzen am Ende gar zu hymnischer Apotheose sich bündeln. Aber ebenso wenig, wie man «La Mer» im technischen Sinn eine für Debussy überkommene traditionelle Durchführungstechnik ablauschen kann, erschöpft sich das Werk klanglich in konkret deskriptiver, sozusagen naturalistischer Tonmalerei: Höchst selten, am ehesten noch im scherzoartigen Mittelsatz, in dem man etwa sich kräuselnde Gischt vernehmen mag, ließen sich konkrete programm-musikalische Ausdeutungen dingfest machen. Das reale Meer platterdings abzubilden, war jedoch gar nicht Debussys Absicht, selbst wenn dieses ihn zeitlebens gefesselt hatte. Seinem Freund André Messager, der 1902 die Uraufführung des «Pelléas» dirigiert hatte, vertraute er im September des darauffolgenden Jahres brieflich an: «Sie wissen vielleicht nicht, dass ich für die schöne Laufbahn eines Seemanns bestimmt war und nur die Zufälle des Lebens mich davon abgebracht haben. Trotzdem habe ich [dem Meer] eine wahre Leidenschaft bewahrt.» Eine Leidenschaft freilich, die keine örtliche Nähe brauchte, um inspirierend zu wirken: Ausgerechnet auf dem Land begann er die Komposition, «in der dörflichen Abgeschiedenheit Burgunds im Sommer 1903, den er mit seiner Frau in Bichain (Département Yonne), dem Sommersitz seiner Schwiegereltern, verbrachte» (Peter Jost). Und im erwähnten Brief an Messager gibt Debussy nicht nur die erste Fassung der Satztitel preis, sondern betont auch gewissermaßen die Autonomie seiner inneren Vorstellungen und ihre Dominanz über jede bloße Deskription: «Ich arbeite an drei symphonischen Skizzen mit den Überschriften: 1. Mer belle aux îles sanguinaires [Ruhige See vor den Îles Sanguinaires]. 2. Jeu de vagues [Spiel der Wellen]. 3. Le vent fait danser la mer [Der Wind lässt das Meer tanzen] unter dem Gesamttitel La Mer. […] Nun werden Sie sagen, dass die Weinberge Burgunds nicht gerade vom Ozean umspült werden! Und dass das Ganze wohl den im Atelier gemalten Landschaften gleichen könnte! Aber ich habe unzählige Erinnerungen; das ist meiner Meinung nach besser als eine Realität, deren Charme im Allgemeinen die Gedanken zu sehr belastet.»

Stattdessen gelang ihm in diesem Werk mit den musikalischen Äquivalenten von Farbwert und Pinselstrich eine tönende Repräsentation des Meeres – in «geheimnisvoller Übereinstimmung von Natur und Imagination», wie der Komponist den Sachverhalt selbst formuliert hat. Diesen Unterschied zu begreifen und «La Mer» eben nicht daran zu messen, wie deutlich es seinen Titel als vermeintliche Programmmusik einlösen könne, war freilich viel verlangt vom Publikum der nicht sonderlich erfolgreichen Uraufführung, die am 15. Oktober 1905 in Paris mit dem Orchestre Lamoureux unter Camille Chevillard stattfand. (Abgesehen von einer ungünstigen Probensituation war noch dazu die öffentliche Meinung gegen Debussy eingestellt, weil er sich kurz zuvor zugunsten der Bankiersgattin und Sängerin Emma Bardac von seiner Frau getrennt hatte; während eines kurzen Urlaubes des neuen Paares Ende Juli 1905 in Eastbourne an der englischen Kanalküste, knapp nach Emmas Scheidung, war «La Mer» vollendet worden.)

Es bedurfte eines feinfühligen Kollegen wie Paul Dukas, ein zentrales Charakteristikum des Werkes zu benennen, das längst zu den beliebtesten Kompositionen Debussys und des 20. Jahrhunderts überhaupt zählt: Hier wird nicht etwa eine Geschichte erzählt, sondern eine sozusagen nüchtern-naturwissenschaftliche, «anonyme» Bestandsaufnahme der Elemente vollzogen, die «alles Anthropomorphe, alle Beziehung zu einem Sujet ausschließt». Anders als in unzähligen See- und Sturmmusiken vor und nach «La Mer» bleibt also der Mensch hier als bedrohtes oder die Gefahren doch meisterndes Subjekt konsequent ausgespart: Nicht die Auswirkungen des Meeres auf uns stehen im Zentrum, sondern dessen gleichsam objektive Charakteristik.

Der erste Satz von «La Mer», «Von der Morgendämmerung bis zum Mittag auf dem Meer», beginnt «sozusagen als die Geburt der Musik aus dem Geiste des Klangs, genauer: ihrer einzelnen, nacheinander eintretenden Elemente und Dimensionen (Einzelton, Klangfarbe, Taktart, Motiv, Tonalität, Thema, Entwicklung, Form), und das alles ohne ‚symphonische‘ Kompositionstechnik. Die Apotheose, die als ‚springender Punkt‘ in der Coda eintritt, ist eine der Musik selber» (Dietmar Holland). Nach den leicht und locker gefügten, giocosen Elementen des Mittelsatzes, «Spiel der Wellen», schlägt der letzte, «Zwiegespräch von Wind und Meer», dramatisch-ernste Töne an: Der Dialog zwischen chromatischen Wind-Themen und aus dem ersten Satz übernommenen, diatonischen Meeres-Themen gipfelt in einer grandiosen, geradezu mystisch wirkenden Vereinigung der beiden Sphären.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Walter Weidringer

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