Joseph Haydn

Symphonie e-Moll Hob. I:44 «Trauersymphonie»

Sätze

  • Allegro con brio

  • Menuetto. Allegretto - Trio

  • Adagio

  • Finale. Presto

Dauer

24 Min.

Entstehung

ca. 1771

Der deutsche Dichter und Dramatiker Friedrich Maximilian Klinger (1752 - 1831) ist heutzutage weithin vergessen, und seine Werke fristen unbeachtet ein tristes Dasein in den Archiven. Und doch hat er seine unauslöschliche Spur hinterlassen und einer ganzen, freilich kurzlebigen Epoche (etwa Mitte der 1760er bis Mitte der 1780er Jahre) ihren Namen gegeben, indem der Titel eines seiner Stücke zum Synonym einer neuen literarischen Strömung wurde: «Sturm und Drang» heißt Klingers Drama (1776), das der Bewegung aus der rückschauenden Distanz eines halben Jahrhunderts das griffige Schlagwort lieferte. Ursprünglich hatte Klinger es freilich «Der Wirrwarr» genannt - und so nimmt es nicht wunder, dass diese Epoche der deutschen Literatur zunächst als chaotisch-widerständige Haltung den Zielen der Aufklärung gegenüber eingeschätzt wurde. Doch hatten die Vertreter keineswegs die platte Zurückdrängung der Vernunft zugunsten eines reinen Irrationalismus auf ihre Fahnen geschrieben, sondern zielten auf die Versöhnung von, wie man heute sagen würde, Kopf und Bauch - von Vernunft und Gefühl. Auch zur Natur wollte man in ein neues, innig einfühlendes Verhältnis treten. Das angestrebte Gleichgewicht machte allerdings erst die Entfesselung eines enormen Gefühlsüberschwangs nötig, der das Defizit ausgleichen sollte. Denn die künstlerische Jugend probte nun ganz dezidiert den Aufstand gegen die althergebrachten Autoritäten und ihre auf Tradition fußenden Reglements. Als «junge Wilde» opponierten die Vertreter der neuen Dichtergeneration gegen den starren Unterricht in den Akademien und vertrauten lieber der Kraft des «Originalgenies»: Die individuellen Fähigkeiten des zu Höherem geborenen künstlerischen Menschen, der sein Erleben und Empfinden in eine ganz eigene Form brächte, wäre mehr wert als alle erlernbaren Regeln, die doch bloß als Einengung wirkten. Denn solche Krücken habe ihr vor Kraft strotzendes, gesundes Genie nicht nötig, waren die Jungen überzeugt. Die Welt und das Leben in ihr sollte nicht in ewig gleiche Formen gepresst werden, sondern die Kunst sollte die Welt flexibel und zutreffend widerspiegeln: Sozialkritik und gesellschaftliche Utopie zählten zu den zentralen Themen. Die aufmüpfigen Originalgenies und ihre literarischen Helden, die sie vornehmlich auf die Theaterbühne stellten, waren dadurch in Zwiespalt und Konflikt gefangen, forderten kühn Freiheit, haderten mit den unbeugsamen Regeln der bestehenden Weltordnung, die oft an familiären Konflikten gezeigt wurden, waren in den Augen der Gesellschaft vielfach geächtet und von Melancholie und Depression bedroht. Formale Fesseln wurden gesprengt, antike Ideale wie die Einheit von Zeit, Raum und Handlung über Bord geworfen: Kurzszenen, «Fetzenszenen» und Episodenreihungen verdrängten die traditionelle Dramaturgie; Ausrufe, Auslassungen, Kraftausdrücke und derbe Mundartbegriffe holten die Sprache von den Kothurnen. Shakespeare wurde das neue Vorbild.
Über Umwege hat der «Sturm und Drang» auch in der Musik seine Spuren hinterlassen: Zumal die betont experimentelle Phase, welche Joseph Haydn von der Mitte der 1760er Jahre bis 1772 durchlief, wurde und wird bis heute vielfach mit diesem Epitheton bedacht - auch wenn renommierte Haydn-Forscher nicht müde werden, dies als irreführend zu brandmarken. Es gehe, so etwa Ludwig Finscher, viel mehr um die allgemeiner zu verstehende «Tendenz, durch Moll-Tonarten und die Übernahme von Elementen der Opernsprache wie Orchester-Tremolo, Synkopenketten, große Intervalle, schroffe Kontraste, Rezitativ-Formeln die Sprache der Symphonie anzureichern, zu vertiefen, ja überhaupt erst zum Reden zu bringen.»
Dieses neue, betont gestische Komponieren wurde zunächst vor allem in und um Wien sowie in Paris populär, womit sich Joseph Haydn erneut als Bindeglied zwischen diesen musikalischen Metropolen erweist. Vermutlich 1771/72 in Esterháza komponiert und 1772 bei Breitkopf annonciert, kann auch die Symphonie Nr. 44 e-moll mit dem apokryphen Beinamen «Trauersymphonie» (Haydn soll sich das Adagio als Begräbnismusik gewünscht haben) auf eine reiche Rezeptionsgeschichte in Paris zurückblicken.
Den Stirnsatz beherrscht ein energisches Unisono-Motiv in Halbenoten, das in großen Schritten vom Grundton über die Quint zur Oktav aufsteigt, um dann einen Halbton abzusinken: Zusammen mit Seufzermotiven, pochenden Achtelnoten und vielfach sequenzierten Sechzehntelfiguren ist damit das gesamte Material dieses von klagender Strenge geprägten Allegro con brio exponiert, denn Haydn verzichtet aus Gründen der Ausdrucksdichte hier wie so oft auf ein kontrastierendes zweites Thema. Formal ähnlich gebaut und inhaltlich in ganz ähnlicher Weise dramatisch geschürzt ist das Presto-Finale mit seinem Gestus hektischer Erregung - wobei zumal in den Ecksätzen durch kontrapunktische Kulminationen und durch die in leeren Quinten, also ohne Entscheidung zwischen Dur und Moll, verhallenden Schlüsse eine archaisch-harte Wirkung erzielt wird. Das Menuett folgt an zweiter Stelle, wie es Haydn in vielen Streichquartetten hält - und doch handelt es sich hier um eine Überraschung, da dies sonst nur als eine in frischerem Tempo erklingende Antwort auf ein eröffnendes Moderato geschieht. Hier jedoch fungiert das e-moll-Menuett als langsamerer Satz - ein Kontrast, der gleichzeitig dessen Struktur besser verstehen lässt: Es handelt sich im Wesentlichen um einen zweistimmigen Kanon zwischen Ober- und Unterstimmen, wobei der Abstand erst einen Takt, später zwei Takte beträgt. Das zunächst idyllisch in Terzen niedersinkende E-Dur-Trio verzeichnet dennoch die gleichen großen dynamischen Kontraste der ganzen Symphonie, deren Bandbreite, nicht selbstverständlich für diese Zeit, vom Pianissimo bis zum Fortissimo reicht. Lyrische Emphase und Empfindsamkeit prägen hingegen das Adagio, dessen sanfte Tröstungen aber von Mollwendungen nicht verschont bleiben.
© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Walter Weidringer

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