Archiv: Aus der neuen Welt

Wien Musikverein Großer Saal Musikverein | Großer Saal

Interpreten

  • Alban Gerhardt, Violoncello
  • Krzysztof Urbanski, Dirigent

Programm

Johann Sebastian Bach
Suite für Violioncello solo Nr. 6 D-Dur BWV 1012, Prélude
- Pause -

Orchestermusiker lieben dieses Werk. Und erst das Publikum! Wenn Antonín Dvoráks neunte Symphonie auf dem Programm steht und «Aus der Neuen Welt» berichtet, dürfen sich alle Beteiligten auf große Emotionen gefasst machen und auf ein Wiederhören mit einer der imposantesten und anrührendsten symphonischen Liebeserklärungen an die Heimat. Die Dimension New Yorks, die Spirituals und die Tänze der amerikanischen Ureinwohner haben den aus Böhmen stammenden Komponisten Dvorák ebenso inspiriert wie die Weite des Mittelwestens und literarische Vorlagen. Nach seinem erfolgreichen Debüt bei den Tonkünstlern in der Saison 14-15 steht der junge polnische Dirigent Krzysztof Urbanski erneut am Pult des Orchesters. Als Solist in Bohuslav Martinus erstem Cellokonzert konnte Alban Gerhardt gewonnen werden, Schüler von Boris Pergamenschtschikow und ob seiner herausragenden Musikalität, Emotionalität und Bühnenpräsenz vielfach mit Preisen geehrt.

Mein Besuch

0 Einträge Eintrag

Voraussichtliche Besuchszeit

Liste senden
Wojciech Kilar

«Orawa» für Streichorchester

Dauer

9 Min.

Viele Millionen Menschen kennen Musik von Wojciech Kilar - aus Filmen wie «Der Pianist» und «Der Tod und das Mädchen» von Roman Polanski, «Dracula» von Francis Ford Coppola, «Pan Tadeusz» von Andrzej Wajda und «Portrait of a Lady» von Jane Campion. Kilars Komposition «Polonez» aus «Pan Tadeusz» wurde zu einem Hit in Polen. Für seine Musik zu «Der Pianist» erhielt Kilar einen «César».

Wojciech Kilar wurde in der heutigen ukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg) geboren, als sie noch zu Polen gehörte. Nach erstem privatem Musikunterricht in seiner Heimatstadt studierte Kilar Klavier und Komposition in Krakau und Kattowitz und nahm an den Darmstädter Ferienkursen teil. Über der Filmmusik geriet sein sonstiges kompositorisches Schaffen etwas ins Hintertreffen. Seine Chorwerke, symphonischen und kammermusikalischen Stücke und Opern wurden außerdem nicht selten etwas abwertend als schöpferische Randerscheinungen eines «Filmmusikkomponisten» beurteilt, wie dies etwa auch im Fall von Philip Glass geschieht.

Ebenso fand Wojciech Kilar - nach einer von Igor Strawinski und Béla Bartók beeinflussten ersten Phase des Komponierens und einer folgenden heftigen Zwölftonperiode - zu einer Art Minimal Music, die bei ihm aber nicht etwa aus der Phasenverschiebung von musikalischen Motiven und harmonischmotivischen Repetitionen entwickelt ist, sondern zuvorderst in der Volksmusik der karpatischen Regionen ihre Quellen hat. Der streng gläubige Christ Kilar wurde aber mitunter auch wegen seiner Überzeugung von Musik als göttlich inspirierter Schöpfung beargwöhnt. Freilich ließ er sich deshalb weder von seinem musikalischen noch seinem spirituellen Weg abbringen.

Im Tempel der Natur. Der Fluss, das Land, die Berge: «Orawa» wird zum Klang für eine ganze Region der Karpaten an der polnisch-slowakischen Grenze. «Orawa» ist eine «Pastorale» des späten 20. Jahrhunderts. Aus der Musik für Streichorchester klingt beinahe insistierend die Sehnsucht nach der Natur und ihren Kräften. Daraus schöpft Kilar seine Komposition. Die Musik scheint wie ein Echo aus den Bergen zu kommen, von den Gipfeln, aus den Tälern, von Schafweiden und vom Bergvolk.

«Orawa» beginnt als Meditationsmusik im Tempel der Natur. Langsam verdichten sich die Harmonien, während die melodische Figur lange Zeit bei sich selbst bleibt. Dann gerät aber auch die Thematik in Bewegung und faltet sich wie eine Blüte auf. Mit dem ersten Fortissimo-Einsatz geht die ätherische Naturmusik plötzlich in ursprüngliche Volksmusik über: eine Schnittstelle, an der die Ursprünge von Kilars musikalischem Stil mit einem Mal erkennbar werden.

Volkstänze der Karpaten-Region werden hör- und spürbar. Dann sinken die Dynamik und Bewegung wieder auf ein sanft pulsierendes Piano, das den harmonischen Grund einer wehmütigen Volksweise bildet, die vom Solo-Violoncello mit all der gesanglichen Intensität, die diesem Instrument innewohnt, intoniert wird. Die Violinen nehmen den Gesang auf und breiten ihn in großem Bogen aus. In der Begleitung der tieferen Streicher beginnt es aber etwas bedrohlich zu brodeln. Für Momente scheint der Herzschlag der Erde hörbar zu werden. Doch nun vereinen sich alle Instrumentengruppen zu einem bodenständigen Volkslied, dessen Metrum auf den Tanzboden übertragen wird. Fröhliches Beisammensein der Landsleute.

© NÖ Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Rainer Lepuschitz

Bohuslav Martinu

Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1

Sätze

  • Allegro poco moderato

  • Andante moderato

  • Allegro

Dauer

27 Min.

Entstehung

1930

Bohuslav Martinu, Sohn eines Schusters und Kirchturmwächters, verbrachte seine Kindheit meist in den luftigen Höhen der Turmwohnung nahe den Kirchenglocken. Zu ebener Erde bei einem musizierenden Schneider erhielt Bohuslav ersten Geigenunterricht. Von der Dorfgemeinschaft wurde dem begabten Jungmusiker eine Ausbildung am Prager Konservatorium finanziert. Nach einigen Jahren als Geiger in der Tschechischen Philharmonie übersiedelte Martinu Dank eines Stipendiums nach Paris, nahm Kompositionsunterricht bei Albert Roussel und sog die künstlerischen Strömungen des Impressionismus, Neoklassizismus und der «Groupe de Six» auf. Unter diesem Einfluss und auf der Grundlage seiner intensiven Beschäftigung mit der Polyphonie der Renaissance und konzertanten barocken Formen entwickelte er seinen eigenen Stil. Vor dem in Europa tobenden Weltkrieg flüchtete Martinu in die USA, wo er Aufträge von bedeutenden Dirigenten erhielt und seine Werke von führenden Orchestern gespielt wurden. Nach dem Krieg kehrte Martinu wieder nach Europa zurück, allerdings sah er dann sein mittlerweile kommunistisch ausgerichtetes Heimatland nie mehr, sondern starb im Schweizer Exil.

Kompositionstechnisch arbeitete er mit sogenannten Zellen. Darin kommen konzentrierte rhythmisch-melodische Grundgestalten variabel in einem freien polyphonen, harmonisch farbenreichen Geflecht zur Entfaltung. Die ursprüngliche Volksmusik der Heimat blieb stets eine Inspirationsquelle für Martinu. Die Streichinstrumente kamen seiner kraftvollen melodischen Tonsprache überaus entgegen. Der Komponist schrieb je fünf konzertante Werke für Violine und Violoncello mit Orchester und viel Kammermusik für Streicher.

Von Cassadó zu Fournier. Sein erstes Konzert für Violoncello und Orchester begann Martinu in seiner Heimatstadt Policka während des Sommers 1930 zu komponieren und vollendete es im Herbst desselben Jahres in Paris. Die Uraufführung spielte der spanische Cellist Gaspar Cassadó 1931 in Berlin. Dies ist allerdings nicht das Werk, das im heutigen Konzert zu hören ist, sondern es bildete die Grundlage zu einer Umarbeitung, zu der sich Martinu nach einer Wiederaufführung des Konzertes 1938 in Paris mit Pierre Fournier als Solisten entschloss. So wurde aus einem Kammerkonzert, das Martinu in dem damals beliebten neobarocken Stil als eine Art Concerto grosso angelegt hat, ein symphonisches Solistenkonzert. Diese Neufassung erlebte wieder mit Pierre Fournier als Solisten sowie mit dem Dirigenten Charles Munch 1939 in Paris ihre Premiere.

Die endgültige Form. Als der Komponist viele Jahre später (1955) diese Neufassung in einer Radioübertragung hörte, war er mit der Instrumentierung nicht mehr zufrieden und arbeitete die Partitur nochmals um. Wieder war es der nunmehrige Widmungsträger Fournier, der auch diese dritte, für den Komponisten endgültige Fassung - 1955 in Lausanne - aus der Taufe hob. Die Trompete stellt im ersten Satz, Allegro moderato, das Hauptmotiv vor, das sofort von Holzbläsern und Streichern weitergeführt und vom Soloinstrument als «Starter» verwendet wird. Eine Synkope gibt dem Motiv einen leicht jazzigen Einschlag. Das vom Solocello angestimmte, lyrische Seitenthema mit auf- und absteigender Melodik wird dann im zweiten Satzteil vom ganzen Orchester hymnisch herausgestellt. Durch den volksmusikalischen Einschlag drückt der Komponist wohl Heimweh aus. Vor und nach diesem emotionalen Höhepunkt rast das Soloinstrument Skalen rauf und runter und spielt sich mit Doppelgriff-Abfolgen und repetitiven Tonsequenzen frei.

Die Klarinette stimmt den zweiten Satz, Andante moderato, an, weitere Holzbläser und vor allem wieder die Trompete übernehmen die gesangliche Weise und übergeben sie an das Soloinstrument, das ein weitgeschwungenes Lied «singt» - erst sanft, dann leidenschaftlicher. Plötzlich setzt das Orchester mit einer massiven Abwärtsbewegung ein und bringt damit einen tragischen Klang in den Satz. Im Zentrum des gesamten Konzertes ist daraufhin die Kadenz für das Violoncello angesetzt. Eine feierliche Melodie in der Oboe mündet in einen dramatischen orchestralen Höhepunkt, aus dem noch stärker als zuvor Trauer und Verzweiflung sprechen. Doch das Violoncello lässt den Satz mit Kantilenen innig ausklingen.

Im Finale kehrt Martinu in einem Andantino-Mittelteil nochmals in die lyrische Welt des zweiten Satzes zurück. Da findet das Soloinstrument zu sich selbst. Davor im Allegro aber kämpfen sich Violoncello und Orchester mit Läufen und Figuren sowie zwischen geraden und ungeraden Taktarten wechselnd durch ein Jagdrevier der Virtuosität, das der Solist und seine Begleiter dann auch mit dem Allegro-Kehraus des Konzertes wirbelnd anpeilen.

© NÖ Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Rainer Lepuschitz

Antonín Dvorák

Symphonie Nr. 9 e-Moll op. 95 «Aus der Neuen Welt»

Sätze

  • Adagio - Allegro molto

  • Largo

  • Scherzo. Molto vivace

  • Allegro con fuoco

Dauer

40 Min.

Entstehung

1893

Antonín Dvorák hatte das Angebot rundweg abgelehnt, als ihm im Juni 1891 die Leitung des Nationalen Konservatoriums inNew York angetragen worden war: Mit den erst jüngst übernommenen Aufgaben eines Professors am Prager Konservatorium, wo er Formenlehre, Komposition und Instrumentation unterrichtete, fühlte sich der fünfzigjährige Komponist, Dirigent, Ehemann und Vater von sechs Kindern zwischen dreizehn und drei Jahren voll ausgelastet - und verspürte nicht zuletzt auch eine patriotische Verpflichtung dem tschechischen Volk gegenüber. Doch Jeannette Thurber ließ nicht locker: Die Tochter dänischer Einwanderer hatte Europa bereist, in Paris studiert und schließlich in den amerikanischen Geldadel eingeheiratet. Ihr acht Jahre älterer Ehemann Francis Thurber war in New York vom Botenjungen zum Direktor einer der bedeutendsten Handelsketten des Landes aufgestiegen. Mit seinem millionenschweren Rückhalt konnte sich Jeannette fortan ganz ihrem Hobby verschreiben: der Musik. Als Präsidentin des Conservatory of Music in New York war die Gründung einer eigenständigen amerikanischen Musikkultur ihr erklärtes Ziel. Zum 400. Jahrestag der Entdeckung Amerikas sollte ein europäischer Experte als Direktor ihres Instituts entscheidenden Anteil daran haben, «dem Kontinent, den Kolumbus entdeckte, eine Neue Welt der Musik hinzuzufügen». Die logische Wahl fiel auf Antonín Dvorák - schließlich, so Mrs. Thurbers Argumentation, hatte der berühmte Tscheche auch der Musik seiner Heimat ein unverwechselbares Gesicht im Rahmen westlicher Kunstmusik verleihen können. Und weil sie nicht nur über großen Charme, sondern auch über ein gerüttelt Maß an Beharrlichkeit und Überzeugungskraft verfügte, kam Dvoráks früheres Nein ins Wanken: «Ich soll für zwei Jahre nach Amerika fahren. Die Direktion des Konservatoriums übernehmen und zehn Konzerte leiten (eigene Kompositionen), für acht Monate und vier Monate (follow) werden mir dafür jährlich 15.000 Dollar, das heißt über 30.000 Gulden angeboten. Soll ich es annehmen?», schrieb er grübelnd an einen Freund. Freilich war die Sache finanziell höchst lukrativ: In Prag verdiente er bloß 1.200 Gulden jährlich. Doch hatte er sich erst nach langem Hin und Her bereit erklärt, die dortige Stelle anzunehmen, fühlte sich dem Konservatorium und den dort studierenden jungen Talenten (darunter sein späterer Schwiegersohn Josef Suk, Oskar Nedbal und Julius Fu?ík) verpflichtet und nahm seine Aufgaben mit größtem Idealismus wahr.

Heimweh nach Böhmen. Durfte er sich schon nach einem halben Jahr wieder aus dem Staub machen? Mehrfach begehrte Dvorák Änderungen an dem in kompliziertem Juristenenglisch abgefassten Vertrag - bis er ihn, nach einem persönlichen Treffen mit Jeannette Thurber in London, schließlich doch unterschrieb. Nicht zuletzt beeindruckte ihn, der sich finanziell mehr schlecht als recht durch sein Studium hatte schlagen müssen, dass die Ausbildung am National Conservatory of Music für bedürftige Talente kostenlos sein sollte. Ende September 1892 kam Dvorák mit seiner Frau Anna, der ältesten Tochter Otilie und dem ältesten, neunjährigen Sohn Antonín in New York an und blieb, abgesehen von einem Ferienaufenthalt in Böhmen, bis 1895. «Was mir ungemein gefällt, das ist, daß man in Amerika keinen Unterschied zwischen einem Herrn und einem gnädigen Herrn macht. Man gebraucht nicht den Titel gnädiger Herr. Der Millionär kommt zum Bedienten und sagt: Herr! - und der Bediente, obwohl er weiß, daß er mit einem Millionär spricht, sagt zu ihm ebenfalls Herr! Sie sind also beide Herren - bis auf die Millionen!» - Auch wenn Dvorák mit dem ganz alltäglich-selbstverständlichen Rassismus, der die schwarze Bevölkerung diskriminierte, durchaus seine Probleme hatte, war er doch fasziniert von der demokratischen Haltung zumindest unter den Nachkommen der europäischen Einwanderer, die die ihm bekannten Standesunterschiede der Alten Welt außer Kraft setzte. Der Aufenthalt in den USA sollte trotz (oder auch wegen) Heimwehs eine für sein Schaffen zentrale Periode werden, in der so großartige Werke entstanden, dass der New York Herald schließlich die Frage stellte: «Warum kam dieser Dvorák nicht schon früher in unser Land, wenn er hier in Amerika eine solche Musik schreiben kann?» Das F-Dur- Streichquartett, das Es-Dur-Streichquintett und das Cellokonzert sprechen für sich - sowie selbstverständlich auch seine neunte Symphonie, auf deren vollendete Partitur Dvorák spontan die Worte «Z nového sv?ta» (Aus der neuen Welt) geschrieben hatte.

Die Symphonie Nr. 9 e-Moll op. 95 spiegelt die vielfältigen Erfahrungen des Komponisten in den Vereinigten Staaten wider. «Es hat mir den Anschein, daß der amerikanische Boden auf mich segensreich wirken wird, und fast möchte ich sagen, daß schon in dieser neuen Symphonie etwas Derartiges zu hören ist», schrieb er im Jänner 1893 während der Arbeit. Und einige Monate später: «Sie macht mir große Freude und wird sich von meinen früheren grundlegend unterscheiden. Nun, wer eine 'Spürnase' hat, muß den Einfluß Amerikas erkennen.»

Über nichts freilich ist in Zusammenhang mit dieser Symphonie mehr spekuliert worden, als über den konkreten Einfluss Amerikas. Mit seinen Aussagen in einem Interview mit dem New York Herald im darauffolgenden Mai sollte sich Dvorák nicht nur Freunde machen: «Ich bin jetzt überzeugt, daß die zukünftige Musik dieses Landes auf dem basieren muß, was man 'Negerlieder' nennt. Das muß die wirkliche Grundlage einer jeden ernsthaften und originellen Kompositionsschule sein, welche in den Vereinigten Staaten zu entwickeln ist. Diese schönen und vielfältigen Themen sind das Produkt des Landes. Sie sind amerikanisch. In den Negerliedern finde ich alles, was für eine bedeutende und vornehme Schule der Musik nötig ist. Sie sind pathetisch, zart, leidenschaftlich, melancholisch, feierlich, religiös, verwegen, lustig, fröhlich...» Dvoráks Rat blieb, wie man sich denken kann, nicht unwidersprochen: Ein ganz an der Alten Welt orientierter Kollege wie Eduard MacDowell meinte, dass eine amerikanische Musik vielmehr nur eine solche sein könne, «die von der jugendlichen, optimistischen Vitalität und der unbezähmbaren Kühnheit des Geistes erfüllt ist, die den amerikanischen Menschen erfüllt» - womit klar wird, dass der «amerikanische Mensch» in MacDowells Augen ausschließlich Nachkomme der europäischen Einwanderer sein kann. Dvorák wurde Mangel an gutem Geschmack vorgeworfen, ja im unverhohlenen Rassismus jener Zeit hieß es sogar, dass «solche fremde Künstlichkeit keinen Platz in unserer Kunst haben sollte, wenn es unseres freien Landes würdig sein soll». Die unvermutet losgetretene Debatte tat dem triumphalen Erfolg jedoch keinen Abbruch, den die neunte Symphonie im Dezember 1893 in der New Yorker Carnegie Hall unter der Leitung von Dvoráks Freund Anton Seidl errang; Publikum und ein Teil der Presse feierten das Werk gleich als Prototyp einer genuin amerikanischen Kunstmusik.

Hiawatha, Spiritual und «Neue Welt». Der Komponist selbst verheimlichte seine Inspirationsquellen dennoch nicht, etwa in einem neuerlichen Interview mit dem New York Herald unmittelbar vor der Uraufführung: «Der zweite Satz ist eine Art Adagio, das sich jedoch von der klassischen Form dieses Gebildes unterscheidet. Es ist in Wirklichkeit eine Studie oder eine Skizze zu einer längeren Komposition, entweder zu einer Kantate oder Oper, die ich nach Longfellows 'Hiawatha' schreiben möchte.» Hiawatha (wörtlich «der Sucher des Wampumgürtels») ist eine Figur aus der Überlieferung der Onondaga, ein Häuptling, der wahrscheinlich im 15. Jahrhundert, also vor Ankunft der europäischen Eindringlinge, die verfeindeten Stämme der Irokesen unter dem «Gayanashagowa», dem «Großen Gesetz des Friedens» geeint hat. Der Schriftsteller und Dichter Henry Wadsworth Longfellow, Nachfahre einer neuenglischen Puritanerfamilie, hatte «The Song of Hiawatha» 1855 nach dem Vorbild der finnischen «Kalevala» als eine Art von amerikanischem Nationalepos geschaffen. «Schon lange denke ich daran», verriet Dvorák damals, «dieses Gedicht zu vertonen. Zum erstenmal bin ich mit ihm in tschechischer Übersetzung vor dreißig Jahren bekannt geworden. Damals beeindruckte es sehr stark meine Phantasie, und mein Aufenthalt hier hat diese Empfindungen noch verstärkt. Das Scherzo meiner Sinfonie wurde von der Szene des indianischen Festes in 'Hiawatha' inspiriert, in der die Indianer singen und tanzen. Ich wollte damit den indianischen nationalen Charakter mit musikalischen Mitteln zum Ausdruck bringen.»

Dennoch ist die Symphonie mindestens so «böhmisch», wie sie «amerikanisch» ist: Lassen sich in ihr auch Elemente ausmachen, die aus Spirituals oder indianischer Musik stammen könnten (Synkopen, plagale Wendungen, Pentatonik, Vermeidung des Leittons), ist die stilistische Nähe zu Volkstänzen böhmischer Provenienz gleichfalls unüberhörbar. Exponiert das einleitende, kontrastreiche Adagio des Kopfsatzes mit pentatonischen Floskeln, fehlendem Leitton und plagalen Harmoniefolgen bereits den exotischen Schauplatz, erinnern Teile des folgenden Allegro molto, besonders in den parallelen Terzen von Klarinetten und Fagotten, die auf die initiale Dreiklangszerlegung im Horn folgen, cum grano salis auch an zünftige Polka- Klänge. Das zweite Thema präsentiert sich leittonlos über Bordunquinten, während das dritte in der Soloflöte das Spiritual «Swing low, sweet chariot» anzudeuten scheint. Gänzlich europäisch sind allerdings die satztechnischen Finessen, die Dvorák hier und später auch im Finale anwendet: Abspaltungen, Überlagerungen und Neukombinationen der Themen zeigen den Komponisten als souveränen Meister motivisch-thematischer Arbeit. Das Dreiklangs-Hornthema erscheint gar als Leitmotiv in allen vier Sätzen: Im Largo, das durch seine entrückte Englischhornmelodie unglaubliche Popularität erreicht hat, erklingt es am blechglänzenden Höhepunkt des Satzes mit dieser (und dem dritten Thema des Kopfsatzes!) kombiniert; im zwischen Indianertanz und Walzerseligkeit angesiedelten Scherzo taucht es in der Coda auf. Und der Schlusssatz (Allegro con fuoco) verarbeitet überhaupt all das vorangegangene Material, um in der grandiosen, expressiv-dissonanzreichen Vereinigung des Leitmotivs mit dem energischen Marschthema des Finales in hymnischer Ballung zu kulminieren.

Amerikanisch oder böhmisch? - «Es scheint, ich habe ihnen ein wenig den Kopf verdreht. Bei uns zu Hause versteht jeder gleich, was ich gemeint habe», soll Dvorák am Tag nach der Uraufführung zu einem Landsmann gesagt haben. Ein Randgebiet des Prager Stadtteils Hradschin, in dessen Wirtshäusern viele Tanzkapellen aufspielten, hieß unter den Einheimischen nämlich «Nový sv?t» - «Neue Welt».

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Walter Weidringer