Archiv: Großbritannien-Tournee 2017: London

London Cadogan Hall Cadogan Hall

Interpreten

  • Emma Johnson, Klarinette
  • Yutaka Sado, Dirigent

Programm

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Franz Schubert

Symphonie Nr. 7 h-Moll D 759 «Unvollendete»

Sätze

  • Allegro moderato

  • Andante con moto

Dauer

23 Min.

Entstehung

1822

Franz Schubert befand sich wandernd auf der Suche. Oft fand er dabei kein Ziel, brach auf dem Weg Kompositionen ab, ließ sie unfertig, als Entwurf im Ganzen oder unvollständig im Satzzyklus liegen. Das Unvollendete zieht sich durch sein Schaffen. Der berühmt gewordene Beiname der h-moll-Symphonie lässt sich auf viele andere Werke und ihre Entstehungsprozesse übertragen. Auch einzelne Klaviersonaten blieben unvollendet, des Weiteren gibt es einige allein stehende Kammermusiksätze, ein unvollendetes Oratorium («Lazarus») und abgebrochene Opern. Wobei das Unvollendete nicht immer mit dem Unfertigen gleichzusetzen ist, teilweise sah Schubert keine Möglichkeit mehr, innerhalb eines Werkrahmens weiter zu komponieren, weil er an Grenzen der Aussage oder auch der Form gestoßen war. Manchmal könnte man beinahe vom vollendeten Unvollendeten sprechen oder auch von einer vollkommenen Ausführung des Fragmentarischen. «Himmlische Längen» hat Robert Schumann die Summe von Passagen in Werken Schuberts genannt, in denen dieser bei einem Thema, einem Gedanken, einer Stimmung verweilen wollte, um Platz zu schaffen für eine innige Vertiefung bestimmter kompositorischer Bestandteile. In solchen oftmaligen Phasen wird Schuberts Musik unberechenbar expansiv, zieht weite Kreise und mündet nicht selten in einer Ausweglosigkeit, an einem Punkt, an dem es kein Weiter mehr gibt.

Nach den sechs Symphonien der früheren Schaffenszeit, in denen Schubert noch dem klassischen Modell verhaftet war, wenngleich er auch darin schon oft einen unverwechselbaren eigenen Ton fand, machte er sich ab 1820 zu neuen symphonischen Gefilden auf, auf einen neuen symphonischen Weg, den er nach Haydn und Mozart und abweichend von Beethoven einschlagen wollte. Dabei hielt er aber immer wieder inne, getraute sich nicht, weiterzugehen. Skizzen, Entwürfe und Sätze zu drei Symphonien sind aus jener Zeit erhalten, einer in D-Dur, einer in E-Dur, manches davon nur im Klavierentwurf, manches auch schon orchestriert (Felix Mendelssohn Bartholdy und Johannes Brahms erwogen sogar eine Ergänzung des E-Dur-Fragments, haben sie aber dann nicht durchgeführt). Der dritte jener Entwürfe ist die Symphonie in h-moll, die später unter dem Namen «Unvollendete» berühmt wurde und seit ihrer Uraufführung 37 Jahre nach Schuberts Tod durch das Orchester der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien zum festen Bestand des symphonischen Repertoires zählt. Denn ihre zwei fertig gestellten Sätze erwiesen sich als eine großartige und in sich vollendete Komposition.

Zu dieser Symphonie existiert auch noch ein Entwurf zu einem dritten Satz, einem Scherzo, den Schubert aber nach wenigen Takten abgebrochen hat. 1825 setzte er dafür zu einer neuen symphonischen Konzeption an, deren Resultat die in klassischer Viersätzigkeit abgeschlossene, so genannte «Große C-Dur-Symphonie» ist. Warum aber hat Schubert die h-moll-Symphonie in den verbleibenden sechs Jahren seines Lebens liegen gelassen, nicht weiterkomponiert und nicht zum damals üblichen, vollständigen symphonischen Zyklus von vier Sätzen ausgeformt? Konnte er den beiden kühnen, monumentalen Sätzen nichts Entsprechendes mehr hinzufügen? Oder wollte er vielleicht auch nicht mehr fortsetzen, weil er irgendwann zu der Überzeugung fand, die beiden Sätze würden bereits ein (ab)geschlossenes symphonisches Ganzes bilden? Insofern erscheint es zumindest wie ein Eingeständnis, dass er die beiden fertigen Sätze 1823 an den Steiermärkischen Musikverein in Graz, der ihn zu ihrem Ehrenmitglied ernannt hatte, als «eine meiner Symphonien» schickte. Er hätte dieser Institution wohl kein Werk zukommen lassen, von dessen Qualität – und Aufführbarkeit – er nicht überzeugt gewesen wäre. Aber in Graz wusste man mit dem scheinbaren Torso wohl auch nicht allzu viel anzufangen. Und so dauerte es eben noch viele Jahre bis nach Schuberts Tod, bis die Symphonie, deren Partitur auf Umwegen von Graz an die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien gelangt war, schließlich aufgeführt wurde.

So populär diese Symphonie geworden ist und so vertraut ihre Themen klingen, so sehr überrascht dennoch bei jedem Mal Hören wieder ihre Kühnheit, ihre Unvermitteltheit und ihre Unkonventionalität. Es ist Existentialismus in Tönen, wie Schubert die Themen der beiden Sätze, die alle von zarter, lyrischer oder zumindest nur leiser Beschaffenheit sind, immer wieder schonungslosen, abrupt einsetzenden Akkorden, Klangflächen und Blöcken im Fortissimo aussetzt. Die Melodien prallen förmlich an diesen Massiven ab und werden in ihrer Weiterentwicklung gestoppt. So als sollte das melodienselige, liedhafte, poetische Naturell, von dem Schubert immer erfüllt war, von einer symphonischen Macht bezwungen werden.

Die Einleitungstakte mit einem leise auf- und absteigenden Motiv in den Celli und Kontrabässen kündigen das Bedrohliche schon an – tatsächlich taucht dieses Motiv dann in der Durchführung und in der Koda mit voller Wucht im ganzen Orchester auf: Die Gefahr, die dem Motiv innewohnt, bricht hier aus. Auf die düstere Einleitung folgt eine nicht minder unheimliche, schattenhafte Bewegung in den Streichern, die sich bald als Begleitung des ersten Themas herausstellt, das ganz unschuldig und wie eine innige Liedmelodie ohne Worte von Oboe und Klarinette angestimmt wird. Doch bald wird das Thema in den Sog einer Steigerung gezogen und geht in einem Fortissimo-Ausbruch unter. Stimmungswechsel: Die Streicher heben mit einer eingängigen Ländlermelodie zu einer volkstümlichen Zusammenkunft an. Dann bricht dieses Seitenthema plötzlich ab. Und alles scheint zu verlöschen: nicht nur die Melodie, auch ihr Rhythmus, der Pulsschlag, der Herzschlag der Musik. Die Zeit steht still. In diesen unerhörten Moment brechen gewaltige, unstrukturierte Sforzato-Akkordschläge des ganzen Orchesters hinein. Erst allmählich kann sich die Musik von diesem Schock erholen, aus Fragmenten des Seitenthemas stellen die hohen und tiefen Streicher im Wechselspiel wieder so etwas wie Bewegung her. Am Beginn der Durchführung nimmt die Grundthematik des Satzes verzweifelte Züge an, Angst wird spürbar, drückt sich in Aufschreien aus – und erfährt im unbarmherzigen Einsatz des ganzen Orchesters mit dem Hauptthema ihre Berechtigung. Auch im weiteren Verlauf des Satzes ändert sich nichts an der Situation: Die melodischen Themen können sich nie unbeschwert entfalten und nie bei sich bleiben, sondern sind immer bedroht von den dazwischenfahrenden Orchesterschlägen.

Allegro moderato steht über dem ersten Satz, Andante con moto über dem zweiten – die beiden Sätze sind also im Tempo nicht wirklich stark voneinander abgesetzt, vielmehr bedingen sie einander, sind die zwei Seiten einer Medaille. Auch die fragilen, schwebenden und den Themen des ersten Satzes innerlich verwandten Melodien des zweiten Satzes sind latent gefährdet. Unaufhaltsam marschieren immer wieder massive Akkordfolgen und Thementeile auf und setzen der Melodik zu. Am Ende gelingt aber doch das Wunder einer Wendung ins Tröstliche. Die Thematik wandelt sich in leise Hymnik und wird durch harmonische Wechsel entrückt.Noch ein Wort zur Zählung und Nummerierung von Schuberts letzten Symphonien. Johannes Brahms, der eine gesamte Druckausgabe betreute, reihte zunächst alle viersätzigen, also der Regel nach vollendeten Symphonien von Nummer 1 bis 7, die unvollendete h-moll-Symphonie stellte er als Nr. 8 an den Schluss, obwohl sie früher entstand, als die an 7. Stelle gereihte «Große C-Dur-Symphonie». Lange Zeit hatte diese Reihung Gültigkeit. Dann gab es eine Phase, in der die «Große C-Dur-Symphonie» als letzte Symphonie an die Nr. 9 gestellt wurde und die Nr. 7 für die so genannte «Gasteiner Symphonie» reserviert wurde, die Schubert angeblich auf einer Reise nach Salzburg komponiert hatte. Als sich diese Symphonie als eine Fälschung und eine Schimäre herausstellte und die «Große C-Dur-Symphonie» als jenes Werk erkannt wurde, an der Schubert auch während der besagten Reise arbeitete, wurde die heute gültige Reihung vorgenommen: Dem Zeitpunkt ihrer Entstehung nach ist die «Unvollendete» nun als Nr. 7 und die «Große C-Dur-Symphonie» als Nummer 8 gereiht.

© NÖ Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Rainer Lepuschitz 

Wolfgang Amadeus Mozart

Konzert für Klarinette und Orchester A-Dur KV 622

Sätze

  • Allegro

  • Adagio

  • Rondo. Allegro

Dauer

31 Min.

Entstehung

1791

Als Wolfgang Amadeus Mozart sein Konzert für Klarinette und Orchester in A-Dur KV 622 schrieb, stand er bereits im letzten Jahr seines Lebens. Wie die Nummer des Werkverzeichnisses nahelegt, handelt es sich hier um sein letztes Konzert, ja um eines seiner letzten Werke überhaupt: Es entstand 1791, nur zwei Monate vor seinem Tod und zählt längst zu den Standardwerken für jeden Klarinettisten und zu einer der populärsten Kompositionen des gesamten Konzertrepertoires.

Die Klarinette war zu Mozarts Zeit ein noch recht neues Mitglied der Holzbläserfamilie. Sie wurde erst um 1700 von dem Nürnberger Instrumentenbauer Johann Christoph Denner entwickelt. Da der Klang des Instruments in hoher Lage dem einer Clarin-Trompete ähnelte, bekam es den Namen «Clarinette», war also zunächst eigentlich ein «Trompetchen» und vermutlich noch weit davon entfernt, «den Ton des empfindsamen Herzens» zu treffen, den Friedrich Daniel Schubart ihr in seinen 1784 verfassten «Briefen zu einer Ästhetik der Tonkunst» zuschrieb. Daher setzte sich die Klarinette nur langsam durch und war noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein keineswegs in allen Orchestern vertreten.

Dennoch hatte Mozart mehrfach Gelegenheit, ihre Möglichkeiten zu studieren und in eigenen Kompositionen zu erkunden. Durchwegs eigenständig tritt sie in Mozarts Œuvre nur dreimal in Erscheinung: im sogenannten Kegelstatt-Trio KV 498, im Klarinettenquintett KV 581 und schließlich in seinem Klarinettenkonzert. Alle drei Werke sind Mozarts Bekanntschaft mit Anton Paul Stadler (1753 – 1812) zu verdanken. Stadler war seit 1782 Mitglied der kaiserlichen Hofkapelle, ein virtuoser Klarinettist, der auch komponierte und sich mit der klanglichen und technischen Verbesserung seines Instruments befasste. Das von ihm bevorzugte Modell war die Bassettklarinette, für die ihm Mozart sein Konzert schrieb, eine Mischform aus Klarinette und Bassetthorn mit einem nach unten erweiterten Tonumfang. Da das Instrument bald außer Gebrauch kam und Mozarts Manuskripte verlorengingen, wurde nach Mozarts Tod eine für die modernere Klarinette eingerichtete Fassung des Werkes publiziert.

Erst im 20. Jahrhundert befasste man sich wieder mit seiner ursprünglichen Gestalt. 1977 wurde die rekonstruierte Fassung von Ernst Hess veröffentlicht, die der Originalfassung so nahe kommt, wie auf Grund der Quellenlage nur möglich. Hess, Komponist, Dirigent und Mozart-Forscher aus Zürich, stützte sich auf ein in Winterthur aufbewahrtes Autograph von Mozart, eine Skizze von 199 Takten des ersten Satzes, notiert für eine Klarinette, die bis zum tiefen C geht. Außerdem lag ihm eine Rezension des Erstdruckes von Mozarts Konzert aus der «Allgemeinen Musikalischen Zeitung» von 1802 vor, die Abweichungen von Mozarts Original mit Notenbeispielen belegt und ebenfalls die ursprüngliche Bestimmung für die Bassettklarinette bestätigt. Schließlich fand der Klarinettist Hans Rudolf Stalder mit Ernst Uebel in Markneukirchen einen Instrumentenbauer, der bereit war, eine Bassettklarinette nachzubauen. Auf diesem Instrument erklang Mozarts Klarinettenkonzert mit Stalder beim Mozartfest 1968 in Augsburg erstmals wieder in seiner − freilich immer noch hypothetischen – Originalfassung und wird seitdem  gelegentlich auch so wieder aufgeführt. Häufiger ist allerdings die inzwischen eingebürgerte Version zu hören.

Mozarts Klarinettenkonzert weicht nicht von der üblichen Konzertform mit drei Sätzen ab und zeigt doch dank seiner auf das Wesen des Soloinstruments ausgerichteten Gestaltungsmittel einen höchst individuellen Charakter. Ein kammermusikalisch sparsam besetztes Orchester mit je zwei Flöten, Fagotten und Hörnern sowie Streichern stützen den vorwiegend gesanglich angelegten Klarinettenpart, umspielen ihn, ohne je in den Vordergrund zu treten, und nur im ersten Satz (Allegro) bereitet es mit einem ausgedehnten Vorspiel den Auftritt des Soloinstruments vor. Die Klarinette nimmt das dort präsentierte Hauptthema auf und macht es sich zu Eigen, indem sie, ihre hohen und tiefen Register spielerisch gegeneinander stellend, mit sich selbst dialogisiert. In dem so eröffneten Klangraum bleibt das Orchester weitgehend im Hintergrund, und keine Solokadenz ist nötig, um die Klarinette in ihrer Dominanz zu bestätigen.

Auch der Beginn des zweiten Satzes (Adagio) gehört sogleich ihr. Über einer verhaltenen Streicherbegleitung intoniert sie eine Kantilene jenes «preghiera»- (Gebets-)Typs, mit dem die Gräfin in ihrer Cavatina in «Le nozze di Figaro» den Gott der Liebe beschwört. Fernab aller Deutungsversuche spricht die Sachlage gewiss für Mozarts Wertschätzung der Klarinette, die mit seinem Konzert den ersten Triumph ihrer solistischen Karriere erlebte. Alles in diesem tief inspirierten Satz ist darauf gerichtet, ihren sonoren und wandlungsfähigen Klang, ihr schmiegsames Cantabile auszuspielen. Das Finale (Rondo. Allegro) schließt sich kontrastierend daran an, tänzerisch im 6/8-Takt mit brillanten Passagen für die Klarinette und getragen von ganz irdischer Heiterkeit, die Mozarts Musik schließlich doch wieder zurück auf die Erde holt.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Andrea Wolter

Johannes Brahms

Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68

Sätze

  • Un poco sostenuto - Allegro - Meno Allegro

  • Andante sostenuto

  • Un poco Allegretto e grazioso

  • Adagio - Più Andante - Allegro non troppo, ma con brio - Più Allegro

Dauer

42 Min.

Entstehung

1876

Johannes Brahms galt zu Lebzeiten als «Erbe» und «legitimer Nachfolger» Beethovens. Das Bonmot des Dirigenten Hans von Bülow, Brahms’ Erste Symphonie sei die «Zehnte» von Beethoven, hat diesen Ruf untermauert. Die Einschätzung, Brahms habe die klassischen Ideale hoch gehalten und die von der Wiener Klassik ausgeprägten Gattungen der Symphonie und des Streichquartetts sowie die Sonaten- und Variationsform in Beethovens Sinn erfüllt, hat sich bis heute erhalten. Daran konnte und kann auch die Erkenntnis Arnold Schönbergs nicht rütteln, dass Brahms die traditionellen Fundamente mit neuen Verarbeitungsmethoden in der so genannten entwickelnden Variation und in harmonischen Belangen modernisiert und zum Teil aufgebrochen hat. Der Romantiker Brahms: ein Klassiker mit Zukunft.

Eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Der angehende Komponist Brahms empfand Beethovens kompositorische Hinterlassenschaft geradezu als übermächtig. Zu dem Dirigenten Hermann Levi meinte Brahms: «Ich werde nie eine Symphonie komponieren! Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zumute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört.» Tatsächlich umging Brahms lange Zeit die Symphonie, er wich ihr aus, obwohl es ihn zu ihr drängte. Die Monumentalität des Ersten Klavierkonzertes ist darauf zurückzuführen, dass Brahms mit dem musikalischen Material ursprünglich symphonische Pläne hatte. Auch als der junge Komponist für das von ihm geleitete Orchester in Detmold komponierte, verbarg er seine symphonischen Ambitionen hinter einer anderen Gattung, in diesem Fall der Serenade. Die erste Serenade D-Dur kommt eigentlich als veritable und imposante Symphonie daher und wird erst durch eine Erhöhung der Satzanzahl und starke kammermusikalische wie tänzerische Impulse in der Art einer Suite aufgelockert. Thematische Beethoven-Bezüge sind aber auch in diesem Werk unüberhörbar.

An Beethoven erinnerte dann auch die Hörer der Uraufführung der Ersten Symphonie c-moll op. 68 von Brahms das Hauptthema des Finalsatzes, das im Aufbau seiner melodischen Sequenzen dem «Freude»-Thema der Neunten Symphonie ähnelte (besonders darauf nahm wohl auch Hans von Bülow mit seiner überspitzten Bemerkung Bezug). Wie bei Beethovens Fünfter Symphonie wiederum ist auch bei Brahms der Finalsatz als Höhepunkt und Lösung der symphonischen Konflikte angelegt. Nach einer düsteren c-moll-Einleitung zum letzten Satz hellt ein feierliches Hörnerthema die Stimmung nach C-Dur auf. Ein Choral leitet über in das hymnische, weit geschwungene Hauptthema, das so stark an Beethovens Neunte gemahnt. Die Themen werden von Brahms in spannenden Entwicklungen auf einen strahlenden Durchbruch in der Koda hingeführt – einen Durchbruch ins Licht, genauso wie in Beethovens Fünfter Symphonie. Die symphonische Kurve verläuft bei Beethoven wie bei Brahms von der düsteren und schicksalsschwangeren Einleitung der Symphonie zur Apotheose, von c-moll nach C-Dur.

Den Hauptteil des ersten Satzes in c-moll hat Brahms bereits im Jahr 1862 komponiert, dann geriet aber dieses Symphonie-Unternehmen vorerst noch einmal ins Stocken. An seinen Freund, den Geiger Joseph Joachim, schrieb Brahms: «Hinter Symphonie von J. B. magst Du einstweilen ein ? setzen.» Es dauerte weitere zwölf Jahre, bis Brahms die Arbeit an der Symphonie wieder aufnahm, dann aber mit großen Schritten aus dem Schatten des Riesen Beethoven hervortrat. Er knüpfte dort an, wo Beethoven als Symphoniker geendet hatte. So schuf Brahms mit der Einleitung der Symphonie einen Keim, in dem bereits das gesamte thematische Material der Symphonie enthalten ist. Aus den zwei gegenläufigen chromatischen Figuren in den Streichern und den Bläsern entwickelte Brahms die Hauptthemen des ersten bis dritten Satzes und die Einleitung zum Finale. Dabei spielen auch die harmonischen Felder der Motive eine wichtige Rolle und werden Gegenstand einer Entwicklung. Mit solchen Kompositionstechniken emanzipierte sich Brahms von Beethoven.

Nach dem erbitterten symphonischen Ringen voller Synkopen, zerklüfteter Dreiklangsbrechungen und abrupter Wechsel zwischen Piano und Forte im ersten Satz wird der zweite Satz zum ruhenden Gegenpol: Im innig anhebenden Andante übernimmt die Oboe mehrmals die melodische Führung. Nach einigen fließenden Steigerungen endet der Satz in einer wunderschönen Stimmung mit berührendem Violinsolo und sanft aufsteigenden Dreiklangszerlegungen.

Die anmutige Klarinettenmelodie des dritten Satzes ist raffiniert gebaut: Ihre zweite Periode ist exakt die Umkehrung der ersten Periode. In der mitreißenden Steigerung des Mittelteils kündigt Brahms schon den Durchbruch des Finales an. «Freude, Freude!» scheinen die Instrumente zu rufen, ehe sie zu ruhigen Variationen des ersten Satzteils zurückkehren.

Die Uraufführung der Symphonie fand im November 1876 in Karlsruhe statt. Der Erfolg des Werkes fiel ähnlich triumphal aus wie seine Koda.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Rainer Lepuschitz