Archiv: Bruckners Unvollendete

Wien Musikverein Großer Saal Musikverein | Großer Saal

Interpreten

  • Mayumi Miyata, Sho
  • Yutaka Sado, Dirigent

Programm

Unvollendete Werke großer Meister besitzen eine schwer erklärbare Anziehungskraft, die nahezu mystische Dimensionen erreichen kann, wenn der Schöpfer vor der Vollendung starb. Man denke nur an Mozarts Requiem und Schuberts «Unvollendete». Nicht anders verhält es sich mit der neunten Symphonie von Anton Bruckner. Drei Sätze konnte er fertigstellen. Am 11. Oktober 1896 jedoch, nachdem er in seiner Wohnung im Schloss Belvedere noch morgens am Finale gearbeitet hatte, erlag der 71-jährige Wahl-Wiener seiner schweren Krankheit. Dass er mit seiner «Neunten» ein Weltabschiedswerk schuf, zeigt auch Bruckners überlieferte Absicht, die Symphonie »Dem lieben Gott« zu widmen. Vom Abschiednehmen handelt auch das 1992 uraufgeführte Spätwerk «Ceremonial. An Autumn Ode» des japanischen Komponisten Toru Takemitsu, das die Tonkünstler und ihr Chefdirigent Yutaka Sado dem gewichtigen Opus voranstellen. Im entrückten Zusammenspiel von Orchester und Sho, einer Mundorgel mit jahrtausendealter Tradition in der japanischen Hofmusik, entfaltet sich eine ergreifende, leise Intensität, in der sich östliche und westliche Klänge voller Zuversicht begegnen.

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Toru Takemitsu

«Ceremonial. An Autumn Ode» für Orchester mit Shô

Dauer

8 Min.

Entstehung

1992

Als Toru Takemitsu erstmals westliche Musik hörte, war das verboten. Eine behelfsmäßige Nadel aus Bambus kratze über eine Schellackplatte - und der damals 14-Jährige war Soldat im Zweiten Weltkrieg. Diesem ersten musikalischen Schlüsselerlebnis folgte 15 Jahre später ein zweites: beim Besuch eines Bunraku, eines traditionellen japanischen Puppentheaters, begleitet vom charakteristisch schnarrenden, unreinen Klang (sawari) des Shamisen, einer dreisaitigen Laute. Die Musik des Westens, und dabei zunehmend die Avantgarde von Olivier Messiaen bis John Cage und den Geräuschen der «Konkreten Musik» auf der einen Seite, auf der anderen die japanische Überlieferung und ihre enge Beziehung zum Buddhismus: Reich, komplex und widersprüchlich sind die Einflüsse, die den vorwiegend autodidakten Komponisten Takemitsu zur prägenden musikalischen Stimme Japans machten. In «Fülle und Heterogenität» spiegeln sie «das enorme Assimilierungsvermögen, aber auch das Konfliktpotential einer Gesellschaft wider, die innerhalb weniger Generationen den Weg vom ganz auf sich selbst zurückgeworfenen Feudalstaat zur globalen Perspektive zurückgelegt hatte.» (Ilja Stephan)

Wenn Takemitsu feststellt, er wolle «einen Klang zustande bringen, der so intensiv ist wie die Stille», dann wird auch der spirituelle Aspekt seines Schaffens offenkundig. Trotzdem blieb er zeitlebens ein Dialektiker. «Ich würde mich gerne in zwei Richtungen auf einmal entwickeln, als Japaner, was die Tradition, als Westler, was die Neuerungen betrifft. Tief in mir würde ich gerne zwei musikalische Genres bewahren, jedes in seiner eigenen, ihm legitimen Form. Von diesen grundsätzlich unvereinbaren Elementen bei den vielerlei kompositorischen Vorgängen auszugehen bedeutet in meinen Augen aber nur den ersten Schritt. Ich will diesen fruchtbaren Widerspruch nicht aufheben, im Gegenteil, ich möchte, dass diese beiden Blöcke miteinander streiten. So vermeide ich meine Isolierung von der Tradition und kann doch mit jedem neuen Werk in die Zukunft vordringen.»

Die Sho, eine Mundorgel, ist ein japanisches Blasinstrument. Über ein kurzes Mundstück bläst der Spieler in ein tassenförmiges Unterteil, aus dem Bambuspfeifen mit Metallzungen darin ragen, wie sie auch in westlichen Mund- oder Ziehharmonikas eingesetzt werden. Schließt der Spieler mit einem Finger ein Loch, strömt die Atemluft nach oben in die entsprechende Pfeife und setzt die Zunge in Schwingung. Wenn zu viel Wasser aus der Atemluft auf den Zungen kondensiert, klingt das Instrument nicht mehr, weshalb zur traditionellen Spielausstattung ein kleines Kohlenfeuer in einer weißen Tonschale (Hibachi) gehört.

Die Sho ist eines der wichtigsten Instrumente des Gagaku, der «eleganten Musik », also jenes Stils, der seit dem siebten, achten Jahrhundert am japanischen Kaiserhof gepflegt wurde und seinerseits aus chinesischen Traditionen abgeleitet ist. In seinem Werk «Ceremonial. An Autumn Ode» löst Toru Takemitsu die Sho aus ihrem traditionellen Kontext. Mit schwebend dissonanten Tonwolken beginnt sie als auratisches Soloinstrument, ein westliches Orchester reagiert auf sie, aber die Sho behält das letzte Wort. Die Natürlichkeit von Werden und Vergehen gerinnt zu Musik. «Was ich tun möchte, ist nicht, Klänge durch meine Kontrolle in Richtung eines Ziels in Bewegung zu versetzen», stellte Toru Takemitsu einmal grundsätzlich fest - und scheint damit auch den Verlauf von «Ceremonial» zu beschreiben: «Vielmehr möchte ich sie freilassen, wenn möglich ohne sie zu kontrollieren. Mir würde es genügen, die Klänge um mich herum einzusammeln und sie dann sanft in Bewegung zu setzen. Klänge herumzubewegen, wie man ein Auto fährt, ist das Schlimmste, was man mit ihnen tun kann.» Wir hören ein Abschiedsritual: Voller Wertschätzung und Dank, aber ohne Jammern und Klammern sagen wir Lebewohl. Die Uraufführung von «Ceremonial. An Autumn Ode» fand am 5. September 1992 im japanischen Matsumoto beim Saito Kinen Festival statt. Solistin war, wie auch heute, Mayumi Miyata; Seiji Ozawa dirigierte das Saito Kinen Orchestra.

NÖ Tonkünstler Betriebgesellschaft m.b.H. | Walter Weidringer

Anton Bruckner

Symphonie Nr. 9 d-Moll

Sätze

  • Feierlich; misterioso

  • Scherzo. Bewegt; lebhaft - Trio. Schnell

  • Adagio. Langsam; feierlich

Dauer

60 Min.

Entstehung

1887-1896

Anton Bruckner hatte sich bis in die Jahre um seinen 40. Geburtstag die Kirchenmusik zum Zentrum seines Schaffens erkoren, wodurch ihm sogar die kompositorische Selbstfindung gelungen war: nämlich in den drei großen Messen der 1860-er Jahre in d-moll, e-moll und f-moll, die zeitgleich mit seiner ersten «gültigen» Symphonie in c-moll entstanden sind. In der Folge wandte er sich, nach Organistenstellen in Sankt Florian und Linz nunmehr in Wien ansässig und dort als Professor am Konservatorium und Hoforganist tätig, nahezu ausschließlich der Symphonik zu. Nicht nur durch die ihm selbstverständliche katholische Frömmigkeit, sondern auch durch musikalische Bezugnahmen blieb freilich der sakrale Aspekt in seinen großen Orchesterwerken ständig präsent: Unverkennbare zitathafte Wendungen in den Symphonien rufen nicht bloß geliebte, sondern wohl auch von ihrem Glaubensgehalt her für Bruckner im jeweiligen Moment besonders wichtige, ihm nahe gehende Stellen aus den großen Messen in Erinnerung. Doch darüber hinaus verweisen die Symphonien schon von Grund auf immer wieder unmiss-verständlich ins Transzendentale – ein Aspekt, der wohl in keinem Werk so deutlich wird wie in der unvollendeten Neunten. «Das Erlebnis göttlicher Präsenz, aber auch die Qual der in den Abgrund der Ewigkeit hinabschauenden Seele, die Entzückungen, durch göttlichen Anhauch verursacht, aber auch der nackte Schrecken und die gähnende Leere des menschlichen Gemütes im Zwiespalt des Zweifels – das sind die Urelemente der Musik Bruckners in seinem letzten Werk»: So poetisch treffend fasste einst der Musikwissenschaftler Hans Ferdinand Redlich den Gehalt des Werks zusammen. Sie darf als eines jener Beispiele aus der Musikgeschichte dienen, die belegen, dass auch Fragmente einen Grad der Vollendung annehmen können, der nicht mehr steigerbar scheint.

Denn trotz einer fast zehnjährigen Arbeit an dem Werk – der Komponist hatte es im Herbst 1887 begonnen, nur sechs Wochen nach Vollendung der achten Symphonie in ihrer ersten Fassung, und ungeachtet schwindender Kräfte durch eine schwere Lungenentzündung praktisch bis zu seinem Tod am 11. Oktober 1896 daran gearbeitet – musste das Finale ein Torso bleiben: Während die ersten drei Sätze bereits im November 1894 abgeschlossen werden konnten, ist Bruckner beim letzten Satz, wie man heute weiß, zu vollständig (172 Takte), zumindest teilweise instrumentierten (über 200 Takte) und skizzierten Teilen bis wenigstens zum Beginn der Coda (insgesamt mehr als 500 Takte) gekommen – das heißt also, wesentlich weiter, als lange Zeit angenommen. Die Quellenlage wird allerdings durch den Umstand erschwert, dass nach Bruckners Tod unter Vertrauten, Schülern und Reliquienjägern gerade die Notenblätter dieses unvollendete Finales zu den begehrtesten Memorabilia gezählt und in zumindest dreißig Einzelteile aufgeteilt wurden – viele Seiten der fertigen Partitur sind somit heute verschollen. Müßig ist es freilich, darüber zu spekulieren, ob Bruckner die Neunte komplett hätte fertig stellen können, wäre er nicht wegen der Zurückweisung der Achten durch den Dirigenten Hermann Levi in eine neuerliche Phase der Umarbeitung seiner Symphonien geraten: 1888/89 brachte er die Dritte in eine neue, verknappte Form, 1889/90 arbeitete er die Achte um und gab anschließend bis ins Frühjahr 1891 der Ersten eine alternative Gestalt – alles im Hinblick auf Aufführungen, die zu zentralen Daten in der spät sich einstellenden weitreichenden Anerkennung des Komponisten wurden, deren Vorbereitung aber viel Zeit und Kraft an sich band. Das vielleicht faszinierendste Faktum ist aber, daß die Auf-führungspraxis – und das gewiss nicht nur aus praktischen Über-legungen – sich über Bruckners Ersuchen, notfalls möge sein grandioses «Te Deum» von 1884 als Finale erklingen, zum allergrößten Teil hinwegsetzt und diese seine letzte Symphonie mit den verklärten E-Dur-Klängen des Adagio enden lässt. Es scheint, als habe die Musik hier ihren verfrühten, aber doch logischen und befriedigenden Endpunkt erreicht, eine letzte Schwelle, die zu überschreiten nicht mehr nötig und möglich ist. Das liegt freilich ganz entscheidend daran, dass Bruckner, wie schon in der Achten, das Scherzo an die zweite Stelle rückt und somit eine ausgewogene Dreiteiligkeit entsteht: Breit ausgeführte, monumentale Ecksätze von großer Kühnheit und Ausdruckskraft umschließen einen lebhaften Mittelsatz, der die wohl exzentrischste und avancierteste Musik aus der Feder des Komponisten birgt.

«Ein eigenartiges Merkmal der drei Sätze dieser Symphonie (und damit auch ihres fragmentarischen Charakters) ist, dass die Grundtonart d-moll eigentlich nirgends deutlich bestätigt wird», merkte Attila Csampai einmal an. «Das Adagio pendelt zwischen den entfernten Tonarten E-dur und As-dur, das Trio des zweiten Satzes ist gar in Fis-dur, also noch weiter entfernt, angesiedelt, während im Kopfsatz im Bereich des Hauptthemas Unisono und leere D-Klänge dominieren, so daß der eigentliche, warme Charakter ‘gefüllter’ d-moll-Klänge im ganzen Werk nicht zur Geltung kommt. Selbst an seiner ureigensten Stelle, an jenem Platz, der sonst die Grundtonart der Symphonie bestimmt, am Schluß des Kopfsatzes nämlich, entbehrt der Grundklang eines Tongeschlechts: es erklingt ein leerer D-Klang.» Der verweist allerdings in seiner harten Archaik etwa auf Mozarts Requiem, in dem am Ende des Kyrie (und damit auch am Schluss des Werks in Süßmayrs Ergänzung) die selbe kalte leere Quint D–A steht.

Mögen die späten Bruckner-Symphonien einander auch in vielen Aspekten ähneln, so hat doch jede ihre scharf umrissene, eigene Kontur. Das gilt in besonderem Maße auch für die Neunte. Gleich ihr Stirnsatz (Feierlich, misterioso) überrascht nicht nur durch besonders reiches Themenmaterial, sondern auch durch die ungewöhnliche formale Anlage eines modifizierten Sonatensatzes. Nicht weniger als vier Themengruppen fächern sich in eine große Zahl von Gestalten auf, von denen die erste Gruppe mit einem von den acht Hörnern angestimmten geheimnisvollen Thema angeführt wird, das sich über einem Tremolo-Orgelpunkt von der Tonika zuerst zur Terz, dann zur Quint erhebt und einen fanfarenartigen Aufschwung nimmt, der gleich darauf aber wieder zurücksinkt. Langsam aber stetig gerät sodann das ganze Orchester in Aufruhr und stellt schließlich in mächtigem Unisono ein monumentales zweites Thema heraus, das durch die abstürzende Oktav und fallende Chromatik ungemein gestisch wirkt. Eine ruhige Überleitung mit dialogischen Auftaktmotiven der Holzbläser über fallenden Streicherpizzicati führt zum dritten, dem «Gesangsthema», das sehnsuchtsvoll in den Streichern erklingt und breit ausgeführt wird. Schließlich kündigt sich in den eng geführten Holzbläsern ein viertes Thema an, das sodann in den Streichern in Umkehrung erscheint – eine d-Moll-Dreiklangszerlegung, welche ebenfalls ausführlich in den Verlauf eingearbeitet wird. Die enorme Komplexität bereits dieser Themenaufstellung macht nun eine eigentliche Durchführung überflüssig: Sie erscheint als zweiter großer Formteil gleich mit der Reprise verquickt, in der die Reihenfolge der Themen verändert ist und zunehmend Trauermarsch-Elemente auftauchen. Eine vergleichsweise kurze Coda versammelt nochmals alle Kräfte zum gewaltigen Abschluss.

Das dämonische Scherzo (Bewegt, lebhaft) nimmt sodann von einem dissonant schwebenden Akkord seinen Ausgang, der Bruckners in dieser Symphonie deutliche Tendenz, «grundlegende Tonartenverhältnisse zu verschleiern» (H. Redlich), überdeutlich macht. Auf- und abwärts führende, geheimnisvolle Streicherpizzicati führen zu jenem grausam brutalen Stampfen des ganzen Orchesters, das alles unter sich zu zermalmen droht. Die «kleine pastorale Oboenmelodie» (A. Csampai), die dem Dröhnen entkommt, wirkt wie die Re-miniszenz an eine längst vergangene, gute alte Zeit. Bleibt nur die irreal flirrende Fis-Dur-Traumwelt des Trios (Schnell), in der ein vorbeihuschendes und ein melancholisches Thema einander abwechseln.

Das Adagio (Langsam, feierlich) hat Bruckner einmal als das schönste aus seiner Feder bezeichnet – ein Epitheton, das die Katastrophe unterschlägt, die sich da unterwegs ereignet. Denn das Intervall der kleinen Non, mit dem sich das schmerzlich expressive Hauptthema zu Beginn aufbäumt, um dann chromatisch abzusinken und eine Oktav zu fallen, wird zum bestimmenden Element einer durch Mark und Bein gehenden sechstönigen Dissonanz am Höhepunkt, die in einer bestürzenden Generalpause nachzittert. Doch die Zuversicht siegt auch diesmal – in einem Satz, der ansonsten freilich Sphärenklänge, durchaus hart tönende himmlische Fanfaren und irdische Abschiedsgesänge auf bewegende Weise einander gegenüberstellt und miteinander kombiniert. Thematische Reminiszenzen an das Miserere aus der d-moll-Messe, das Adagio der Achten und in den letzten Takten der Wagner-Tuben auch an den so vertrauensvoll nach oben führenden Beginn der siebenten Symphonie scheinen in der Coda einen Schlussstrich unter Bruckners Schaffen zu ziehen, das hiermit friedvoll verklärt ausklingt.

© NÖ Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Walter Weidringer