Archiv: Sea Pictures

Wien Musikverein Großer Saal Musikverein | Großer Saal

Interpreten

  • Raehann Bryce-Davis, Mezzosopran
  • Jun Märkl, Dirigent

Programm

Richard Wagner
Ouvertüre zur Oper «Der fliegende Holländer»
- Pause -

Wasser hat keine Balken, heißt es: Deshalb fasziniert es uns so sehr, auch und gerade in der Musik – ob es nun die von einem uralten Fluch hochgepeitschten Wellen sind, die über das Schiff von Wagners «Fliegendem Holländer» hereinbrechen, oder die wogende Noblesse des Liederzyklus «Sea Pictures», bei dessen Uraufführung 1899 unter der Leitung von Edward Elgar persönlich die Solistin gar im Kostüm einer Meerjungfrau auftrat. Diesmal darf man sich auf die ausdrucksstarke Mezzosopranistin Raehann Bryce-Davis freuen, die beim Hilde-Zadek-Wettbewerb 2015 in Wien zur Siegerin gekürt wurde. Seine Affinität zu den Wassermusiken von Hosokawa und Debussy, die das Programm ergänzen, hat der Dirigent Jun Märkl schon mit CD-Einspielungen bewiesen. Toshio Hosokawa feiert in «Circulating Ocean» das Meer und den Kreislauf des Wassers als Metapher für das Leben, und Claude Debussys ausgeklügelte sensualistische Klangwelten von «La Mer» faszinieren uns gerade dadurch, dass der Mensch ausgeblendet bleibt.

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Toshio Hosokawa

«Circulating Ocean» für Orchester

Sätze

  • Introduction

  • Silent Ocean

  • Waves from the Ocean

  • Cloudscape in the Sky

  • Storm

  • Waves

  • Breeze on the Ocean

  • The Water returning to the Sky again

  • Mist on the Ocean

Dauer

20 Min.

Entstehung

2005

Toshio Hosokawa zählt zu den erfolgreichsten japanischen Komponisten der Gegenwart. 1955 in Hiroshima geboren, wuchs er in einer künstlerisch fruchtbaren Umgebung auf: Die Klänge der traditionellen japanischen Koto, der Wölbbrettzither, die seine Mutter spielte, zählten wohl zu den ersten musikalischen Erlebnissen des Knaben, während der Großvater als Ikebana- Meister ausgeklügelte Pflanzen-Arrangements schuf. Mit vier Jahren begann Hosokawa mit dem Klavierunterricht und nahm 1971 in Tokio sein Kompositionsstudium auf, das er fünf Jahre später an der Hochschule der Künste in Berlin bei Isang Yun fortsetzte: Der Sprung in eines der führenden europäischen Musikzentren war geschafft. 1983 wechselte er zu Klaus Huber an die Hochschule für Musik Freiburg, der ihn ermunterte, sich auf seine Wurzeln zu besinnen, sich mit traditioneller japanischer Musik auseinanderzusetzen und die Hofmusik Gagaku sowie das Nô-Theater zu studieren.

Erst dadurch entwickelte Hosokawa seine ganz eigene Musiksprache, die die westliche Avantgarde mit der traditionellen japanischen Kultur in Einklang bringt. Spätestens seit seinem 2001 uraufgeführten Oratorium «Voiceless Voice in Hiroshima», das auf der Verbindung der musikalischen Sphären von Ost und West basiert, sind die Werke Hosokawas in den bedeutendsten Konzertsälen und Opernhäusern zu hören. Einen seiner jüngsten großen Erfolge feierte er mit der 2016 in Hamburg uraufgeführten Oper «Stilles Meer», in der indirekt die Katastrophe von Fukushima thematisiert wird.

Den Unterschied und das Verhältnis zwischen den beiden Kulturkreisen fasste Hosokawa einmal so zusammen: «Die europäische Kunst sagt: Die Zeit soll nicht vergehen. Wie in den Kathedralen, die für die Ewigkeit stehen. Die japanische Kunst geht mit der Zeit und sagt: Vergänglichkeit ist schön. Der Ton kommt aus dem Schweigen, er lebt, er geht ins Schweigen zurück.» In Hosokawas Musik finden sich nicht zuletzt Vorstellungen und Ideen aus dem Zen-Buddhismus. Ihr Zeitbegriff, Rhythmus und Tempo orientieren sich an der Atemlehre der Zen-Meditation, in der jeder Atemzug für Leben und Tod steht. Der eigentliche Schaffensprozess umfasst dabei auch die Stille, aus der die Komposition erst entstehen kann.

Hosokawa verweist hier gerne auf die japanische Schriftkunst: Der Kalligraph fixiert mit dem Pinsel erst einen Punkt in der Luft, bevor er ihn von dort aus über das Papier führt und wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Die Schriftzeichen auf dem Papier sind nur das sichtbare Ergebnis einer viel größeren Pinselbewegung. «Diese Denkweise hat einen starken Einfluss auf meine Musik ausgeübt. (…) Meine Musik ist eine Kalligraphie aus Klang in Zeit und Raum, jede Note ist wie der Pinselstrich in der ostasiatischen Kalligraphie. » Immer verarbeitet Toshio Hosokawa in seinem inzwischen auf etwa 150 Werke angewachsenen OEuvre das Thema Natur, wobei das Meer eine besondere Rolle einnimmt. Das heute aufgeführte «Circulating Ocean» ist das dritte symphonische Stück einer Reihe über den Ozean, die 2001/02 mit «Voice from the Ocean» ihren Anfang nahm und 2003 mit «Wind from the Ocean» fortgesetzt wurde.

2005 folgte als Auftragswerk der Salzburger Festspiele das mehrteilige Orchesterstück «Circulating Ocean», das im Festspielsommer 2005 von den Wiener Philharmonikern unter Valery Gergiev uraufgeführt wurde. Die dahinter stehende Idee des Komponisten ist es, «die Urenergie der Natur mit Tönen auszudrücken: das Meer und die Menschen. Die Natur, das Universum und ich.» Die Teile gehen ohne Pause ineinander über: «Introduction», «Silent Ocean», «Waves from the Ocean», «Cloudscape in the Sky», «Storm», «Waves», «Breeze on the Ocean», «The Water returning to the Sky again» und «Mist on the Ocean» («Einleitung», «Stilles Meer», «Meereswellen», «Wolken am Himmel», «Sturm», «Wellen», «Meeresbrise», «Das Wasser kehrt wieder zum Himmel zurück» und «Nebel über dem Wasser»). Der Kreislauf des Wassers stellt sich für Toshio Hosokawa als Metapher auf den Werdegang der Menschenseele dar: «Ich bin ein Tropfen Wasser. Ich bin aus dem Ozean geboren und werde wieder dahin zurückkehren. Mein Ego wird geboren und wieder tot sein.»

Hosokawa arbeitet mit an- und abschwellenden Klängen, mit wechselnden Klangfarben und einer großen Palette an Ausdrucksmustern, die meditativ-sehnsüchtige Klangflächen ebenso einschließen wie erregte Fortissimo-Passagen. Er selbst fasste «Cirulating Ocean» an anderer Stelle so zusammen: «Folgt man den Bezeichnungen der Sätze meines symphonischen Werkes, so scheint es auf den ersten Blick wie eine musikalische Illustration des ewigen Kreislaufes des Wassers: Nebel steigt aus dem Meer auf, Wolken bilden sich, Regen fällt wieder zur Erde. ‹Circulating Ocean› ist aber mehr als Programmmusik, mehr als eine eindimensionale Naturschilderung – der Kreislauf des Elements Wasser ist Sinnbild für den Kreislauf unseres menschlichen Lebens, für unsere Verbundenheit mit der Natur, für unser Streben nach Leere, Entgrenzung und Vollkommenheit.»

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Markus Hennerfeind

Edward Elgar

«Sea Pictures» Fünf Lieder für Alt und Orchester op. 37

Sätze

  • Sea Slumber-Song

  • In Haven (Capri)

  • Sabbath Morning at Sea

  • Where Corals Lie

  • The Swimmer

Dauer

23 Min.

Als Edward Elgar 1899 vom Norwich Festival den Auftrag erhielt, eine musikalische «Szene» für die Altistin Clara Butt zu komponieren, setzte er Meeresgedichte von fünf verschiedenen Autoren zu einem Liederzyklus zusammen. Er wählte größtenteils sogenannte «Dramatic monologues» als dichterische Vorlagen aus und behielt damit eine Nähe zur musikdramatischen «Szene» bei. Lieder mit Orchesterbegleitung waren gegenüber dem Klavierlied Ende des 19. Jahrhunderts noch eine rare Gattung. Aber das Orchester war Elgars Element. Er brauchte die Farben des großen romantischen Orchesters, um seine Musik zum Leuchten und Funkeln, Glänzen und Schimmern, Rauschen und Tosen zu bringen. Eben erst hatte er seine «Enigma Variations» vollendet, deren Uraufführung den englischen Komponisten im Juni 1899 über Nacht populär machte. Auch die unmittelbar nach den Orchestervariationen komponierten Orchesterlieder sind ausdrucksstarke Tonbilder.

In den «Sea Pictures» entstehen große Tableaus im ersten, dritten und im abschließenden Lied. Eröffnet wird der Zyklus mit dem «Sea Slumber-Song», in dem die See als eine Art Urmutter der Schöpfung die Welt in den Schlaf wiegt. Mit den für seine Klangsprache so typischen dunklen Orchesterfarben verwandelt Elgar den wiegenden Rhythmus in einen bedrohlichen langsamen Marsch. Die Macht des Schattens fällt auf das lichterfüllte Elfenland. Elgar komponiert hier in zwei Dimensionen: Er orchestriert Bedrohung, während er die Gesangsstimme sanftmütige Melodien und betörende Intervallfolgen verströmen lässt. Dem eröffnenden Nachtgesang stellte Elgar im Zentrum des Zyklus ein Morgenlied gegenüber. «Sabbath Morning at Sea» von Elizabeth Barrett Browning, der bedeutenden Dichterin des Viktorianischen Zeitalters, ist ein ekstatisches Gebet einer einsamen Seele auf hoher See, das Elgar im Übergang von passionierten Rezitativzeilen auf feierliche Arienpassagen vertonte. Wenig später begann er mit der Komposition seines Oratoriums «The Dream of Gerontius», dessen Tonfall er bereits im «Sabbath Morning» mit kirchenliedhaften Gesangssequenzen, harmonisch berückenden Streicherpassagen, rauschenden Harfenklängen und majestätischen Bläserhymnen anstimmte.

Im Schlusslied «The Swimmer» gehen mit gesamtorchestralen Arpeggien die Wogen hoch und kommen durch Klänge der gestopften Hörner, des Tamtams und der mit dem Bogenholz gestrichenen Geigen und Bratschen die unwägbaren Tiefen des Gewässers zum Ausdruck. In der Dichtung des australischen Nationaldichters Adam Lindsay Gordon wird das Meer zum Spiegelbild einer am Liebesunglück leidenden Seele, die hinund hergerissen ist zwischen schönen Erinnerungen an glückliche gemeinsame Zeiten mit dem geliebten Menschen und der einsamen, von Gefühlsstürmen erfüllten Gegenwart. Um sich aus dem Leid zu befreien, strebt die Seele dem Licht des Jenseits entgegen, begleitet von einem triumphalen Hymnus, den Elgar aus dem Dunkel des Seelenmeeres emporsteigen lässt.

Demgegenüber «malte» der Komponist im zweiten und vierten Lied Miniaturen mit feinen Linien und stilvollen Farbmixturen. Das Lied «In Haven (Capri)» nach einem Gedicht von Elgars Ehefrau Caroline Alice bildet offensichtlich die Wurzel des gesamten Zyklus, denn alle anderen Lieder lassen sich motivisch und thematisch davon ableiten. Der sanft wiegende, barocke italienische Siciliano-Rhythmus von «In Haven» ist eine Anspielung auf den Liedtitelzusatz «Capri» (kurz bevor sie Edward Elgar kennenlernte, weilte Caroline Alice auf der Felseninsel im Golf von Neapel). Hand in Hand scheint nun das Ehepaar die Küste entlang zu gehen, vereint in treuer Liebe und gewappnet gegen die Stürme des Lebens. Im Lied «Where Corals lie» nach einem Gedicht von Richard Garnett wird unter der aparten klanglichen und harmonischen Oberfläche die leidenschaftliche Sehnsucht nach dem gefährlichen, verführerischen Unbekannten hörbar. Immer stärker locken die exotischen Farben und Figuren im Korallenriff und entfernen die Seele von der irdischen Wirklichkeit in ein trügerisches Reich der Sinnlichkeit.

Von der Uraufführung der «Sea Pictures» im Oktober 1899 beim Norwich Festival unter der Leitung des Komponisten wurde berichtet, dass die 27-jährige Sängerin Clara Butt im Kostüm einer Meerjungfrau auftrat.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Rainer Lepuschitz

Claude Debussy

«La Mer» Drei symphonische Skizzen für Orchester

Sätze

  • De l'aube à midi sur la mer (Von der Morgenröte bis zum Mittag auf dem Meer)

  • Jeux de vagues (Spiel der Wellen)

  • Dialogue du vent et de la mer (Zwiegespräch von Wind und Meer)

Dauer

22 Min.

Entstehung

1903-05

Claude Debussy hatte zu Anfang des 20. Jahrhunderts aus finanzieller Notwendigkeit begonnen, sich als Musikkritiker zu verdingen und zu diesem Zweck einen scharfzüngigen, Zigarre rauchenden Gesprächspartner namens Monsieur Croche erfunden. Doch auch später noch, als längst etablierter Komponist, war Debussy für seine spitze Feder bekannt, seinen betonten französischen Nationalismus und für so manches gehässige Bonmot auf Kosten berühmter Kollegen und Vorgänger. «Kein Mensch ist verpflichtet, nur Meisterwerke zu schreiben, und wenn man die Pastoral-Symphonie als solches behandelte, würde diese Bezeichnung an Kraft einbüßen», ätzte er einmal in Richtung Ludwig van Beethovens. – Eine so rigorose Ablehnung also ausgerechnet jenes symphonischen Werks, in dem Beethoven das Leben auf dem Lande in Töne übersetzt, wo doch Debussy selbst die musikalische Schilderung der Natur, gerade etwa in «La Mer», keinesfalls verschmäht hat? Um den offensichtlichen Widerspruch aufzulösen, muss man bedenken, dass Debussy, obwohl anfangs auch er der in Frankreich grassierenden Begeisterung für Richard Wagner erlegen war, sich später mit Vehemenz von dieser gelöst und seine Vorbilder anderswo gefunden hat: weit abseits der sich selbst allzu wichtig nehmenden deutsch-österreichischen Musikgeschichte, beim urwüchsig-ungezügelten Russen Modest Mussorgsky, bei der javanischen Gamelan-Musik und ihrer Pentatonik, in der Klarheit der französischen Clavecinisten des Barock, in den Synkopen des aufkommenden Ragtime. Das jeweilige Verhältnis sowohl zu Beethoven als auch zu Wagner war zwar für die nachfolgenden Komponistengenerationen in Deutschland und Österreich die zentrale Frage, an der sich alle messen lassen mussten – für Frankreich hingegen leugnete Debussy deren Bedeutung, weil dies für ihn die Fixierung auf einen überholten ästhetischen Standpunkt darstellte: «Es schien mir bewiesen, dass die Symphonie seit Beethoven überflüssig geworden war. Bei Schumann und Mendelssohn ist sie ohnehin nur eine respektvolle Wiederholung der gleichen Formen, mit bereits geringerer schöpferischer Kraft. Die Neunte war allerdings ein genialer Fingerzeig, ein großartiges Verlangen nach Erweiterung der Formen», schrieb Claude Debussy in einem Aufsatz zur Symphonie, um sodann den Schluss zu ziehen: «Beethovens wirkliche Lehre bedeutete also nicht die Bewahrung der alten Form, noch weniger die Verpflichtung, in die Fußstapfen seiner ersten Versuche zu treten.»

Debussy wollte jedoch sowohl das Erbe Beethovens als auch jenes Wagners überwinden: Hatte er auch in seiner Oper «Pelléas et Mélisande» (1893–98) noch unweigerlich Wagner bis zu einem gewissen Grad seine Reverenz erweisen müssen, ließ er das frühere Vorbild nun ebenso hinter sich wie die Gebote der konservativen Instrumentalmusik – schließlich mochte er sich seine musikalische Erfindung genauso wenig von der in der Wiener Klassik entwickelten und von Brahms noch weiter getriebenen Durchführungstechnik mit ihrer motivisch-thematischen Arbeit einschränken lassen. Mit Bedacht nannte der Komponist sein «La Mer» im Untertitel «trois esquisses symphoniques», also «drei symphonische Skizzen»: Skizzen, weil in dieser Musik die formalen Kriterien ebenso wie die inhaltlichen Prinzipien althergebrachter Orchestersprache suspendiert sind; symphonisch, weil sich die Themen dieses großangelegten Werkes doch entwickeln, in den Ecksätzen am Ende gar zu hymnischer Apotheose sich bündeln. Aber ebenso wenig, wie man «La Mer» im technischen Sinn eine für Debussy überkommene traditionelle Durchführungstechnik ablauschen kann, erschöpft sich das Werk klanglich in konkret deskriptiver, sozusagen naturalistischer Tonmalerei: Höchst selten, am ehesten noch im scherzoartigen Mittelsatz, in dem man etwa sich kräuselnde Gischt vernehmen mag, ließen sich konkrete programm-musikalische Ausdeutungen dingfest machen. Das reale Meer platterdings abzubilden, war jedoch gar nicht Debussys Absicht, selbst wenn dieses ihn zeitlebens gefesselt hatte. Seinem Freund André Messager, der 1902 die Uraufführung des «Pelléas» dirigiert hatte, vertraute er im September des darauffolgenden Jahres brieflich an: «Sie wissen vielleicht nicht, dass ich für die schöne Laufbahn eines Seemanns bestimmt war und nur die Zufälle des Lebens mich davon abgebracht haben. Trotzdem habe ich [dem Meer] eine wahre Leidenschaft bewahrt.» Eine Leidenschaft freilich, die keine örtliche Nähe brauchte, um inspirierend zu wirken: Ausgerechnet auf dem Land begann er die Komposition, «in der dörflichen Abgeschiedenheit Burgunds im Sommer 1903, den er mit seiner Frau in Bichain (Département Yonne), dem Sommersitz seiner Schwiegereltern, verbrachte» (Peter Jost). Und im erwähnten Brief an Messager gibt Debussy nicht nur die erste Fassung der Satztitel preis, sondern betont auch gewissermaßen die Autonomie seiner inneren Vorstellungen und ihre Dominanz über jede bloße Deskription: «Ich arbeite an drei symphonischen Skizzen mit den Überschriften: 1. Mer belle aux îles sanguinaires [Ruhige See vor den Îles Sanguinaires]. 2. Jeu de vagues [Spiel der Wellen]. 3. Le vent fait danser la mer [Der Wind lässt das Meer tanzen] unter dem Gesamttitel La Mer. […] Nun werden Sie sagen, dass die Weinberge Burgunds nicht gerade vom Ozean umspült werden! Und dass das Ganze wohl den im Atelier gemalten Landschaften gleichen könnte! Aber ich habe unzählige Erinnerungen; das ist meiner Meinung nach besser als eine Realität, deren Charme im Allgemeinen die Gedanken zu sehr belastet.»

Stattdessen gelang ihm in diesem Werk mit den musikalischen Äquivalenten von Farbwert und Pinselstrich eine tönende Repräsentation des Meeres – in «geheimnisvoller Übereinstimmung von Natur und Imagination», wie der Komponist den Sachverhalt selbst formuliert hat. Diesen Unterschied zu begreifen und «La Mer» eben nicht daran zu messen, wie deutlich es seinen Titel als vermeintliche Programmmusik einlösen könne, war freilich viel verlangt vom Publikum der nicht sonderlich erfolgreichen Uraufführung, die am 15. Oktober 1905 in Paris mit dem Orchestre Lamoureux unter Camille Chevillard stattfand. (Abgesehen von einer ungünstigen Probensituation war noch dazu die öffentliche Meinung gegen Debussy eingestellt, weil er sich kurz zuvor zugunsten der Bankiersgattin und Sängerin Emma Bardac von seiner Frau getrennt hatte; während eines kurzen Urlaubes des neuen Paares Ende Juli 1905 in Eastbourne an der englischen Kanalküste, knapp nach Emmas Scheidung, war «La Mer» vollendet worden.)

Es bedurfte eines feinfühligen Kollegen wie Paul Dukas, ein zentrales Charakteristikum des Werkes zu benennen, das längst zu den beliebtesten Kompositionen Debussys und des 20. Jahrhunderts überhaupt zählt: Hier wird nicht etwa eine Geschichte erzählt, sondern eine sozusagen nüchtern-naturwissenschaftliche, «anonyme» Bestandsaufnahme der Elemente vollzogen, die «alles Anthropomorphe, alle Beziehung zu einem Sujet ausschließt». Anders als in unzähligen See- und Sturmmusiken vor und nach «La Mer» bleibt also der Mensch hier als bedrohtes oder die Gefahren doch meisterndes Subjekt konsequent ausgespart: Nicht die Auswirkungen des Meeres auf uns stehen im Zentrum, sondern dessen gleichsam objektive Charakteristik.

Der erste Satz von «La Mer», «Von der Morgendämmerung bis zum Mittag auf dem Meer», beginnt «sozusagen als die Geburt der Musik aus dem Geiste des Klangs, genauer: ihrer einzelnen, nacheinander eintretenden Elemente und Dimensionen (Einzelton, Klangfarbe, Taktart, Motiv, Tonalität, Thema, Entwicklung, Form), und das alles ohne ‚symphonische‘ Kompositionstechnik. Die Apotheose, die als ‚springender Punkt‘ in der Coda eintritt, ist eine der Musik selber» (Dietmar Holland). Nach den leicht und locker gefügten, giocosen Elementen des Mittelsatzes, «Spiel der Wellen», schlägt der letzte, «Zwiegespräch von Wind und Meer», dramatisch-ernste Töne an: Der Dialog zwischen chromatischen Wind-Themen und aus dem ersten Satz übernommenen, diatonischen Meeres-Themen gipfelt in einer grandiosen, geradezu mystisch wirkenden Vereinigung der beiden Sphären.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Walter Weidringer