Archiv: Schostakowitsch 5

Wien Musikverein Großer Saal Musikverein | Großer Saal

Interpreten

  • Sayaka Shoji, Violine
  • Yutaka Sado, Dirigent

Programm

Im Sommer 1959, mitten während des Kalten Krieges, absolvierte das New York Phiharmonic unter Leonard Bernstein eine Tournee durch die Länder des Ostblocks – und spielte in der Sowjetunion auch Dmitri Schostakowitschs fünfte Symphonie in Anwesenheit des Komponisten. Sie endet mit einem vermeintlich strahlenden, ja bombastischen Sieg. Doch ist dieser nur die Fassade, die Schostakowitsch für das Regime aufrechterhielt. Hinter ihr treten Qualen und Verzweiflung eines geknechteten Volkes zutage. Das hörbar zu machen, zählt zu den wichtigsten Aufgaben der Interpreten. Yutaka Sado erarbeitet das Werk mit den Tonkünstlern und stellt ihm Bernsteins eigene Musik zur Seite: Momente der Zärtlichkeit und der eiskalten Brutalität prallen in «On the Waterfront» aufeinander – in den sechs Sätzen der Orchestersuite ebenso wie im gleichnamigen Film, zu dem Bernstein seinen einzigen Soundtrack schrieb. Philosophisch wird es in seiner «Serenade»: Im Grunde ein Violinkonzert, verarbeitet die Komposition auf beredt-fesselnde Weise die Gespräche über die Liebe aus Platons meisterhafter Dichtung «Symposion».

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Leonard Bernstein

«On the Waterfront» Symphonische Suite für Orchester

Dauer

22 Min.

Entstehung

1955

1954 komponierte Leonard Bernstein die Filmmusik zu «On the Waterfront», zu Deutsch «Die Faust im Nacken». Isaac Stern spielte die Uraufführung von «Serenade» in Venedig, und der einzigartige Musikvermittler Bernstein gestaltete die erste Fernsehsendung in der Reihe «Omnibus». Bernstein lehnte das Angebot des Produzenten Sam Spiegel, eine Filmmusik zu komponieren, zuerst ab. Mit Regisseur Elia Kazan, der im Kongressausschuss zu den «antiamerikanischen Umtrieben» Kollegen denunziert hatte, wollte er eigentlich nicht arbeiten. Doch die Vorführung eines Rohschnittes und insbesondere die Darstellung Marlon Brandos beeindruckten Bernstein.

Die Komposition beschäftigte ihn vier Monate lang, wobei ihn die ursprünglich mit Skepsis übernommene Aufgabe sofort überwältigte: «Ich konnte die Musik schon förmlich hören: Das gab den Ausschlag. Und die Atmosphäre der Professionalität, die dieser Film ausstrahlte, war genau die Atmosphäre, in der ich am liebsten arbeite [...] Tag für Tag saß ich an einem Schneidetisch, spulte die Filmrolle vor und zurück, maß die Länge der Sequenz, die ich für die Musik ausgesucht hatte, in Metern, rechnete die Meter mit mathematischen Gleichungen in Sekunden um und fertigte provisorische Mischpläne an.» Die Aufnahme des Soundtracks dirigierte aus vertraglichen Gründen André Previn, jedoch war Bernstein bei den Aufnahmen dabei und steuerte den Jazzpianopart im Hintergrund der Barszene bei. Es gefiel dem «New Yorker» in Hollywood aus genau jenem Grund, aus dem viele flüchteten, «nämlich weil es hier nichts zu sehen gibt, außer Menschen». Bei der Oscar-Verleihung 1954 hatte Bernstein das Nachsehen gegenüber Dimitri Tiomkin für «The High and the Mighty»; und es sollte auch seine letzte Arbeit für den Film werden. Für jede Szene, die zwischen 30 Sekunden und zweieinhalb Minuten variierte, kreierte Bernstein mit nur wenigen Takten eine eigene Atmosphäre. Besonders eindringlich und gewissermaßen zitierend verfestigt sich ein Violinmotiv, das an Benjamin Brittens «Peter Grimes» erinnert - eingebettet in die trostlose Einöde einer riesigen Reifendeponie.

Die symphonische Anlage der gesamten Filmmusik kommt in der 1955 entstandenen Orchester-Suite besonders zum Tragen. Der einstige Bernstein-Assistent und Dirigent des heutigen Konzertabends, Yutaka Sado, hält das musikalische Material der Filmmusik für ein Schlüsselwerk Bernsteins, daran erkennbar, dass scheinbar Einfaches unglaublich raffiniert gemacht ist - ähnlich seinem Schluss aus den Harvard-Vorlesungen «Musik - die offene Frage»: «Und schließlich und weil all dies wahr ist, glaube ich, dass es auf Ives' eine Antwort gibt. Ich weiß zwar nicht mehr genau, welche Frage er stellt, aber ich weiß: Die Antwort ist .»

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Ursula Magnes

Leonard Bernstein

Serenade für Solovioline, Harfe, Schlagwerk und Streichorchester

Sätze

  • Phaedrus - Pausanias

  • Aristophanes

  • Eryximachus

  • Agathon

  • Sokrates - Alkibiades

Dauer

30 Min.

Entstehung

1954

«Als nun so ihre ursprüngliche Gestalt in zwei Teile gespalten war, ward jede Hälfte von Sehnsucht zur Vereinigung mit der anderen getrieben: Sie schlangen die Arme umeinander und schmiegten sich zusammen, voll Begierde, zusammenzuwachsen.»Platon Aus: Symposion (Gastmahl), 380 v. Chr.

1954, im Jahr der Entstehung seiner Serenade für Solovioline, Harfe, Schlagwerk und Streichorchester, meinte Leonard Bernstein: «Ich bin ein Komponist ernster Musik, der versucht, Songs zu schreiben. Ich hatte eine Symphonie komponiert, bevor ich je einen Schlager schrieb.» Er war der legitime Nachfolger George Gershwins, wie dieser zog auch Bernstein nie eine Grenze zwischen der so genannten E- und U-Musik, vermischte in seinen Werken perfekt europäische und amerikanische Einflüsse. Heute würde man dies als «Crossover» bezeichnen.

Leonard Bernstein stammte aus einer russisch-jüdischen Familie, die sich in Massachusetts niedergelassen hatte. Er studierte Komposition und Klavier, 1943 gelang ihm der Durchbruch als Dirigent, als er als Einspringer für Bruno Walter einen sensationellen Erfolg feierte. Auch als Pianist hatte er große Erfolge – ein Universalmusiker.

Die Uraufführung der Serenade fand am 12. September 1954 im Teatro La Fenice in Venedig statt, der Solist war Isaac Stern. Im Gegensatz zum Violinkonzert der Klassik und der Romantik, in dem das Hauptthema vom Orchester vorgestellt wird, bevor der Solist ins Spiel kommt, lässt Bernstein die Solovioline in seiner Serenade in den ersten vier Sätzen die Rolle des «führenden Sprechers» übernehmen. Nur der fünfte Satz beginnt mit einer orchestralen Einleitung. Bernstein verfasste selbst eine Einführung zu dem Werk, in der er betont, dass der Serenade «kein literarisches Programm» zugrunde liegt, «obwohl sie entstanden ist, nachdem ich Platons charmanten Dialog wieder einmal gelesen hatte. Die Musik stellt wie der Dialog eine Reihe miteinander verwandter Aussagen zum Preise der Liebe dar und folgt der von Platon gewählten Form des Auftretens nacheinander sprechender Figuren der griechischen Intelligenz.» Über die musikalische Form meint der Komponist, dass «die Verwandtschaft der Sätze untereinander nicht auf thematisches Material im gewöhnlichen Sinn gegründet ist, sondern auf ein System, in dem jeder Satz aus Elementen des vorigen entwickelt wird.»

Bernstein bietet dem interessierten Zuhörer «Wegweiser», die durch Hinweise auf Personen und Handlung ergänzt werden. In Platons Werk werden sieben Reden über den Eros gehalten, eine davon von Sokrates, der seine Begegnung mit der Priesterin Diotima schildert und ihre Liebeslehre rekapituliert. Es ist die Lehre von der Erinnerung an das Schöne, dem der Liebende mystisch verfällt.

1. Satz: Phaidros (oder Phaedrus) und Pausanias. Phaidros, in Platons Gastmahl ein «hypochondrischer Literat», beginnt die Gespräche im Hause des Agathon, von Platon als «tragischer Poet» bezeichnet, der mit seinen Kollegen und Freunden seinen Sieg in einem Tragödienwettbewerb feiern will. Phaidros eröffnet das Fest mit einer Hymne an Eros, den Gott der Liebe. In der Musik wird dies durch ein Fugato der Solovioline wiedergegeben. Darauf preist Pausanias die Liebe zwischen Männern als die ideale Liebe: Bernstein meint dazu, die «Dualität von Liebhaber und Geliebtem ist im Rahmen eines klassischen Allegro-Sonatensatzes ausgedrückt, der aus Material des eröffneten Fugatos entwickelt wird.» 2. Satz: Aristophanes. Der Komödiendichter spricht als nächster: Er spielt in diesem Stück «nicht die Rolle des Spaßmachers, sondern die eines Geschichtenerzählers vor dem Schlafengehen, der von einer legendären mythologischen Entstehung der Liebe spricht.» Eine musikalische Floskel des ersten Satzes wird zur Zelle des neuen Hauptthemas, das als spritziges Allegretto den heiteren Charakter des Aristophanes darstellt. 3. Satz: Eryximachos. Bernstein meint über den Arzt Eryximachos: «Der Doktor spricht von körperlicher Harmonie als wissenschaftlichem Modell für die Formen der Liebe. Dies ist ein äußerst kurzes Fugato-Scherzo, aus einer Vermischung von Mysterium und Humor heraus geboren.» Dieser Presto-Satz ist von Gegensätzen geprägt: Fortissimo und Pianissimo, Virtuosität und Spielerei.

4. Satz: Agathon. Im Beitrag des Gastgebers Agathon sieht Bernstein «den vielleicht bewegendsten Vortrag im Dialog. Agathons Lobpreisung bezieht alle Aspekte der Macht, der Reize und der Funktionen der Liebe ein. Der Satz ist in einfacher dreiteiliger Liedform geschrieben». Motivisches und thematisches Material der vorangegangen Sätze kehrt wieder.

5. Satz: Sokrates und Alkibiades. Letzterer ist Staatsmann und Schüler von Sokrates. Zu diesem Finalsatz schreibt Bernstein: «Sokrates beschreibt seinen Besuch bei der Seherin Diotima und zitiert ihre Rede zur Lehre von der dämonischen Liebe. Dies nimmt die Form einer langsamen Einleitung an, die von größerem Gewicht ist als irgend einer der vorangegangenen Sätze. Sie dient als weiterentwickelte Reprise des Mittelteils des Agathon-Satzes und erinnert dabei an eine Art von Sonatenform. Die berühmte Unterbrechung des Gastmahles durch Alkibiades und seine betrunkenen Zechgenossen leitet den abschließenden Rondo-Satz ein, in dessen Geist die Musik von Aufruhr über Gigue-artige Tanzrhythmen zu fröhlicher Feststimmung führt. Wenn in diesem Fest eine Andeutung von Jazz enthalten ist, so wird das hoffentlich nicht als anachronistische griechische Party-Music verstanden werden, sondern als die natürliche Ausdrucksweise eines zeitgenössischen amerikanischen Komponisten, der vom Geist jener zeitlosen Abendgesellschaft erfüllt ist.»

© Marie-Theres Arnbom | NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H.

Dmitri Schostakowitsch

Symphonie Nr. 5 d-Moll op. 47

Sätze

  • Moderato

  • Allegretto

  • Largo - Largamente

  • Allegro non troppo - Allegro - Più mosso - Poco animato

Dauer

45 Min.

Entstehung

1937

Dmitri Schostakowitschs Symphonie Nr. 5 d-moll op. 47 entstand in einer Zeit und in einem Land, als Komponieren tatsächlich eine Angelegenheit auf Leben und Tod war. Schostakowitsch brachte die Hälfte seines schöpferischen Lebens während der Regentschaft Stalins zu. Das Drama der Künstler in der Sowjetunion bestand damals darin, dass Stalin ein persönliches Interesse an der Kunst hegte. Er las viel Literatur, er hörte gerne klassische Musik, vor allem von Tschaikowski und Rimski-Korsakow, er schaute sich gerne Filme an und er beobachtete kritisch die Bildende Kunst. Kunst diente zur Zeit Stalins in extremem Maße als Werkzeug der Politik. Schostakowitsch schaffte just in jener Zeit den Durchbruch als Komponist und Künstler, in der Stalin sein diktatorisches Regime aufbaute, und als alles im Staate den ideologischen Richtlinien untergeordnet wurde. Der 30jährige Schostakowitsch erlebte landesweite und auch schon internationale Erfolge seiner Musik. Seine Oper «Lady Macbeth von Mzensk» wurde sowohl in Leningrad als auch in Moskau an den beiden großen Opernbühnen erfolgreich gespielt. Auch die offiziellen Medien erkannten Schostakowitschs Werk als großartigste russische Oper seit «Boris Godunow» an. Seine ersten Symphonien wurden begeistert akklamiert, und am Bolschoitheater befand sich außerdem seine volkstümliche Ballettkomödie «Der helle Bach» im Repertoire, die so wie seine Oper stets vor vollem Hause gezeigt wurde.

«Lady Macbeth von Mzensk» befand sich bereits fast zwei Jahre auf den Spielplänen, als Anfang des Jahres 1936 auch Stalin persönlich eine Aufführung besuchte. Sein wichtigstes kulturpolitisches Anliegen war es damals, für die vielen im Rahmen des Industrialisierungsprogramms vom Land in die Städte ziehenden Bauern ein verständliches Kunstleben bereit zu halten, das von «Einfachheit und Volkstümlichkeit» geprägt war. In diesen Slogan ließ sich aber Schostakowitschs Oper nicht einordnen, die das tragische Schicksal einer vom Patriarchat gedemütigten Frau zeigt, die mithilfe ihres Liebhabers ihren despotischen Mann beseitigt und schließlich in ein Straflager nach Sibirien verbannt wird. Sowohl die erotische Komponente als auch sozialkritische Elemente wurden von Schostakowitsch mit einer unverblümten Energie und mit drastischen Mitteln auskomponiert. Satirischer Schwung ist ebenso enthalten in dieser Musik wie schmerzensvolle, ergreifende Kantilenen.

«Chaos statt Musik»Stalin war offenbar entsetzt von der Oper – und nur zwei Tage nach seinem Opernbesuch erschien in der «Prawda», der landesweit wichtigsten Zeitung, eine Aburteilung des Werkes und seines Komponisten unter dem Titel «Chaos statt Musik». Der Artikel erschien ohne Nennung eines Autors, ein untrüglicher Hinweis, dass er auf höchste Order Stalins verfasst wurde und dessen Meinung transportiert. Die Kritik hat eine eindeutige Richtung: «Von der ersten Minute an verblüfft den Hörer in dieser Oper die betont disharmonische, chaotische Flut von Tönen. Bruchstücke, Keime einer musikalischen Phrase versinken, reißen sich los und tauchen erneut unter im Gepolter, Geprassel und Gekreisch. Dieser Musik zu folgen ist schwer, sie sich einzuprägen, unmöglich. Sie ächzt und stöhnt, keucht und gerät außer Atem, um die Liebesszenen so naturalistisch wie möglich darzustellen. Die Fähigkeit guter Musik, die Massen mitzureißen, wird kleinbürgerlichen formalistischen Anstrengungen und Verkrampfungen geopfert. Diese absichtlich verdrehte Musik ist so beschaffen, dass in ihr nichts mehr an die klassische Opernmusik erinnert und sie mit symphonischen Klängen, mit der einfachen, allgemeinverständlichen Sprache der Musik nichts mehr gemein hat. Das ist linksradikale Zügellosigkeit anstelle einer natürlichen, menschlichen Musik. Die Gefahr einer solchen Richtung in der Sowjetmusik liegt klar auf der Hand. Linksradikale Abnormitäten in der Oper haben den gleichen Ursprung wie die linksradikale Entartung in der Malerei, der Dichtung, der Pädagogik und der Wissenschaft.» Besonders auffällig in diesem Artikel ist der Vorwurf des Formalismus und Naturalismus. Das sind jene zwei vernichtenden Wörter, mit der damals in der Sowjetunion von offizieller Seite jede unliebsame Kunst in Misskredit gebracht wurde.

Schostakowitsch bekam diesen Artikel bei einem Gastspiel in Archangelsk zu lesen. Und er wusste sofort, was der Text bedeutete: Er war als Volksfeind abgestempelt. Nur wenige Tage später wurde Schostakowitsch erneut zur Zielscheibe einer massiven Kritik an seiner Musik in der Prawda. Unter dem Titel «Heuchelei als Ballett» wurde auch das im Bolschoi aufgeführte Ballett «Der helle Bach» vernichtend besprochen. Eine Woche später fasste die Prawda ihre Kritik an Schostakowitsch und seinen beiden Werken noch einmal in einem Artikel zum Thema «Eine klare und einfache Sprache in der Kunst» zusammen: «Beide Werke sind gleichweit von der klaren, einfachen und wahren Sprache entfernt, welcher sich die sowjetische Kunst befleißigen muss. Beide Werke behandeln die Volkskunst mit Geringschätzung.»

Bereits einige Tage vor diesem dritten Artikel wurde der Komponist vom Vorsitzenden des Komitees für Kunstangelegenheiten, Platon Kerschenzew, zu ei-nem Gespräch geladen. Kerschenzew hatte dem Künstler mitzuteilen, was Stalin von ihm verlangte. Schostakowitsch bekam in diesem Gespräch, von dem ein Protokoll existiert, zu hören, dass er in Hinkunft, bevor er eine Oper oder ein Ballett komponiere, das Libretto vorlegen müsse und dass einzelne Teile des Werkes vor einem Publikum aus Arbeitern und Bauern erprobt werde. Des Weiteren sollte Schostakowitsch in die Dörfer der Sowjetunion reisen, die Volkslieder aufzeichnen und die besten von ihnen in Bearbeitungen herausgeben. Schließlich wurde Schostakowitsch gefragt, ob er die in den Prawda-Artikeln geäußerte Kritik annehme. Angeblich hat er damals geantwortet, er würde die Kritik in der Prawda akzeptieren, aber nicht alles verstehen. Er hat sich also irgendwo gefügt.

Man muss sich die Situation vergegenwärtigen. Schostakowitsch befand sich in einem Ausnahmezustand. Rund um ihn wurden Künstler, Verwandte und Freunde als Staatsfeinde und Spione deportiert, viele von ihnen hingerichtet. Seine Frau Nina war im sechsten Monat schwanger. Er hatte Angst um sein und seiner Angehörigen Leben.Zwischen Schlager-Musik und Avantgarde Schostakowitsch blieb von Stalins Säuberungswelle und Vernichtungsmaschinerie verschont. Was den Ausschlag dafür gab, kann man nur vermuten. Stalin wusste um die außergewöhnliche Begabung des jungen Komponisten, den man zu Propagandazwecken gut gebrauchen konnte (was dann Jahre später während des Krieges gegen Nazi-Deutschland auch geschah). Schostakowitsch hatte den Diktator offenbar vor allem mit seinen Filmmusiken, die er nicht zuletzt zu einigen offiziell abgesegneten und anerkannten Filmen verfasst hatte, überzeugt. Bei einer Filmvorführung wenige Tage nach Erscheinen des Prawda-Artikels «Chaos statt Musik» wurde Stalin laut dem Protokoll eines Mitarbeiters darauf hingewiesen, dass Schostakowitsch auch der Komponist des Liedes «Dem kühlen Morgen entgegen» in dem Film «Der Gegenplan» sei. Dieses Lied war damals ein echter Schlager in der Sowjetunion, den jeder auf der Straße pfeifen konnte – und den auch Stalin selbst gern hatte.

In seinem Komponierzimmer war Schostakowitsch damals allerdings nicht mit einem weiteren Schlagerlied beschäftigt, sondern mit dem Revolutionärsten, Kühnsten und Modernsten, was man sich nur denken kann: der vierten Symphonie. Eine gigantische, tragische dreisätzige Symphonie, die an die Grenzen der Tonalität stößt und eine eindeutige Botschaft in sich trägt: Auflehnung gegen diktatorische Unterdrückung. Sie in dieser kritischen Phase zu veröffentlichen und uraufführen zu lassen, wäre wohl einem Todesurteil gleichgekommen. Nach einer ersten, chaotisch verlaufenden Durchspielprobe zog Schostakowitsch die Symphonie zurück; sie wurde erst drei Jahrzehnte später, Anfang der Sechzigerjahre, uraufgeführt.

Im Frühjahr 1937 arbeitete er während eines Komponieraufenthaltes auf der Insel Krim aber bereits an seiner nächsten Symphonie, der fünften. Er wusste: Er durfte die politische Führung nicht mehr reizen, man erwartete von ihm eine verständliche Musik mit einer eindeutigen Botschaft: Durch die Kämpfe des Lebens zum Sieg!Verriet er mit der neuen, der fünften Symphonie seine künstlerischen Ideale, stellte er seine kompositorischen Ansprüche hintan und verfasste eine eingängige Musik im Propagandastil der Zeit?

Keineswegs. Er hat sich in der Fünften nur für eine relativ überschaubare Konzeption entschieden, mit vier Sätzen im klassischen Sinn und klar fassbaren Themen, und sich gegenüber den vorangegangenen Werken in den harmonischen Ausreizungen zurückgehalten. Die sowjetischen Kritiker reagierten nach Wunsch auf dieses Konzept und schilderten die Dramaturgie des Werkes nach den ersten Aufführungen in Leningrad und Moskau mit einem übereinstimmenden Programm:

Erster Satz: Heroische Tragödie. Zweiter Satz: Scherzo: Ausdruck gesunder Lebensfreude. Dritter Satz: Meditation. Vierter Satz: Erringen des Sieges.Der sowjetische Dichter Alexej Tolstoi, der für sein Naheverhältnis zu Stalin bekannt war, begrüßte die neue Symphonie als «ein Beispiel der realistischen Kunst unserer Ära. Ruhm unserer Ära, dass sie solche Majestät der Klänge und Gedanken mit beiden Händen über die Welt ausschüttet. Ruhm unserem Volk, das solche Künstler hervorbringt.»

Offizielle Lesart und Verborgene Botschaften Schostakowitsch selbst hatte diese offizielle Deutung publizistisch unterstützt, indem er vor der Moskauer Erstaufführung in der Zeitung der Parteileitung, «Wetschernaja Moskwa», einen Artikel veröffentlichte, in dem er die fünfte Symphonie als die «schöpferische Antwort eines sowjetischen Künstlers auf gerechte Kritik» bezeichnete. Und weiter schrieb er: «Thema meiner Symphonie ist das Werden der Persönlichkeit. Gerade den Menschen mit seinem ganzen Erleben sehe ich im Mittelpunkt der Idee dieses Werkes, das seinem Charakter nach vom Anfang bis zum Schluss lyrisch ist.»

Er kommt in diesem Artikel aber auch auf das damals als Kunstform vieldiskutierte Genre der «sowjetischen Tragödie» zu sprechen. Sie habe, so Schostakowitsch, «jedes Recht, zu existieren». Mit einer solchen Aussage konnte auch die politische Führung leben, denn Stalin selbst anerkannte angesichts von einigen seiner Lieblingsfilme wie etwa Sergej Eisensteins «Panzerkreuzer Potemkin» den Begriff der «sowjetischen Tragödie». Für Kunstwerke und Inhalte dieser Art wurde sogar der paradoxe Begriff der «optimistischen Tragödie» geprägt. Damit waren dramatische Stoffe gemeint, in denen Revolutionäre, also Helden der Sowjetunion, tragische Schicksale erleiden, im Kampf für die revolutionäre Idee sterben. Ihr Opfertod wurde als Happy End umgedeutet.

In diesem ideologischen Vakuum konnte Schostakowitsch einen doch ziemlich großen gestalterischen Bogen in seiner Musik spannen. So ist auch seine fünfte Symphonie von starkem expressivem Gehalt und tiefer und tragischer musikalischer Durchdringung geprägt. All das hat Schostakowitsch allein durch seine Musik ausgedrückt und in keiner publizistischen Begleit-Stellungnahme kommentiert. Er konnte sich auch sicher sein, dass die Menschen, die in jener Zeit aus Selbstschutz zur offiziellen Politik schwiegen, die wahren Hintergründe seiner Musik wahrnehmen würden. Der Komponistenkollege Wladimir Schtscherbatschew etwa notierte in privaten Aufzeichnungen, dass die fünfte Symphonie von Schostakowitsch «auf schmerzliche Weise erbittert» sei. Von dem Schriftsteller Alexander Fadejew ist eine Äußerung über das Finale dokumentiert: «Das Ende klingt nicht wie ein Kehraus (und ganz sicher nicht wie ein Triumph oder Sieg), sondern wie eine Strafe oder Rache an jemandem.»

Das Werk enthält einige verborgene und doppeldeutige Botschaften. Ein Beispiel dafür findet sich bereits im ersten Satz. So mündet das dritte Thema in einer aus der Begleitung gewonnenen Flöten-Floskel, die zunächst ganz verspielt und friedlich klingt. Doch im Durchführungsteil des Satzes münzt Schostakowitsch ausgerechnet diese Floskel in eine militante, vom Klavier angestimmte und von der Blech-Schlagwerk-Batterie gestützte Figur um, über der sich dann die Musik in martialischer Wucht ausbreitet. So als wollte der Komponist mit diesen motivischen Umwandlungen sagen: Traue einem friedlich geäußerten Wort nicht, es kann sich sehr schnell in einen Befehl verwandeln. In diesem Befehl, diesen abstoßend-aggressiven Einsätzen der Blechbläser und des Schlagwerks, erkennen wir heute ein musikalisches Thema wieder, das die Hörer der ersten Aufführungen noch nicht kennen konnten: Schostakowitsch hat hier das Triothema aus seiner damals zurückgezogenen vierten Symphonie wieder aufgegriffen. Damit klingt die Verzweiflung über den ungleichen Kampf der Menschen gegen das Totalitäre auch in dieser fünften Symphonie deutlich wieder an.

Im zweiten Satz, dem Scherzo, hören wir Österreicher sofort eine Verwandtschaft zu den Scherzo-Sätzen Gustav Mahlers heraus. Tatsächlich hatte sich Schostakowitsch in jenen Jahren zusammen mit einem Freund, dem Musikwissenschaftler Iwan Sollertinski, intensiv mit der Symphonik Mahlers auseinandergesetzt. Schostakowitschs volkstümlich polternder Ländler, der oft ins Verzerrte und Fratzenhafte umschlägt, erinnert sehr stark an vergleichbare Sätze und Gestaltungsweisen Mahlers, wenngleich der Slawe Schostakowitsch das tänzerische Element im Tonfall und in der Instrumentierung «russisch» färbte. Auch hier sandte Schostakowitsch eine eindeutige Botschaft an seine Mitmenschen in der Sowjetunion aus. Wenn der tänzerische Dreivierteltakt immer wieder in einen unerbittlichen Marschton umkippt, so wird damit zum Ausdruck gebracht, dass sofort eine kontrollierende Macht einschreitet, sobald eine unterhaltsame Stimmung aufkommt.

Der dritte Satz, ein Largo, ist persönliche Bekenntnismusik. Hier  legt Schostakowitsch seinen Gemütszustand offen. Die Agitatoren der vorangegangenen Sätze, Blechbläser und Schlagwerk, schweigen in diesem Satz. Melodien der Violinen und einzelner Holzblasinstrumente ziehen einsame Kreise über einem kargen Klangboden der Begleitung. Ein Streicherchor führt zu einem erschütternden Ausbruch. Verzweiflung spricht aus diesen vom Xylophon unterstützten Aufschreien. Thematische Verwandtschaften zum ersten Satz und zur «offiziellen» Darstellung der Maifeiern in der dritten Symphonie sind wohl kein Zufall. Hier reflektiert Schostakowitsch – also eine Person des öffentlichen Lebens, mit der sich sogar das Staatsoberhaupt befasst – den Zwiespalt zwischen eigener Meinung und verordneter Ideologie. Die dritte Symphonie war in einer Zeit entstanden, in der unter den Künstlern noch eine gewisse Euphorie über den politischen Aufbruch in der jungen Sowjetunion herrschte. Ein paar Jahre später war Schostakowitsch bereits desillusioniert und schrieb diesen tief tragischen, traurigen, persönlichen Satz.

Als Schostakowitsch im August 1975 starb, weilte Leonard Bernstein bei den Salzburger Festspielen und probte mit dem London Symphony Orchestra. Am Abend des Konzerts führten Bernstein und das Orchester in Gedächtnis an Schostakowitsch das Largo aus der fünften Symphonie auf, das in dieser Situation seine Züge eines Requiems offenbarte. Schostakowitsch gedachte wohl mit dieser Musik den vielen Freunden, die Opfer des Stalin-Regimes wurden.

Nach dieser Trauermusik bricht in der Symphonie das Finale los, das nach der offiziellen Lesart den Durchbruch zum Licht und den Sieg bringt (welchen Sieg auch immer). Doch aus einer anderen Komposition, die Schostakowitsch einige Jahre später schuf, kann man ableiten, was es mit diesem Finalsatz der fünften Symphonie wirklich auf sich hat. 1942, während des Weltkriegs, als Schostakowitsch mit seiner Familie aus der von den Deutschen belagerten Stadt Leningrad nach Kujbyschew weitab vom Kriegsgeschehen evakuiert wurde, beschäftigte er sich dort neben der Fertigstellung seiner siebten Symphonie mit englischen Dichtungen, etwa von dem Schiller-Zeit-genossen Robert Burns, von dem er unter anderem das Gedicht «MacPhersons Abschied» vertonte und in seinen Liederzyklus op. 62 einfließen ließ. In diesem Gedicht wird geschildert, wie der schottische Freibeuter MacPherson seiner Hinrichtung entgegengeht:

«So furchtlos, so trotzig, schritt er dem Galgen entgegen.» Unter  dem Galgen hat MacPherson angeblich noch ein selbstverfasstes Abschiedslied vorgetragen und dann seine Fiedel über dem Knie zerbrochen. Eine makabre Analogie: Der Schwanengesang vor der Hinrichtung. Schostakowitsch widmete MacPherson ein von persönlicher Betroffenheit gezeichnetes, makabres Scherzo. Die Hauptmelodie dieses Liedes ähnelt sehr stark dem Hauptthema des Finales der fünften Symphonie. In dem vermeintlich festlichen Finalmarsch marschieren also offenbar auch verurteilte Freigeister zum Richtplatz.

Unter diesem Gesichtspunkt klingt die triumphierende Trompetenmelodie des Finales, von Jubelgesten der Violinen und anderen Blechbläsern unterstützt, schaurig. Man kann das auch so deuten: Hier applaudieren Ahnungslose der Massenvernichtungsmaschi-nerie, die ein Diktator in Gang gesetzt hat.

Eigentlich zwangsläufig mündet dieser erste Teil des Finales in einen Zusammenbruch und im martialischen Rhythmus aus dem  ersten Satz. Das Finale versinkt daraufhin in einen ruhigen Mittelteil, zieht sich schockstarr zurück. Das Horn spielt das zuvor triumphal von der Trompete geblasene Thema wie einen Bittgesang. Mit Harfenklängen geht diese stille Episode zu Ende. Dann erklingt die Trommel. Vorwärts zum Sieg, zur Apotheose!

Aber man spürt es ganz deutlich: Das ist verordnet. Ein Befehl zum Jubel. Die Schritte des nun einsetzenden Marsches klingen schleppend und erzwungen. Mechanisch wird dann eine hymnische Motivfloskel an die andere gereiht. Man muss unwillkürlich an die Eröffnungsszene aus Modest Mussorgskis Oper «Boris Godunow» denken, wenn das Volk zum Bittgebet und zum Bejubeln der Herrschenden gezwungen wird. Das ist die russische Tragödie, wie sie auch schon aus so manchen symphonischen Sätzen Tschaikowskis herauszuhören ist: Der triumphierende Marsch im dritten Satz der «Symphonie Pathétique» stürzt plötzlich über vier Oktaven abwärts ins Bodenlose; und das Volksfest im Finale der vierten Symphonie dreht sich immer schneller und schneller bis zur blinden Ohnmacht. Im Finale von Schostakowitschs fünfter Symphonie wird es eine symphonische Fahrt durch ein Potemkinsches Dorf. Der Glanz ist nur eine dünne Fassade, dahinter tun sich Abgründe auf. – Wie mit Schlägen von Galeerentrommeln wird die Musik in einem hohlen Triumphzug vorangepeitscht. In diesem vermeintlichen Jubel erklingt die Tragödie.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Rainer Lepuschitz