Archiv: Tschaikowski 5

Wien Musikverein Großer Saal Musikverein | Großer Saal

Interpreten

  • Daishin Kashimoto, Violine
  • Yutaka Sado, Dirigent

Programm

Die Tonkünstler spielen Schicksal! Ob das aufwühlende Finale der fünften Symphonie von Tschaikowski tatsächlich heroisch gemeint war oder sich mit falschem Jubel selbst in Frage stellt? Chefdirigent Yutaka Sado und das Tonkünstler-Orchester werden mit ihrer Interpretation der «Fünften», oft auch als Schicksals-Symphonie bezeichnet, ihre eigene Sichtweise zum Klingen bringen. Fest steht, dass der Komponist – nicht zuletzt anhand des Schicksalsmotivs im ersten Satz – das Ringen mit seiner Biografie thematisiert. Seine innere Zerrissenheit, der romantische Geist der Epoche, die sprichwörtliche russische Seele und ergreifendes Pathos spiegeln sich in diesem herzergreifenden Zeugnis einer höchstprivaten Lebenstragödie. Nicht weniger tiefsinnig ist das erste Violinkonzert von Dmitri Schostakowitsch veranlagt, das er im Kompositionsjahr 1948 nicht veröffentlichen konnte – zu schwer lasteten die Vorwürfe des sowjetrussischen Regimes auf seiner Reputation als Künstler. Als reizvoller Kontrast erklingt eingangs Joseph Haydns allererste Symphonie, entstanden am Hof des Grafen Morzin in Lukavec bei Pilsen.

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Joseph Haydn

Symphonie D-Dur Hob. I:1

Sätze

  • Presto

  • Andante

  • Finale. Presto

Dauer

11 Min.

Entstehung

1759

Bedenkt man die Bedeutung, die Joseph Haydn in der Entwicklung der klassischen Symphonie zukommt, könnte man fast vergessen, dass er in den ersten Jahren seiner kompositorischen Tätigkeit seine wichtigsten Leistungen auf dem Gebiet des Streichquartetts erbrachte. Bevor er noch eine Note einer Symphonie schrieb, hatte Haydn schon mehrere Cembalo-Sonaten, Cembalo-Konzerte und Divertimenti für verschiedene Besetzungen komponiert. Dazu kamen zwei Messen, ein paar Motetten und andere Kirchenmusik wie das «Salve Regina» von 1756 und eine deutsche Oper mit dem Titel «Der krumme Teufel», die leider verloren ist.

Am 22. Oktober 1749, anlässlich des 50. Primizjubiläums des Wiener Fürsterzbischofs Sigismund von Kollonitz, sang Haydn zum letzten Mal in der Kapelle des Wiener Stephansdoms. Nun begann sein mühsamer Weg als freischaffender Musiker, und er verdiente sein karges Brot mit Klavierstunden und der Mitwirkung als Geiger bei Serenaden und Bällen am Wiener Hof. 1776 beschrieb er seine damalige Situation wie folgt: «Da ich endlich meine stimme verlohr, muste ich mich in unterichtung der Jugend ganze 8 Jahr kumerhaft herumschleppen (NB: durch dieses Elende brod gehen viele genien zu grund, da ihnen die zeit zum studyren mangelt)». Haydns Bekanntschaft mit Metastasio und Nicola Porpora verschaffte ihm schließlich 1756 eine Anstellung bei Baron Carl Joseph von Fürnberg, auf dessen Wunsch er begann, Quartette zu komponieren. Entscheidend für Haydns Schritt zur Symphonie war seine Anstellung als Musikdirektor bei Graf Morzin. Für das Orchester des Grafen, das durch das Bläsersextett der Jagdmusik verstärkt wurde, schrieb Haydn seine ersten fünf erhaltenen Symphonien und wahrscheinlich noch sechs weitere, die aber im Hoboken-Verzeichnis höhere Nummern erhielten.

Haydns Symphonie Hob. I:1, die wahrscheinlich 1759 komponiert wurde, steht modellhaft für den Typ der frühklassischen Symphonie, die noch dem Schema der italienischen Opern-Sinfonia verpflichtet ist. Haydns Zeitgenossen Stamitz, Monn, Dittersdorf, Gassmann und Wagenseil vervollkommneten diese Form des Schnell-Langsam-Schnell zu einem klassischen Typus. Wie alle frühen Symphonien Haydns ist das Stück für Streicher, zwei Oboen, zwei Hörner in D und ein den Bass verstärkendes Fagott gesetzt, wobei die Bläser in den langsamen Sätzen schweigen. Die Symphonie beginnt mit einer Art Mannheimer Crescendo über einem Orgelpunkt. Die Fortspinnungstechnik der Barockzeit lässt Haydn im ersten Presto souverän hinter sich, indem er mit Themengruppen, Sequenzen und Laut-Leise-Kontrasten spielt. Die Musik sprüht die heute so legendäre Haydn'sche Sonntagslaune. Angesichts der überraschend flüssigen Orchestrierung dieser ersten Symphonie darf man nicht vergessen, dass Haydn zuvor schon fast ein Dutzend Streichquartette und wohl dreimal so viele Streicher-Divertimenti geschrieben hatte. Der Mittelsatz, das Andante in der Subdominant-Tonart G-Dur, kombiniert auf humorvolle und höchst erstaunliche Weise mehrere musikalische Details: In einer Art Gavotte kommt es zu einem Gespräch von vier Stimmen, die sich über die perfekte vorklassische Sechzehntel-Triole und die dazugehörende Synkope unterhalten. Besonders originell ist die Wendung nach g-Moll im zweitenTeil dieses langsamen Satzes. Das abschließende Presto istdie wohl kürzestmögliche Version des frühklassischen Kehraus-Finales, ein Stück von jener Art, die man hierzulande immereinen «Außischmeißer» nannte. In etwa zwei Minuten ist alles vorbei und Haydn entlässt seine Hörer aus der besten aller Welten.

Im Jahr 1761 war Graf Morzin aus finanziellen Gründen gezwungen, seine Kapelle aufzulösen. Joseph Haydn wurde von Fürst Esterházy als Kapellmeister angestellt, nachdem dieser - so sagt die Legende - bei Morzin Haydns erste Symphonie gehört hatte.

© NÖ Tonkünstler Betriebgesellschaft m.b.H. | Dr. Michael Lorenz

Dmitri Schostakowitsch

Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 77

Sätze

  • Nocturno. Moderato

  • Scherzo. Allegro - Poco più mosso

  • Passacaglia. Andante - Cadenza

  • Burlesque. Allegro con brio

Dauer

34 Min.

Entstehung

1947/48

Dmitri Schostakowitsch nimmt in der Musikge­schich­te des 20.Jahrhunderts eine Solitärstellung ein, nicht zuletzt durch seine von ­politischen und kulturpolitischen Repressalien gezeichnete Lebensgeschichte. Sein unsagbar großes Œuvre, stets von allerhöchster ­Qualität und reich an Inspiration, dokumentiert ein­drucks­voll we­sentliche musikgeschichtliche Aspekte der Vor- und Nachkriegszeit. Mit seinen Symphonien und seinen Streich­quartetten schuf er ­Meisterwerke, die klar widerlegen, dass die «al­ten» Formen überholt waren; gleichzeitig sprengte er in ebendiesen Werken praktisch jede bis dahin gültige Norm. Mit seiner Person, seinem Weg als Mensch und Künstler, ist gleichzeitig auch die Geschichte mehrerer kultur­politischer Strömungen der UdSSR verknüpft, die ein Licht auf ­widersprüchliche, irritierende und oft geradezu schockierende ­Sachverhalte werfen und Zeugnis eines er­schreckenden Bei­spiels­ ideologisch erstarrter Willkür abgeben.

Die noch junge Sowjetunion war auf der Suche nach einem künstlerischen Profil – etwas, das eben nicht auf dem Reißbrett konstruiert werden kann. Die Forderung, dass die Kunst volksnah, verständlich und unkompliziert zu sein hatte, führte dazu, dass man zwischen den Gewollten und den Ungewollten scharf trennte und Komponis­ten wie Schostakowitsch öffentlich diffamiert wurden: «Chaos statt Musik» war der Titel eines Artikels in der «Prawda», zu deutsch «Wahrheit», der am 28. Jänner 1936 erschien und mit einigen Komponisten hart ins Gericht ging. Schostakowitsch musste sich neben anderen Kollegen vor den politisch Verantwortlichen rechtfertigen und war damit dem Urteil derer ausgesetzt, die kaum kompetent genug waren, um über den Wert seiner Arbeit befinden zu können. Mit einem öffentlich vorgetragenen Lippenbekenntnis des Komponisten wurde wieder Ruhe hergestellt.

Schon wenige Jahre später war er als Symbolfigur der sowjetischen Widerstandskraft mehr als gern gesehen, als er 1942 in der Uniform eines Feuerwehr­manns für die Propagandafotografen posierte und mit dem Wasserschlauch in der Hand seine brennende Heimatstadt Leningrad rettete, die von deutschen Truppen belagert wurde. Das Sujet des behelmten Dmitri Schostakowitsch schaffte es im Juli 1942 sogar auf die Titelseite des US-amerikanischen «Time» Magazins. Doch die nächste große Welle kulturpolitischer Repres­salien ließ nicht lange auf sich warten. Nach dem Ende des «großen vaterländischen Kriegs» konzentrierte man sich in der UdSSR ­wieder auf die inneren Werte und versuchte im Zuge dieser ­Bestre­bungen, die unliebsamen Irrwege mancher Künstler auf die rechte Bahn zu bringen. 1948 musste Dmitri Schostakowitsch wiederum vor die selbst ernannten Richter treten, um im Anschluss an die Abkanzelung seiner Musik als «volksfremd und formalistisch» erneut ein öffentliches Schuldbekenntnis nebst einem Gelöbnis zur Besserung abzulegen – dass es sich hier um echte Reue handelte, darf bezweifelt werden.

In ebendiese Zeit fällt die Arbeit an seinem ersten Violin­kon­zert, die er im Juli 1947 aufnahm und am 24. März 1948 vollendete. Und auch an der Auffüh­rungs­geschichte des Werkes lassen sich die politischen Drangsalie­run­gen nachzeichnen, unter denen Schosta­kowitsch zu leiden hatte. Der staatliche Musikverlag Moskau, der die Partitur des ersten Violin­kon­zerts 1957 herausgab, verpasste dem Werk die Opuszahl 99, um den Eindruck zu erwecken, dass es sich um eine soeben fertig gestellte Komposition handle. Dass das Konzert bereits neun Jahre zuvor fertig gestellt worden war und die korrekte Opuszahl 77 darüber auch keinen Zweifel lässt, wurde schlicht ignoriert. In einem einleitenden Text, welcher der Partitur vorangestellt ist, heißt es über den Komponisten: «Der Komponist schrieb seine Fehler überwindend [sic!] viele hervorragende inhaltsreiche und ausdrucksvolle Werke.» Anhand dieses Zitates lässt sich mehr als erahnen, womit Schostakowitsch zu kämpfen hatte – ein Kampf, der ihn in unterschiedlicher Härte sein ganzes Leben begleitete.

Sein erstes Violinkonzert widmete er dem Jahrhundert­geiger David Oistrach, der es am 29. Oktober 1955 zum ersten Mal in der Heimat­stadt des Komponisten aufführte. Dabei wurde er von der Leningrader Philharmonie unter Jewgeni Mrawinski begleitet. Zwei Monate danach spielte Oistrach das Konzert erneut, diesmal bei der «westlichen Uraufführung» in der New Yorker Carnegie Hall, wo Dmitri Mitropoulos das New York Philharmonic dirigierte.

Der erste Satz (Nocturne. Moderato) wird von einem Fluss dunkler und subtiler Orchesterfarben getragen und leitet das Werk mit düs­teren Schattierungen ein. Die Solovioline hebt sich mit einem weit ausholenden Thema darüber und vermittelt unmittelbar das Gefühl von Einsamkeit und Beklemmung. Als Kontur sticht mitten im Satz eine dramatische Entwicklung hervor, die sich als Auf­be­geh­ren deuten lässt, jedoch sehr bald wieder der elegisch-traurigen Grund­stimmung weicht. Die Vio­line stellt in dieser Einleitung musikalisches Material vor, das wie aus einer anderen Welt klingt. Und tatsächlich bedient sich Schostakowitsch auch «fremder» musikalischer Elemente, die ihm während der Entstehungszeit durch seinen Schüler Benjamin Fleischmann nahe gebracht worden waren: Die jüdische Volksmusik wurde in diesem ­Le­bens­abschnitt zu einer wertvollen In­spi­­ra­tionsquelle, aus der der Komponist un­zäh­lige Ideen für Themen, rhythmische Strukt­uren und Skalenbildungen schöpfte. Unter dem Einfluss der «antizionistischen» Kampagnen der Staats­­len­kung war an eine Uraufführung in diesen Jahren somit nicht zu denken – hierin liegt auch ein Grund für die sieben­jährige Zeitspanne zwischen Fertig­­stel­lung und Uraufführung.

Im zweiten Satz (Scherzo. Allegro) kommen die neuen musikalischen Ein­flüsse aus der jüdischen Musik besonders stark zum Tragen: scharfkantige Themensplitter durchbohren keck den morbid-tänzerischen Orchesterpart. Insbe­sondere die Blä­ser spielen diese Ideenfetzen oft wieder an das Solo­in­stru­ment zurück; fast gewinnt man den Eindruck, dass die Violine musikalischen Geschossen ausweichen muss. Die wendige Ra­se­rei des Scherzos gewinnt durch aufwändige Doppel­griffe und gehetzte Glissando-Figuren noch mehr an Lebendig­keit. Die Violine wird zeitweise auch vom Gejagten zum Jäger und spielt so manchen musikalischen Streich, dreht dem Or­ches­ter sogar hörbar eine lange Nase – und doch kann der temperamentvolle Satz nicht den Eindruck abschütteln, ein Leiden zu verbergen, das sich nur flüchtig die Maske der Heiterkeit vorhält.

Dem tragisch witzigen Scherzo folgt im dritten Satz eine Passa­caglia (Andante – Cadenza), die die klassische Satztechnik dieser Form heranzieht um auf eigene Art und Weise erweitert und durch­brochen zu werden. Das ständige Fortspinnen einer Idee über einem gleich bleibenden Bass, das wesentliche Merk­mal der Passacaglia, gibt Schostakowitsch Gelegenheit, das weitschweifige Thema des ersten Satzes zu zitieren und das Material zu entwickeln. Die Violine bringt hier Teile des Originalthemas zur Vollblüte und lässt einzelne musikalische Gedanken zu Phantasiegewächsen heranwachsen, die sich schließlich zu einem großen Gemälde einer gequälten Seele zusammenfinden. Diesem Gesamtbild entsteigt dann organisch die Kadenz, in der die Violine noch einmal das gesamte Spektrum des bisher erklungenen Materials auslotet: Dunkelheit und Licht, Aufbe­geh­ren und Unterdrückung, Spott und Häme – sämtliche Gefil­de der bisher erlebten Seelenwanderung werden noch einmal in virtuoser Abgeschiedenheit vorgeführt, bevor die Violine eine Eruption einleitet, die den Beginn des Finales markiert.

Der vierte Satz (Burlesque. Allegro con brio) erinnert sofort an das Scherzo, ist jedoch spürbar weniger verzweifelt. Der Sym­pho­­niker Schostakowitsch bricht hier durch und überträgt dem gesamten Instrumentarium auf der Bühne die Aufgabe, das Werk im großen Stil zu finalisieren. Was vorher manchmal wie ein Gegen­einan­der von Violine und Orchester geklungen hatte, ist hier ein eilig drängendes Miteinander. Der Solopart gibt dabei stets die Richtung vor und scheint einem sichtbaren Ziel zuzustreben. Mit rhythmischen Konturierungen, komplex geführten Orchester­stim­men und  straffer, fast martialischer Organisation spannt der Komponist dabei noch einmal den Bogen über die wichtigsten thematischen Elemente, bis die Violine das Tempo abermals drastisch steigert und das Konzert mit gepeitschten Repetitionen den Schluss­takten zutreibt.

© Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore

Pjotr Iljitsch Tschaikowski

Symphonie Nr. 5 e-Moll op. 64

Sätze

  • Andante - Allegro con anima

  • Andante cantabile, con alcuna licenza

  • Valse. Allegro moderato

  • Finale. Andante maestoso - Allegro vivace

Dauer

55 Min.

Entstehung

1888

Pjotr iljitsch Tschaikowski unternahm 1888 seine erste große Konzertreise in die Musikzentren Europas – nach Leipzig, Hamburg, Berlin, Prag, Paris und London. Überall dort hatte er nicht nur mit ansehnlichem Erfolg seine Musik aufgeführt, sondern auch Kollegen wie Johannes Brahms, Gustav Mahler, Antonín Dvorák, Charles Gounod, Jules Massenet, Gabriel Fauré, Edvard Grieg oder Richard Strauss wieder getroffen oder überhaupt erst kennengelernt. Doch trotz der künstlerisch anregenden neuen Bekanntschaften fand sich Tschaikowski am Ende der Reise in unglücklicher Stimmung wieder, wie ein Tagebucheintrag vom 27. März 1888 im Wiener Hotel «Ungarische Krone» zeigt: «Nach Hause. Packen. Es steht eine Reise nach Russland bevor. Schreiben für wen? Weiterschreiben? Lohnt kaum. Wahrscheinlich schließe ich damit für immer mein Tagebuch ab. Das Alter klopft an, vielleicht ist auch der Tod nicht mehr fern. Lohnt sich denn dann alles noch?»

Wieder nach Hause zurückgekehrt nahm Tschaikowski als erstes einen Umzug vor: Er zog sich auf sein Landgut Frolowskoje nahe der russischen Stadt Klin zurück und gewann dort seinen Lebensmut und seine schöpferische Kraft wieder. Seine Jahrbücher führte er zwar erst ein knappes Jahr später wieder weiter, doch schon im Mai 1888 begann er mit der Arbeit an seiner fünften Symphonie; nur drei Monate später war sie vollendet. Nach elf Jahren also (1877 war die Vierte entstanden) bezwang er erneut die Form der Symphonie, wobei Tschaikowski in den Jahren davor durchaus Symphonisches geschrieben hatte, wie das Capriccio italien, die Ouvertüre 1812, die Streicherserenade oder die programmatische Manfred-Symphonie belegen. Freilich, ganz friktionsfrei gestaltete sich auch diese Arbeit nicht, wie ein Brief an seine Freundin Nadesha von Meck verrät: «Ich will jetzt tüchtig arbeiten, um mir selbst, aber auch den anderen zu beweisen, dass ich mich noch nicht ausgeschrieben habe. Oft überkommen mich Zweifel, und ich stelle mir die Frage: Ist es nicht an der Zeit, aufzuhören? Habe ich meine Phantasie nicht überanstrengt? Ist die Quelle vielleicht schon versiegt?» Gleichzeitig mit der Fünften entstand auch die Hamlet-Ouvertüre, beide Werke stellte Tschaikowski, selbst am Pult, am 17. November 1888 dem Publikum in St. Petersburg vor. Gewidmet ist die Symphonie dem Hamburger Musikkritiker und Musikschriftsteller Johann Theodor Friedrich Avé-Lallemant, den Tschaikowski auf der Konzertreise 1888 kennengelernt hatte. Übrigens schon während seiner Rückreise von dieser ersten Tournee zog es ihn erneut in die Ferne, wie er Nadesha von Meck brieflich gestand: «Ist es nicht merkwürdig, dass ich nach einer ermüdenden dreimonatigen Wanderung durch die Fremde schon wieder an neue Reisen denke? So aber ist der Mensch, kaum ist meine als höchstes Glück ersehnte Rückkehr nach Russland zur Tatsache geworden, da wünsche ich mir bereits eine neue Reise im kommenden Jahr!» Gleich Anfang 1889 schloss sich diese weitere ersehnte Reise an; dabei dirigierte Tschaikowski auch seine fünfte Symphonie, die in Hamburg der dortige Musikkritiker Josef Sittard als eine der «bedeutendsten musikalischen Erscheinungen der letzten Zeit» bezeichnete. Vom selbstkritischen Komponisten gibt es durchaus wenig schmeichelhafte Anmerkungen zu seiner eigenen Fünften, die überall sonst auf immer größere öffentliche Anerkennung stieß: «Nach jeder Aufführung empfinde ich immer stärker, dass dieses Werk mir misslungen ist. Die Symphonie erscheint mir zu bunt, zu massiv, zu künstlich, zu lang, überhaupt unsympathisch.» Wie so oft sind die Schöpfer ihrer Werke die strengsten Kritiker ihrer selbst und oft gar nicht dazu auserkoren, das eigene Werk richtig zu beurteilen. Klaus Manns schrieb zur Fünften in seiner Tschaikowski-Biographie: «… geschrieben, zum Trotz jener schlimmen Angst, die den Alternden lähmen wollte mit ihrem Flüstern: Du bist ausgesungen, vertrocknet, von dir kommt nichts mehr. Und siehe da: Die Symphonie wurde groß, und sie wurde gut. Sie hatte Schwermut und Glanz und dazwischen eine ganz entrückte Leichtigkeit und am Ende den stolzen und heftigen Überschwang dessen, der sich höchst tapfer wehrt.»

Am ohrenfälligsten an der fünften Symphonie ist der thematische Zusammenhang, ein Bogen, der sich mittels eines einprägsamen Leitmotivs über alle vier Sätze spannt. Während etwa der vierten Symphonie ein ausführliches Programm zugrunde liegt, sind zur fünften nur wenige Notizen aus Tschaikowskis Feder überliefert. Das Hauptthema, mit dem der erste Satz (Andante – Allegro con anima) der Symphonie anhebt, charakterisiert er folgendermaßen: «Introduktion. Völlige Ergebung in das Schicksal oder, was dasselbe ist, in den unergründlichen Ratschluss der Vorsehung.» Die Klarinette stellt das Thema vor, etwas später gesellt sich das Fagott hinzu; das Allegro, zu dem Tschaikowski die Wörter «Murren, Zweifel, Klagen, Vorwürfe» notiert hat, stimmen dann beide Instrumente gemeinsam an. Nicht zu leugnen ist die oft zitierte Verwandtschaft des Hauptthemas mit dem Mittelteil der Es-Dur-Polonaise op. 26/2 von Frédéric Chopin. Trotz der formalen Gabel durch das in allen Sätzen auftretende Hauptmotiv bleibt Tschaikowski formal innerhalb der üblichen symphonischen Parameter. Das D-Dur-Seitenthema hebt sich deutlich vom düsteren Hauptgedanken ab und in der Durchführung ist es schließlich das punktierte Motiv am Beginn des Hauptthemas, das den dramatischen Aufbau und Höhepunkt bestimmt. Die Coda schließlich verklingt nach nochmaligem energischen Ausbruch, langsam ausfasernd im dreifachen Piano.

Der zweite Satz (Andante cantabile) zählt gewiss zu den größten Errungenschaften des Melodikers Tschaikowski, als welchen ihn etwa Igor Strawinski außerordentlich schätzte. Diese «sehr seltene und kostbare Begabung» (Strawinski) bestimmt das herrliche Andante cantabile, zu dem der Komponist notierte: «Soll ich mich dem Glauben in die Arme werfen?» Diese Frage mag man nun aus den choralartigen Einleitungstakten heraushören, oder auch in dem vom Solo-Horn vorgetragenen Hauptthema erkennen, dem «Lichtstrahl» (Tschaikowski) der Symphonie. In der Mitte des Satzes schleicht sich, beinahe unmerklich, das Leitmotiv ein, bis es schließlich im dreifachen Forte zum Ausbruch kommt. Der Einbruch des Schicksals in kräftigen Blechklängen scheint von nur kurzem Bestand, nochmals baut sich das hymnische Thema auf, doch wieder schlägt das Schicksal drein: Dauerhaft soll sich die ungetrübte Harmonie (noch) nicht durchsetzen, und so findet der Satz ein vorsichtiges Ende, wieder im dreifachen Piano.

Die zarte, salonartige Valse lässt den Gedanken an das Leitmotiv und seine Bewandtnis beinahe vergessen. Ein wenig erregter nimmt sich das einkomponierte Trio mit all seinen flirrenden Sechzehntelfiguren aus. Erst gegen Ende meldet sich ganz zart das Schicksals-Motiv in Klarinette und Fagott zu Wort, bevor dieser zarte Satz plötzlich und unerwartet im Fortissimo endet.

Das inzwischen wohl bekannte Leitmotiv erklingt, jetzt umgedeutet nach E-Dur, in der Einleitung des Finales (Andante maestoso – Allegro vivace), welches nicht nur formal zwischen Sonatensatz und Rondo steht, sondern auch beispielhaft die Doppelgesichtigkeit der Symphonie charakterisiert. Frank Reinisch fasste diesen Umstand vielleicht am Besten in Worte: «Verrät der Kontrast zwischen dem kammermusikalischen düsteren Beginn der Symphonie und der triumphierenden Finalwirkung des Schicksalsthemas nicht die ungeheuren Spannungen, unter denen Tschaikowski litt und die ihn schließlich zur Komposition dieser ‹molto maestoso›-Apotheose zwangen? Auf der einen Seite steht die öffentliche Anerkennung allerorten, auf der anderen Seite bohrende Selbstzweifel, wie sie Tschaikowski übrigens bald darauf auch an seiner 5. Symphonie kurz nach den ersten Aufführungen geäußert hat, und die heimliche Skepsis gegenüber den Mitmenschen.» Die Final-Coda bringt schließlich das Leitmotiv, nach dramatischen Auseinandersetzungen in der Durchführung und der Reprise, in glänzendem E-Dur: erst noch breit aussingend, dann im Presto im Eilschritt, und zuletzt kraftvoll triumphierend, als nachdrückliche Bestätigung, das Schicksal doch bezwingen zu können – zumindest in der Musik.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Markus Hennerfeind