Archiv: Ballet Vlaanderen

St. Pölten Festspielhaus Großer Saal Festspielhaus | Großer Saal

Interpreten

  • Ballet Vlaanderen, Tanzkompanie

Programm

Sidi Larbi Cherkaoui ist dem Festspielhaus-Publikum seit Jahrzehnten als Schöpfer bahnbrechender Tanzkreationen ein Begriff. Begleitet von seinem Ballet Vlaanderen, dem er seit 2015 als künstlerischer Leiter vorsteht, kehrt der flämisch-marokkanische Choreograf jetzt mit einem märchenhaften Kontrastprogramm aus dem klassischen Fundus zurück nach St. Pölten: Neue Sichtweisen auf die russischen Märchengeschichten über den Feuervogel eröffnet Cherkaoui in seiner Version von Igor Strawinskis «L’Oiseau de feu». Im Zentrum seiner extravaganten Choreografie steht die zerstörerische Kraft des Feuers. In «Exhibition» visualisiert Cherkaoui Maurice Ravels Orchesterbearbeitung des Klavierzyklus «Bilder einer Ausstellung» von Modest Mussorgski.

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Igor Strawinski

«Der Feuervogel» Ballett in zwei Bildern (Fassung 1910)

Dauer

40 Min.

Ein für den jungen Igor Strawinski bedeutsames Ereignis, das Einfluss auf sein gesamtes Schaffen nehmen sollte, war die Begegnung mit dem Kunstmanager und späteren Chef der «Ballets russes» Sergej Diaghilew im Jahr 1908. Diaghilew, der sich einen Namen damit gemacht hatte, Werke russischer Komponisten in Paris auf die Bühne zu bringen, hatte Strawinski in einem Konzert, zu dem dieser zwei Orchesterstücke beigetragen hatte, erstmals gehört und sogleich sein Talent erkannt: er wollte ihm mit Auftragskompositionen die Möglichkeit geben, sich kompositorisch zu entwickeln und auf diese Weise der russischen Isolation zu entfliehen, um in der blühenden europäischen Kunstszene Fuß fassen zu können. Stets auf der Suche nach neuen russischen Werken, die er in Paris aufführen konnte, trug er sich schon länger mit dem Gedanken, ein Ballett «Feuervogel» schreiben zu lassen. Mehrere Komponisten schwebten ihm dabei vor; doch schließlich wählte er ausgerechnet Strawinski, den jungen, noch wenig erfahrenen Komponisten, der bisher noch gar kein abendfüllendes Bühnenwerk verfasst hatte. Es war wohl Weitblick, der ihn dazu veranlasste, Strawinski ein solch schwierig zu realisierendes Libretto wie den «Feuervogel» zu überlassen: Denn einerseits war es nicht einfach, den von Michail Fokin verfassten Text in Musik zu setzen, bestand er doch aus verschiedensten Elementen, zusammengetragen aus drei Volksmärchen über den «bösen unsterblichen Kastschei». Und andererseits war Strawinski wenig begeistert davon, Musik zu einem vorgegebenen Sujet zu komponieren, denn die musikalische Deskription eines Textes lag ihm nicht. Dass er die sich ihm bietende Chance dennoch nutzte, lag nicht zuletzt an der steten Ermutigung durch Diaghilew und Fokin.

Kurz zusammengefasst, geht es im Libretto um Gut und Böse, verkörpert im Prinzen Iwan Zarewitsch und der aus Kastscheis Fängen geretteten Zarewna auf der einen und dem Menschenfresser Kastschei mit seinem magischen Höllenvolk auf der anderen Seite. Als Befreier steht der Feuervogel, den der Prinz einst selbst gefangen, dann aber freigelassen hat, in der Mitte: Als der Prinz in die Fänge Kastscheis gerät, eilt er ihm zu Hilfe, und es gelingt ihm, zuerst das Höllenvolk mit einem «Danse infernale» in den Tod tanzen zu lassen und dann den Bösewicht Kastschei in den Schlaf zu singen; er zeigt dem Prinzen ein Kästchen, in dem sich das Ei befindet, das Kastscheis unsterbliche Seele enthält. Der Prinz zerschlägt das Ei mit seinem Schwert, Kastscheis Seele entweicht, und der Unhold verschwindet mitsamt seiner ganzen Zauberwelt in der Hölle – das Volk erwacht wie aus einer Starre und jubelt dem neuen Zaren und seiner Zarewna zu.

Nur knapp ein Jahr Zeit blieb Strawinski für die Ausarbeitung des Balletts, das er in Introduktion und 18 Tanznummern gliederte – und bis zum Schluss sollte ihn die Frage bewegen, ob und wie das Werk wohl von der Öffentlichkeit angenommen werden würde. Seine Sorge war unbegründet: Die Uraufführung am 15. Juni 1910 in Paris wurde zu einem großen Erfolg für den Komponisten, der schließlich ausschlaggebend dafür war, dass er Russland endgültig verließ und sich in Paris niederließ. Um dem Ballett größere Verbreitung zu ermöglichen, fasste Strawinski später die erfolgreichsten Stücke daraus, ohne Überleitungsmusiken, in insgesamt drei jeweils unterschiedliche Konzertsuiten zusammen: die erste bereits 1911, bestehend aus fünf Musiknummern in originaler Orchesterbesetzung – sie gelangt heute zur Aufführung – , zwei weitere folgten 1919 und 1945.

Stilistisch orientiert Strawinski sich hier noch an seinem Lehrer Rimski-Korsakow und dem Regelwerk des russischen Musikdramas: alles, was das Böse charakterisiert, wird in spannungsreichen übermäßigen (Tritonus) oder verminderten Akkorden dargestellt,  «schwirrende» Töne in den Bläsern weisen auf den Feuervogel hin, und das Gute rund um das Zarenprinzenpaar wird mit gesanglichen diatonischen Melodien charakterisiert. So ergibt sich ein vielfarbiges und spannungsreiches Klangbild, das sich jedoch bereits zeitweise zu jenem harten direkten Ausdruck intensiviert, den wir später in «Petruschka» und «Sacre du Printemps» wiederfinden.

© NÖ Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Astrid Schramek

Modest Mussorgski

«Bilder einer Ausstellung» (Instrumentierung: Maurice Ravel)

Sätze

  • Promenade. Allegro giusto, nel modo russico, senza allegrezza, ma poco sostenuto

  • 1. Gnomus. Vivo

  • Promenade. Moderato commodo assai e con delicatezza

  • 2. Il vecchio castello. Andante

  • Promenade. Moderato non tanto, pesante

  • 3. Tuileries. Allegretto non troppo, capriccioso

  • 4. Bydlo. Sempre moderato pesante

  • Promenade. Tranquillo

  • 5. Ballet des poussins dans leurs coques. Scherzino. Vivo, leggiero

  • 6. «Samuel» Goldenberg und «Schmuyle». Andante

  • 7. Limoges - Le Marché. Allegretto vivo, sempre scherzando

  • 8. Catacombae (Sepulcrum romanum). Largo - Cum mortuis in lingua mortua. Andante non troppo, con lamento

  • 9. La cabane sur des pattes de poule (Baba-Yaga). Allegro con brio, feroce

  • 10. La grande porte de Kiev. Allegro alla breve - Maestoso - Con grandezza

Dauer

29 Min.

Entstehung

1874/ 1922

«Warum nur leben Hunde und Katzen ? und Geschöpfe wie Hartmann müssen sterben?», klagte Modest Mussorgski 1873 bitterlich über den Tod seines Freundes «Witjuschka», des noch nicht einmal 40-jährigen Malers und Architekten Viktor Hartmann, der ihm nicht nur persönlich, sondern auch ästhetisch sehr nahe stand: Beide hatten sich eine Rückbesinnung auf die nationalen Wurzeln der russischen (Volks-)Kunst auf ihre Fahnen geschrieben. «Uns Dummköpfe trösten in solchen Fällen die Weisen: «Er» ist nicht mehr, aber was er geschaffen hat, lebt und wird leben, ja und - ja, und es sei nicht vielen Menschen das Glück beschieden, nicht vergessen zu werden. Das ist wieder solch ein Schmarren aus menschlicher Eigenliebe (mit wenig Zwiebeln, der Tränen wegen). Ja, hol dich der Teufel mit deiner Weisheit!» Dieser Verlust und der beginnende Zerfall der «Novatoren» machten Mussorgski schwer zu schaffen - und nach dem Höhepunkt seines künstlerischen Lebens, dem triumphalen Publikumserfolg des «Boris Godunow» 1874, begann der gesundheitliche Abstieg.

Aus Leid und Verzweiflung sollte jedoch schließlich doch nochmals die musikalische Schöpferkraft den Ausweg weisen. Anlass dazu gab eine Hartmann gewidmete Gedächtnisausstellung, die Vladimir Stassow in St. Petersburg organisierte, zufällig in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu den «Boris»-Aufführungen, und zu deren 400 Exponaten (architektonische Entwürfe, Bühnenbilder, Aquarelle, Buchillustrationen u. a.) auch zwei Bleistiftzeichnungen aus dem Besitz des Komponisten zählten. Die Ausstellung und die mit den Bildern verbundenen Erinnerungen an Hartmann, all das muss auf Mussorgski ungeheuren Eindruck gemacht haben. Er fasste den Entschluss, dem verstorbenen Freund ein musikalisches Denkmal zu setzen. Schon ganz im Schaffensrausch schrieb er «an irgendeinem Datum im Juni 1874» an Stassow: «Ich arbeite mit Volldampf am Hartmann, wie ich seinerzeit mit Volldampf am Boris gearbeitet habe. Klänge und Gedanken hängen in der Luft. Ich schlucke sie und esse mich daran voll, kaum schaffe ich es, alles aufs Papier zu kritzeln. Ich schreibe an der vierten Nummer, die Verbindungen sind geglückt (dank der Promenade). Ich möchte das Ganze möglichst bald und sicher zustande bringen. Meine Physiognomie ist in den Zwischenspielen zu sehen. Bis jetzt halte ich es für gelungen. Ich schließe Sie in meine Arme und verstehe, dass Sie mich dafür segnen - also geben Sie mir Ihren Segen!»

Der Zyklus geriet zu einem der originärsten und eigenwilligsten Werke der gesamten Klavierliteratur. Mit kühner, archaisch modal gefärbter Harmonik, typisch russischer Metrik mit wechselnd Mussorgskiunregelmäßigen 5/4-, 6/4- und 7/4-Takten, außerhalb jeden Kadenzgefälles stehenden Einzelklängen, blockhaft-massiven, dissonanzgeschärften Klaviereffekten neben ätherisch-impressionistischen Anklängen nimmt Mussorgski dabei viele Elemente der bevorstehenden Moderne vorweg. Die Präzision, plastische Eindringlichkeit und der schillernde Farbenreichtum, den er hier dem Klavier abverlangt und der über das Instrument hinausweist, haben nicht nur sehr früh zu verschiedenen Orchesterfassungen des Werkes geführt (neben jener von Maurice Ravel existieren u. a. noch solche von Leo Fintek, Leonidas Leonardis, Henry Wood und Leopold Stokowski, aber auch von Emerson, Lake & Palmer), sondern suggerieren auch ganz andere Bilder als Vorlage, als sie Hartmann geschaffen hat: Mit der Musik im Ohr mag man beim Betrachten der wenigen heute noch erhaltenen Werke enttäuscht sein.

Mussorgskis Leistung liegt demnach auch in der künstlerischen Überhöhung der Fähigkeiten seines Freundes, mit dem er überdies hier noch einmal in direkte Beziehung tritt: Die Promenade, also das verbindende Intermezzo, das den Komponisten beim Flanieren durch die Ausstellung verkörpert, wird durch den Eindruck der Bilder nicht nur verändert, sondern schließlich in deren musikalische Schilderung völlig integriert und von ihr aufgesogen. Gnomus evoziert einen krummbeinig daherhumpelnden, grotesken Zwerg; in Il vecchio castello scheint ein Troubadour einen melancholischen Gesang anzustimmen, während Tuileries den Trubel spielender Pariser Kinder schildert. In Bydlo zieht ein schwer beladener polnischer Ochsenkarren vorüber, bevor der Hühnernachwuchs, großteils in seinen Eierschalen steckend, das Ballet des poussins dans leurs coques («Ballett der noch nicht ausgeschlüpften Küchlein») tanzt. «Samuel» Goldenberg und «Schmuÿle» basiert auf zwei verschiedenen Bildern gleichzeitig: Die aufgeplustert-großtuerische Attitüde des erfolgreichen Geschäftsmanns mit Pelzmütze wird kontrapunktiert vom Zittern des armen Schluckers. In das turbulente Treiben auf dem Marktplatz von Limoges (Limoges - Le Marché) fahren plötzlich die ehern-harschen Klänge von Catacombae. Zu der Gruppe im blassen Laternenschein in den Gängen der Pariser Unterwelt hat sich (Cum mortuis in lingua mortua, «Mit den Toten in der Sprache der Toten») Mussorgski selbst gesellt: «Der schöpferische Geist des verstorbenen Hartmann führt mich zu den Schädeln und ruft sie an; die Schädel leuchten sanft auf», schrieb er in die Partitur. La cabane sur des pattes de poule («Die Hütte auf Hühnerfüßen») gehört der menschenfressenden russischen Hexe Baba-Jaga, die auf einem Mörser durch die Luft reitet. La grande porte de Kiev («Das große Tor von Kiew») schließlich, das Hartmann in Form eines Helmes entworfen hat, ist ein grandioses musikalisches Doppel-Monument mit Glockengeläut und liturgischem Choralgesang, das Maler und Komponist (Promenade) hymnisch vereint ertönen lässt.

Das Interesse Maurice Ravels an den «Bildern einer Ausstellung» war nicht nur jenes zufällige eines genialen Instrumentators an einem beliebigen Klavierwerk, das geradezu nach Orchesterfarben zu schreien schien. Denn Mussorgskis Musik, 1874 in Gestalt des Klavierauszugs von «Boris Godunow» erstmals nach Paris gelangt, hatte sich zu Ravels Lebzeiten immer mehr als willkommener Wegweiser aus dem allgemeinen «Wagnérisme » erwiesen, dem die französische Musikwelt wie einem Fieber erlegen war. «Nie werde ich den schon so lange zurückliegenden Tag vergessen, an dem Sie und Ihr Mann uns das Werk von Mussorgski offenbart haben» schrieb Ravel noch im April 1922 an die in Paris lebende russische Sängerin Marie Olénine. Ab 1896 hatte diese gemeinsam mit ihrem Mann, dem Mussorgski Biografen Pierre d'Alheim, und dem Pianisten Charles Foerster die Franzosen in «Konzert-Vorlesungen» mit dem OEuvre des Russen bekannt gemacht; unter den beeindruckten anwesenden Komponisten war auch der junge Ravel. Wenige Tage nach der zitierten brieflichen Reminiszenz begann Ravel seine Instrumentierung des Zyklus, bei der er übrigens eine Wiederkehr der Promenade strich (zwischen 6. und 7. Bild), ansonsten aber nur minimal ins Original eingriff. Auftraggeber war der Dirigent Serge Koussevitzky, der auch am 19. Oktober 1922 in der Pariser Opéra die glanzvolle Uraufführung dieser zweiten Geburt der «Bilder einer Ausstellung» leitete.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebgesellschaft m.b.H. | Walter Weidringer