Jean Sibelius’ Konzert für Violine und Orchester rückt die Violine eindeutig in den Mittelpunkt des Geschehens und überträgt dem Soloinstrument quasi die «Titelrolle». Von der Tradition der symphonisch angelegten Form weggehend, erzielt der Komponist eine Synthese zwischen dem Symphonischen und dem Virtuosen. Das Hauptthema wird immer von der Violine vorgestellt, die Musik entwickelt sich nicht mehr aus einem Dialog zwischen Violine und Orchester, wie es beispielsweise in der Wiener Klassik üblich war, sondern mehr aus strukturellen Wechseln zwischen dem Solopart und der Begleitung. Der Komponist teilt wesentliche Bestandteile eines Instrumentalkonzertes der Solovioline zu, so ist sie mitunter auch mit Aufgaben betraut, die traditionellerweise dem gesamten Orchester zufallen würden.
Der erste Satz (Allegro moderato) leitet mit einer für Sibelius typischen Streicherkulisse ein, die die Spielfläche in vorsichtigen Wippbewegungen «con sordino» mit der Farbe d-moll grundiert. Die Solovioline stellt sich mit einer melancholischen Kantilene vor und lässt augenblicklich erkennen, dass diese Musik aus einer Gegend kommt, in der Tageslicht zum Kostbarsten gehört. Gleichzeitig kann man aber auch Sehnsucht und unterdrückte Gefühle hinter den Noten erahnen, die im weiteren Verlauf immer hörbarer werden und Anflüge von rhapsodischem Temperament zeigen. Das melodische Geschehen entwickelt sich, die Violine vergrößert allmählich ihren Spielraum und ertastet die Weite des Raumes, der ihr im gesamten Werk reichlich zuteil wird. Lange Arpeggio-Bewegungen und Sprünge weiten den Tonumfang des Soloparts immer mehr aus und beschleunigen die Bewegung, die in der ersten Solokadenz mündet. Mit vornehm klingenden Sexten-Bewegungen leitet die Violine das zweite Thema des Satzes ein und führt das Geschehen erneut zu einem wild-romantischen Höhepunkt, das nach einem Aufbrausen in Wartestellung verharrt: Durch einen kühnen Sprung spannt die Violine nun eine Feder, die eine weitere Solokadenz in Gang setzt. Schon nach diesen wenigen Minuten kann die Violine genug Material aus dem bisher Erklungenen schöpfen, um sich nach einer Erinnerung an die wichtigsten Elemente der Weiterentwicklung zuzuwenden. Das Orchester «assistiert» hier der Violine bei neuen virtuosen Streifzügen und stellt danach ein eigenes Seitenthema vor, das zum Schluss des Satzes wiederum von der Violine kommentiert und abgerundet wird. Die letzten Takte des ersten Satzes wecken Erinnerungen an die virtuosen Finali in den Violinkonzerten von Felix Mendelssohn und Max Bruch.
Im zweiten Satz (Adagio di molto) stellt Sibelius ein weit ausgreifendes und trotzdem schlicht gehaltenes Thema vor, das ebenmäßig und ohne übertriebenes Pathos erklingt. Der eigentliche Reiz des langsamen Satzes liegt in seinen verborgenen Qualitäten und dem Tiefgang, der durch subtile Zurückhaltung erzielt wird. Die Solovioline besticht durch gleichzeitig gespielte Rhythmen, gebrochene Oktavenreihen und feingliedrige Triolenfiguren – einmal mehr zeigt sich, dass echte Virtuosität niemals allein durch technische Perfektion oder gar Geschwindigkeit erreicht werden kann. Die Farben, die Sibelius einsetzt, geben tiefen Einblick in seine profunde Kenntnis des Instrumentes und seiner Verbundenheit zu ihm. Von der bittersüßen Innigkeit in den tiefen Lagen bis zum dreigestrichenen D, das die Violine gegen Ende des Satzes als Ausdruck innerster Gefühle erklimmt, reicht hier die Palette. Mit einer Reprise des Hauptthemas schließt sich der Adagio-Kreis wieder.
Als «Polonaise für einen Eisbären» bezeichnete ein britischer Musikwissenschaftler den dritten Satz (Allegro ma non tanto) des Violinkonzertes. Die freien Assoziationen zu diesem Finale reichen noch weiter, so fand ein Biograf von Sibelius, dass die Musik klinge «als hätte ihr Schöpfer den Großteil seines Lebens an den Ufern der Donau verbracht.» Und tatsächlich weicht jegliche Zurückhaltung, auskomponierte Lichtkargheit und zartherbes Flair einem tänzerischen und übermütig auftrumpfenden Thema, das rhythmisch einprägsam herangaloppiert. Die freie Assoziation mit den Donaugestaden scheint leicht nachvollziehbar: wirbelndes Wasser, aufbrausendes Temperament und erregtes Gemüt dominieren die Eröffnung dieses Satzes. Das Seitenthema, das vom Orchester vorgestellt wird, fügt sich präzise in den Charakter des Satzes ein. Die punktierten Streicherbewegungen verwandeln sich bald in eine etwas gehemmte Untermalung: Plötzlich legt die Violine die Maske des jugendlichen Esprits ab, beschwört mit irrlichternden Flageolett-Figuren hexenhafte Fratzen herauf, die kaum greifbar herumschwirren. Die lange Schlusssteigerung wird wiederum von ausufernder Virtuosität geprägt: das Soloinstrument greift auf die Eröffnung des Konzertes zu, erweitert den Tonraum und führt noch einmal ein Skelett des Hauptthemas vor – all das aber in der ausgelassenen und lebensbejahenden Kraft, die den Charakter des Finales ausmacht. Eine letzte Fanfare des Orchesters ist die Steigleiter, an der die Violine ihren großen Schlusslauf beginnt, um am Ende völlig selbständig himmelwärts zu schießen und das Werk «von oben» – so wollte Sibelius diesen Satz gespielt haben – zu beschließen.
© Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore