MYTHEN, MÄRCHEN, MEISTERKLÄNGE

«Kinderstuben-Weihfestspiel»

Engelbert Humperdinck hätte sich wohl selbst nicht träumen lassen, dass er dereinst als Komponist gleich mehrerer Märchenopern in die Musikgeschichte eingehen würde, als er mit 25 Jahren als Kompositionsstudent in München seinem Tagebuch anvertraute: «Abends im Bett las ich einige Grimm’sche Märchen, von denen ich mich sehr angeregt fühlte, so dass die arbeitende Phantasie mich lange nicht zur Ruhe kommen ließ. Alte Paderborner Erinnerungen wurden wach [Humperdinck war dort zur Schule gegangen, Anm.], das stetig wiederkehrende Thema von dem schönen Königssohn und der noch schöneren Königstochter gemahnte an die glücklichen unschuldsvollen Zeiten der ersten liebe.» In der Tat sollte Humperdinck auch die «Königskinder» auf die Musiktheaterbühne bringen, wobei deren zweite Fassung gar an der Metropolitan Opera in New York ihre Uraufführung erlebte, außerdem «Dornröschen» sowie in Form von Lieder- oder Singspielen «Schneewittchen» und «Die sieben Geißlein» – nicht zu vergessen seinen größten und bis heute andauernden Erfolg mit der Oper «Hänsel und Gretel», die Kinder und Erwachsene gleichermaßen begeistert.

«Es war einmal ein armer Holzhauer, der lebte mit seiner Frau und zwei Kindern in einer dürftigen Waldhütte»: So beginnt das Märchen, und zwar nicht in der von den Gebrüdern Grimm aufgezeichneten und in den 1810er-Jahren erstmals gedruckten Fassung, sondern in jener Version, die Ludwig Bechstein 1845 in seinem «Deutschen Märchenbuch» veröffentlicht hat. Diese im 19. Jahrhundert zunächst weiter verbreitete Variante liegt auch Humperdincks Vertonung zugrunde – wobei die Entstehungsgeschichte mehrere Schritte umfasst. «Hatten die Brüder Grimm», so beschreibt Julia Liebscher den literarischen Sachverhalt, «Volksmärchen als Inbegriff und Urgestalt der Poesie empfunden, und versuchten sie, die Texte im authentischen Wortlaut, phonographisch getreu aufzuzeichnen, so stand für Bechstein, der sich weniger um den Erhalt der schlichten Volkssprache bemühte, die plakative, drastische Schilderung im Vordergrund; sein subjektiv geprägter Stil tendiert zu theatraler Übertreibung.

Einer Bühnenbearbeitung schien diese Version deshalb eher entgegenzukommen als die stille Erzählweise der Brüder Grimm mit ihrem leisen, anheimelnd-bezaubernden Tonfall.» Als Humperdincks Schwester Adelheid Wette ein Märchenspiel schrieb, das ihre Kinder zum Geburtstag ihres Mannes aufführen sollten, hatte sie die Handlung freilich von einigen brutalen Motiven befreit oder diese gemildert. Humperdinck komponierte im Mai 1890 vier zweistimmige Lieder zu den Texten und versah diese als getreuer Wagnerianer in Anspielung auf den salbungsvollen Untertitel «Bühnenweihfestspiel» des «Parsifal» mit der ironischen Bezeichnung «Kinderstuben-Weihfestspiel». Wegen des großen Erfolges in der Familie aber wurde das Werkchen zum Singspiel ausgebaut, wobei Humperdincks Vater und Schwager Wette auch ihre Beiträge in dramaturgischer und textlicher Hinsicht leisteten.

Im Dezember 1890 schließlich fiel der Entschluss, eine vollgültige Oper daraus zu machen – wobei der Komponist zunächst über die damit verbundenen Mühen klagte: «Dieser ewige Dialog, der eigentlich für kleine Kinder berechnet ist, die keine langen Geschichten hersagen können, ist sehr undankbar für die 3 musikalische Behandlung. Das gibt lauter Miniatur- und Ziselierarbeit, bei welcher kein gesunder musikalischer Gedanke aufkommen kann.» Doch schließlich ist ihm das unmöglich Erscheinende gelungen – und zwar gerade durch die spezielle Verbindung von überschaubarem Liedchen und durchkomponierter Großform nach Wagner’schem Vorbild, durch dessen ausgefeilte Leitmotivtechnik eines vollen Orchesters und bezauberndem Volkston.

Die Suite, die eigens für die Aufführung unter der Leitung des jungen Grazer Dirigenten Patrick Hahn im Dezember 2018 in Grafenegg zusammengestellt worden war, beginnt mit dem Vorspiel. Es nimmt einige der wichtigsten und prächtigsten Melodien der Oper vorweg. So stimmen Hörner und Fagotte im «Abendsegen» einen weihevollen Ton an: In der Oper wachen «vierzehn Schutzengel» über die im Wald schlafenden Kinder. Humperdinck begnügt sich aber nicht mit einer bloßen Aneinanderreihung einiger Hits, sondern präsentiert die Motive in kunstvoller symphonischer Verarbeitung und vielfältigen Kombinationen, wobei der choralartige «Abendsegen» die Grundlage bildet.

Daraufhin geht es sogleich in medias res: Humperdinck verwebt in seiner Partitur Kinderlieder wie «Ein Männlein steht im Walde» und «Brüderchen, komm tanz’ mit mir» perfekt mit dem spätromantischen Orchesterklang; fröhliche Duette und Wagner’sche Dialoge gehen geschmeidig ineinander über. Die neue Zusammenstellung verknüpft die entsprechenden Stellen aus zweitem und erstem Bild auf charmante Weise. Szenenwechsel – hin zum zauberhaften Knusperhäuschen: Die Kinder fühlen sich magisch von ihm angezogen und singen verzückt bei seinem Anblick. Wenn sie nur ahnten, wer darin auf sie wartet! Der dramatische «Hexenritt», beinah so etwas wie eine selbständige symphonische Dichtung, lässt an der drohenden Gefahr keinen Zweifel. Im Konzertsaal aber ist diese sogleich gebannt: Mit dem «Knusperwalzer» feiern die Kinder ihren Sieg über das Böse. Der Ausklang freilich ist nicht triumphal, sondern besinnlich – und führt mit dem schlichten Lied des Sandmännchens zur friedvollen Abendstimmung zurück, mit der dieser märchenhafte Opernquerschnitt begonnen hat.

Die Uraufführung am Weimarer Hoftheater am 23. Dezember 1893 dirigierte kein Geringerer als Richard Strauss, der Humperdinck später in einem Brief höchste Anerkennung zollte: «Welch herzerfrischender Humor, welch köstliche naive Melodik, welche Kunst und Feinheit in der Behandlung des Orchesters, welche Vollendung in der Gestaltung des Ganzen.»

Walter Weidringer

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