Archiv: Schostakowitsch 10

Wien Musikverein Großer Saal Musikverein | Großer Saal

Interpreten

  • Alina Pogostkina, Violine
  • Michal Nesterowicz, Dirigent

Programm

Was ist sie wirklich, diese zehnte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, in der sein Biograf Solomon Wolkow «das schreckliche Gesicht von Stalin» sah: das Psychogramm eines Getriebenen? Ein «Bild des Wahnsinns»? Die Abrechnung mit einem der brutalsten Diktatoren der Geschichte? Schostakowitschs «Zehnte», nur wenige Monate nach Josef Stalins Tod in Leningrad uraufgeführt, thematisiert die Befreiung des menschlichen Geistes und das Recht des Künstlers auf Unabhängigkeit. Ebenso wie Schostakowitsch litt auch der polnische Komponist Witold Lutosławski unter den Schikanen des stalinistischen Systems. Mit seiner temperamentvollen «Kleinen Suite» eröffnen die Tonkünstler und der polnische Dirigent Michał Nesterowicz den Abend, bevor mit Alina Pogostkina eine der gegenwärtig erfolgreichsten jungen Violinvirtuosinnen die Bühne betritt. Die aus St. Petersburg stammende Stargeigerin gestaltet den Solopart im Violinkonzert a-Moll ihres Landsmannes Alexander Glasunow, einem der letzten großen Gattungsbeispiele der Spätromantik.

Aus dispositorischen Gründen hat Isabelle Faust ihr ursprünglich für dieses Programm vorgesehenes Engagement abgesagt. Wir freuen uns sehr über das Einspringen der aus St. Petersburg stammenden Stargeigerin Alina Pogostkina.

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Witold Lutoslawski

«Mala suita» | «Kleine Suite» für Orchester

Sätze

  • Fujarka

  • Hurra-Polka

  • Lied

  • Tanz

Dauer

11 Min.

Die Freude am Experimentieren und Auskundschaften alternativer Wege - diese Merkmale zählen zu den wichtigen Eigenschaften einer Künstlerpersönlichkeit. Witold Lutoslawski ist ein Paradebeispiel für einen sich wandelnden und immer wieder neu erfindenden Komponisten; sein OEuvre entstand über einen Zeitraum von annähernd 70 Jahren und umfasste mehrere Schaffensperioden: Unter dem strengen Auge der stalinistischen Kulturpolitik, die auch in Polen bindend war, begann Lutoslawskis Karriere mit vorsichtigen Schritten. Aneignungen polnischer Volksmusik finden sich in vielen seiner Werke bis zur Entstalinisierung; Höhe- und gleichzeitig Schlusspunkt dieser Schaffensphase war das Konzert für Orchester (1950-54).

Ein schon früher entstandenes Meisterstück dieser Periode ist die heute aufgeführte «Mala suita», also eine «Kleine Suite», die 1949 bei Lutos?awski von einem Rundfunkensemble in Auftrag gegeben wurde, das sich auf Arrangements traditioneller Musik spezialisiert hatte. Für den Komponisten war der Auftrag eine Gelegenheit, der von ihm selbst so bezeichneten «Gebrauchsmusik » besondere Qualitäten zu verleihen und den einfachen Melodien «ein völlig neues Gesicht» zu geben, wie er sagte. Zur Anwendung kam eine Technik, in der die einfachen Weisen an sich unverändert blieben, durch die unüblich harmonische Ausgestaltung entstand aber ein gänzlich neuartiger Höreindruck.

Die vier Sätze der Suite beziehen ihre Melodien aus der polnischen Region Rzeszów und haben insgesamt einen betont bodenständigen Charakter: Fujarka (Pfeifchen) eröffnet mit einer verträumten Melodie, begleitet von den Streichern. Rasch übernimmt das Orchester die Führung und bringt mit einem stark an Strawinskis «Le sacre du printemps» erinnernden Rhythmus mehr Tempo ins Spiel. Die kleine Flötenmelodie tritt immer wieder mit dem Orchester in einen Dialog und lässt den Satz zu einem breiten Akkord hin ausrollen, bevor sie nochmals einsam verhallt. Weiter geht die muntere Landpartie mit der Hurra-Polka, die in wenigen Takten ein ausgelassenes Fest auf dem Dorfplatz schildert und in starkem Kontrast steht zur folgenden Piosenka (Lied). Auch hier eröffnet ein einsames Blasinstrument (Klarinette), zu dem sich bald die Flöte gesellt und mit einer einfachen Melodie den bukolischen Charakter der Suite unterstreicht. Das Orchester tritt fast unbemerkt hinzu und verwandelt die Piosenka in einen schwelgerischen Strom voll Wehmut, bis das Orchester mit zwei ruhigen Akkorden den Satz beschließt. Der finale Taniec (Tanz) ist der längste Satz der «Kleinen Suite» und zeigt die harmonische Feinarbeit Lutoslawskis besonders eindrucksvoll. Nach einer spritzigen Eröffnung beschwört das Orchester im ruhigeren Mittelteil große Landschaftsbilder herauf, um wieder zur Munterkeit des Anfangs zurückzukehren. Wie ein kecker Nachsatz wirken die letzten Takte, die mit Klamauk das Werk herrlich abrunden.

NÖ Tonkünstler Betriebgesellschaft m.b.H. | Alexander Moore

Alexander Glasunow

Konzert für Violine und Orchester a-Moll op. 82

Sätze

  • Moderato - Andante sostenuto - Più animato - Allegro

Dauer

37 Min.

Entstehung

1904

Alexander Glasunow war zu Lebzeiten eine gefeierte Größe, sein Name war gleichbedeutend mit musikalischer Meisterschaft ersten Ranges und ein geflügelter Begriff in der europäischen Musikwelt. Von seinem fulminanten Erstlingserfolg mit seiner ersten Symphonie (1880-82), die er mit nur 16 Jahren komponierte, bis zu seinen Spätwerken in den frühen 1930er-Jahren zieht sich eine kometenhafte Karriere als Komponist und Pädagoge, ferner auch als Pianist und Dirigent. In eine wohlhabende Familie hineingeboren, erhielt Glasunow nie eine formale Musikausbildung. Die sonntägliche Einzelstunde bei Nikolai Rimski-Korsakow genügte, um das große Talent des jungen Alexander zur Entfaltung zu bringen. Ins Konservatorium seiner Heimatstadt St. Petersburg trat Glasunow später doch ein, dann aber gleich als Professor; in der Folge leitete er das Institut mehr als 20 Jahre lang. Noch als Gymnasiast wurde der junge Komponist in den Kreis des «Mächtigen Häufleins» aufgenommen, um dort dem früh verstorbenen Modest Mussorgski nachzufolgen. Gemeinsam mit Mili Balakirew, Nikolai Rimski-Korsakow, Alexander Borodin und César Cui setzte sich Glasunow für eine eigenständige russische Musik ein, die sich unbeeindruckt von westeuropäischen Einflüssen entwickeln sollte. Das war freilich leichter theoretisch formuliert als praktisch komponiert. Vor allem Glasunow gelang jedoch die gewünschte Synthese aus Heimatverbundenheit und musikalischer Finesse auf höchstem Niveau. In seinen späteren Jahren erinnerte sich Igor Strawinski an seine Jugendtage: «Ich teilte diese allgemeine Begeisterung damals vollständig und war ein verzauberter Bewunderer der Meisterschaft dieses Weisen.» Später sollte Glasunows Schüler Dmitri Schostakowitsch feststellen, dass sein sehr verehrter Lehrer vor dem Hintergrund jüngerer Entwicklungen in der russischen Musik schließlich wirkte «wie ein altslawischer Schrank unter anderen Großstadtmöbeln», was seiner Wertschätzung freilich keinen Abbruch tat.

Das Konzert für Violine und Orchester op. 82 entstand 1904, als Glasunow eine bestimmende Größe im Musikleben seiner Heimat war. Gewidmet ist das Werk dem berühmten Geiger Leopold Auer (der viele Jahre zuvor Tschaikowskis Violinkonzert für unspielbar erklärt hatte), der das neue Werk von Glasunow am 15. Februar 1905 erstmals der Öffentlichkeit präsentierte ? nur wenige Wochen nach dem «Blutsonntag», der den Anfang der russischen Revolution markierte. Von politischen Unruhen ist in Glasunows Konzert freilich nichts zu bemerken: Äußerlich erscheint es wie aus einem Guss - doch lassen sich Abschnitte festmachen, die der traditionellen Dreisätzigkeit des Instrumentalkonzerts entsprechen. Der erste Satz (Moderato) eröffnet mit einer melancholischen Träumerei; die Violine zieht singend ihre Kreise und spinnt musikalische Gedanken fort, ohne auf technische Brillanz zu verzichten. Der glänzende Orchestrator Glasunow verstand sich wie kaum jemand darauf, Orchestersoli wie selbstverständlich kunstvoll und behutsam mit dem Soloinstrument zu verknüpfen.

Erinnerte die chromatische Färbung der Themen im Kopfsatz an slawische Weisen, so klingt das nahtlos an die Eröffnung anknüpfende Andante zunächst romantisch-schwelgerisch. Eingebettet in den Mittelsatz ist auch die Solokadenz, die Glasunow ebenfalls selbst komponierte, obwohl nach Angaben der Nachwelt seine virtuosen Fähigkeiten auf der Geige nicht an die des Widmungsträgers Leopold Auer heranreichten. Das Ende der Kadenz (Più animato) bilden schnelle himmelwärts schießende Trillerläufe über dem bebenden Orchester, bevor mit einem reizvollen Fanfarenmotiv (Trompeten und Solovioline) das Finale (Allegro) eröffnet wird. Die ausgelassene Stimmung des Schlusssatzes wird getragen von Anspielungen auf ländliche Feste, man hört die Imitation eines Dudelsacks und deutliche Anklänge an die russische Balalaika. In kräftigen Orchesterfarben zieht es die muntere Jagdgesellschaft zu einem imaginären Festplatz hin, von dem aus die Solovioline mit einem letzten virtuosen Höhenflug ein herrliches Feuerwerk aufsteigen lässt.

NÖ Tonkünstler Betriebgesellschaft m.b.H. | Alexander Moore

Dmitri Schostakowitsch

Symphonie Nr. 10 e-Moll op. 93

Sätze

  • Moderato

  • Allegro

  • Allegretto

  • Andante - Allegro

Dauer

50 Min.

Entstehung

1953

Dmitri Schostakowitsch darf heute nicht nur als bedeutendster, sondern auch als populärster Schöpfer von Opern, Symphonien und Streichquartetten gelten, den das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Gleichzeitig ist Schostakowitsch aber auch eine Art unbekannter Größe der Musikgeschichte geblieben: Mit allen Symp-tomen gravierenden moralischen Zwiespalts spielte er die von offi-zieller sowjetischer Seite ihm zugedachte Rolle des international anerkannten Vorzeigekomponisten der UdSSR, ohne jedoch dadurch vor lebensbedrohlichen Repressalien gefeit gewesen zu sein. Schostakowitschs Suche nach künstlerischer Freiheit in den zuweilen quälend engen Grenzen politischer Doktrin ließ ihn immer wieder zu verzweifelten Tricks greifen, hinter der nolens volens angelegten Larve seine künstlerische und menschliche Integrität zu wahren. So erscheint seine Musik als Flaschenpost, die erst entkorkt und entschlüsselt werden muss, will man sie nicht fahrlässig missverstehen.

1906 in St. Petersburg geboren, begann der Sohn eines Wissenschafters und einer Konzertpianistin dreizehnjährig das Musikstudium am dortigen Konservatorium. Als er es 1925 abschloss, hieß die Stadt bereits Leningrad und war zu einem pulsierenden Zentrum internationalen Musiklebens geworden, in dem gewiss niemand daran dachte, dass die Avantgarde einmal per Dekret verboten werden könnte: Nicht nur die Opern von Richard Strauss und Franz Schreker wurden gespielt, auch der Wozzeck erlebte 1927 (in Anwesenheit Alban Bergs und drei Jahre vor Wien!) hier seine russische Erstaufführung; Werke von Schönberg, Strawinski, Bartók, Hindemith, Honegger oder Milhaud spiegelten die irisierend-befruchtende Stilvielfalt jener Jahre, in der sich auch Schostakowitschs Abschlussarbeit sofort behaupten konnte: Die bis heute beliebte 1. Symphonie errang rasch Erfolg in Europa, Nord- und Südamerika, ab 1931 auch unter keinem geringeren als Arturo Toscanini, und markierte den Beginn einer vielversprechenden Komponistenkarriere.

2. und 3. Symphonie taugten schon weit weniger für eine Vermarktung im sogenannten Westen: Unter Chorbeteiligung werden der zehnte Jahrestag der Oktoberevolution bzw. der 1. Mai hymnisch gefeiert. Kompositorisch betrat Schostakowitsch aber völliges Neuland – der eröffnende dreizehnstimmige Kanon der 2. gemahnt in der fast mikropolyphonen Verästelung an Ligeti; die 3. scheint dagegen musikalisch gemäßigter, experimentiert aber mit einer wiederholungslosen, stets fortschreitenden formalen Struktur. Zum noch kühneren Meilenstein in seiner Entwicklung geriet sein ganz der Avantgarde verpflichteter Opernerstling «Die Nase» (1930) nach Gogols beißender Satire, in dem sich persiflierte Unterhaltungs-musik mit kontrapunktischen Kabinettstücken mischen und, erstmals in der Musikgeschichte, eine ganze Szene allein vom Schlagwerk getragen wird. Hatte sich Schostakowitsch damit endgültig als Enfant terrible unter den führenden Komponisten im russischen Musikleben etabliert, festigte 1934 eine weitere Oper auch seinen internationalen Ruf. Die Freude über den triumphalen Erfolg der «Lady Macbeth von Mzensk», einer Art russischer Kusine von Bergs etwa gleichzeitig entstandener «Lulu», sollte jedoch nur zwei Jahre währen – bis zu jenem berühmt-berüchtigten Artikel in der Prawda vom Jänner 1936.

«Von der ersten Minute an», heißt es in dem infamen, angeblich von Stalin selbst stammenden Text, «verblüfft den Hörer in dieser Oper die betont disharmonische, chaotische Flut von Tönen, Bruchstücke von Melodien, Keime einer musikalischen Phrase versinken, reißen sich los, und tauchen erneut unter in Gepolter, Geprassel und Gekreisch. [...] Die Fähigkeit guter Musik, die Massen mitzureißen, wird hier kleinbürgerlichen, formalistischen Anstrengungen und der Verkrampfung geopfert, damit man mit den Methoden der Originalitätshascherei Originalität vortäuschen kann. Das ist ein Spiel mit ernsthaften Dingen, das übel ausgehen kann.»

Der letzte hier zitierte Satz war ein zynischer Euphemismus: «Übel ausgehen» sollte es bei Stalins «Säuberungen», die ab nun als Welle staatlichen Terrors das Land erschütterten und mit denen er sich seiner politischen Gegner entledigte, für nicht weniger als sieben Millionen Menschen, zu denen auch Künstler wie Isaak Babel oder Ossip Mandelstam zählten. Schlagartig sah auch Schostakowitsch sich in seiner künstlerischen und menschlichen Existenz an den Rand des Abgrunds gedrängt: Monatelang verbrachte er, ein Freund bereits hingerichteter «Volksfeinde», die Nächte schlaflos, angekleidet und mit einem gepackten Koffer bei der Hand – in Erwartung seiner Verhaftung. Doch die Schergen blieben aus.

Es gelang Schostakowitsch, der Panik-Attacken und Depressionen Herr zu werden: Als «Praktische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik» schrieb er im Frühling 1937 seine 5. Symphonie, deren Uraufführung zu einem grandiosen Erfolg wurde; das Werk fand Gnade vor den Parteibonzen und erlaubte die volle Rehabilitierung des Komponisten –  doch der staatlich angeordnete, massenwirksame «Optimismus» des Werks, das auf jedes Experiment verzichtet, vor allem der bombastische Schluss, ist nur Fassade. «Man muss schon ein kompletter Trottel sein, um das nicht zu hören», soll der Komponist seinen engsten Freunden anvertraut haben. Man hörte es und sagte es hinter vorgehaltener Hand weiter: Nicht nur Künstler wie Sofia Gubaidulina, Alexander Fadejew oder Sergej Prokofiew verstanden die Doppelbödigkeit und geheime Botschaft, sondern spontan auch das russische Publikum. Schostakowitsch hatte sich hinter der offiziellen Maske zum Sprachrohr der Unterdrückten gemacht. Das geschändete Russland war Inhalt des emotionalen Programms der Symphonie, deren Schluss an die Oper «Boris Godunow» von Modest Mussorgski erinnert: Auch dort wird das Volk mit der Knute gezwungen, dem Zaren zuzujubeln.

Die 7. Symphonie, entstanden 1941 im von Hitlers Wehrmacht belagerten Leningrad, machte Schostakowitsch dann zu jenem künstlerischen Aushängeschild, das Stalin im politischen Kontakt zu den West-Alliierten gerne benutzte. Bald nach den ersten Aufführungen in der UdSSR wurde die Partitur auf Mikrofilm in die USA gebracht, wo das Stück ebenso propagandistische Verwendung fand und, wie die 1943 folgende 8., die mit Stalingrad assoziiert wird, auf ein begeistertes Millionenpublikum auch im Westen traf. Dass Schostakowitsch dann in seiner 9. Symphonie, uraufgeführt am 3. November 1945, absolut keinen pathetischen Weltkriegs-Siegestaumel anstimmte, sondern eine parodistisch-ätzende

«‚Symphonie classique‘ mit Widerhaken» (Frank Reinisch) lieferte, brachte ihn erneut in die Bredouille. Als er sich erneut wegen «formalistischer Verzerrungen und antidemokratischer Tendenzen» vor dem Zentralkomitee verantworten musste, lieferte das dem Westen Munition gegen die restriktive sowjetische Kulturpolitik im Kalten Krieg und steigerte das Interesse an Schostakowitschs Œuvre weiter, während der Komponist nach öffentlichen Bußbekenntnissen erst durch ein Stalin feierndes Oratorium (1949) wieder Fuß fassen konnte. Gänzlich in die innere Emigration gedrängt, wagte er Widerstand «nur» in der Kunst selbst, verschlüsselt und verpackt: als Ironie, deren Dosis von der Prise bis zur Steigerung ins Groteske reichen konnte, als bewusst aufgeblasenes Pathos. Um so erschütternder wirken dagegen die bodenlosen Abgründe, das düstere Aufbegehren und die verzweifelten Töne, die er nicht zuletzt in seinen Symphonien immer wieder anschlägt.

Die Symphonie Nr. 10 e-Moll op. 93 stellt dabei einen entscheidenden Wendepunkt dar – nach der bewusst knappen Vorgängerin wieder ein groß dimensioniertes, dabei aber ganz genau und konzis gearbeitetes Werk. Uraufgeführt in Leningrad am 17. Dezember 1953, also neun Monate nach Stalins Tod, stellt die in der UdSSR lange Zeit noch kontrovers diskutierte Musik eine Abrechnung mit seiner Ära dar, ruft aus ganz persönlicher Sicht des Komponisten Erinnerungen an das Terrorregime wach, drückt die moralischen Gefahren ebenso wie jene für Leib und Leben aus, hält sich erneut eine groteske Maske vors Gesicht, hinter der sonst die nackte Angst hervorstarren würde – und wagt bei allem schmerzlichen Misstrauen doch auch einen vorsichtig optimistischen Blick in die Zukunft. Indem er ab dem dritten Satz seine Initialen D. Sch. als viertöniges Leitmotiv D – Es – C – H verwendet, stellt sich Schostakowitsch selbst als Akteur in diesen autobiografischen Stimmungsbildern aus finster-ster Zeit dar. Der über zwanzig Minuten dauernde, depressiv anmutende Stirnsatz (Moderato) mit seinen zu Beginn aus den Streicherbässen aufsteigenden, schmerzlich-düsteren, oft chromatischen Themen steigert sich zu peinigenden, vom Schlagzeug untermauerten Höhepunkten, bevor er wieder in sich selbst zusammensinkt. In extremem Kontrast dazu bricht sodann der kurze und schnelle zweite Satz (Allegro) los, in dem Stalin selbst porträtiert wird: verhetzt, getrieben, brutal, fratzenhaft verzerrt – ein treffend scheußliches Bild. Das Holzbläser-Thema des Diktators wird im dritten Satz (Allegretto) dann mit dem erwähnten Vierton-Thema des Komponisten konfrontiert, wobei der tänzerische Charakter der Musik sich folgerichtig ins Brutale wendet. Das leise letzte Wort hat dennoch das D – Es – C – H. Das Finale schließlich (Andante) nimmt nach einer erneut herb-dunklen Einleitung eine unvermutete Wendung ins Ausgelassene. Die ein letztes Mal sich zu Wort meldenden Stalin-Klänge werden vertrieben – vom insistierenden, glanzvoll gesteigerten Schostakowitsch-Thema. Kein Sieg der Partei oder des «sowjetischen Menschen» wird hier inszeniert, den zu feiern die Apparatschiks angeordnet hatten, sondern wir werden Zeuge eines persönlichen Triumphes: Der Diktator ist tot – und ich habe trotzdem überlebt.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Walter Weidringer