Archiv: Großbritannien-Tournee 2017: Cardiff

Cardiff St David s Hall St David's Hall

Interpreten

  • Angela Hewitt, Klavier
  • Yutaka Sado, Dirigent

Programm

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Wolfgang Amadeus Mozart

Ouvertüre zur Oper «Le nozze di Figaro» KV 492

Dauer

4 Min.

Entstehung

1786

Wolfgang Amadeus Mozart war überrascht, als er mit seiner Frau Konstanze im Jänner 1787 bei einem Besuch in Prag «auf den sogenannten breitfeldischen ball, wo sich der kern der Prager schönheiten zu versammeln pflegt», die dort zum Tanz aufgespielte Musik hörte. Mozart tanzte zwar aus Müdigkeit nicht, wie er seinem Freund Gottfried von Jacquin schrieb, «ich sah aber mit ganzen Vergnügen zu, wie alle diese leute auf die Musick meiner figaro, in lauter Contretänze und teutsche verwandelt, so innig vergnügt herumsprangen; – denn hier wird von nichts gesprochen als vom – figaro; nichts gespielt, geblasen, gesungen, gepfiffen als – figaro: keine Oper besucht als – figaro und Ewig figaro; gewiss große Ehre für mich.» Einen solchen Erfolg seiner Opera buffa «Le nozze di Figaro», die am 1. Mai 1786 am alten Wiener Burgtheater ihre durchaus akklamierte Premiere erlebt hatte, aber vorerst bald wieder vom Spielplan verschwunden war, hatte er nicht erwartet. In der Tat war es die enorme Resonanz der Aufführungen am Prager Ständetheater, die dem «Figaro» den Weg in ganz Europa und auch wieder zurück nach Wien ebnete.

Nicht nur auf den Opernbühnen zählt das Werk zu den beliebtesten überhaupt, die Ouvertüre ist auch im Konzertsaal als brillantes Eröffnungs- oder auch Zugabenstück anzutreffen. Angesichts ihrer gewohnt quirlig-sprudelnden, nie versiegenden Vitalität mit scharfen dynamischen Kontrasten und einem enormen Crescendo gegen Ende ist heute kaum zu glauben, dass Mozart ursprünglich einen langsamen Mittelteil geplant hatte, diesen aber noch vor der Uraufführung eliminiert hat. «Weder vorher noch nachher ist der natürliche, unbändige Lebenstrieb nach seiner heiteren, daseinsfrohen Seite so unmittelbar in Töne umgesetzt worden wie hier», beschrieb Hermann Abert vor bald 100 Jahren die Ouvertüre. «Bewegung in der höchsten Potenz ist alles an diesem Stück. Wie von weiter Ferne kommt sie in dem berühmten Siebentakter herangehuscht, erst nach zweimaligem Ansetzen ihren vollen Lauf gewinnend. Dann aber regt sich’s an allen Ecken und Enden, lacht, kichert, triumphiert, im Vorüberbrausen springen beständig neue Quellen auf, und schließlich jagt das Ganze in bacchantischem Schwall dem jubelnden Ende zu.»

Die Frage nach dem korrekten Tempo wird heutzutage allerdings kontrovers diskutiert: Freilich steht «Presto» in der Partitur, doch findet sich im Autograph der in Drucken unterschlagene Zusatz «ma non tanto» sowie unmissverständlich C-Takt, nicht Alla breve … Sei’s drum: Ob sie nun überschäumend losprescht und unbremsbar erscheint oder zunächst heimlich daherhuscht und neben der «comédie humaine» auch das virtuose Kabalen- und Ränkespiel betont, verfehlt diese Ouvertüre ihre Wirkung nicht – und leitet auch dem Arienteil des heutigen Abends trefflich ein.

© Grafenegg Kulturbetriebsges.m.b.H. | Walter Weidringer

Ludwig van Beethoven

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 G-Dur op. 58

Sätze

  • Allegro moderato

  • Andante con moto

  • Rondo. Vivace

Dauer

34 Min.

Entstehung

1805/06

Das Klavierkonzert Nr. 4 in G-Dur op. 58 von Ludwig van Beethoven entstand in den Jahren 1805 bis 1806. Es wurde im März 1807 in Wien bei einem vom Komponisten veranstalteten Subskriptionskonzert im Palais Lobkowitz mit Beethoven als Solisten aus der Taufe gehoben. Am gleichen Abend erklangen auch erstmals die Coriolan-Ouvertüre und die vierte Symphonie. Die «offizielle» Uraufführung fand am 22. Dezember 1808 im Theater an der Wien statt, ebenfalls mit Beethoven am Klavier. – Gern wird über das vierte Klavierkonzert gesagt, es sei in einer ruhigeren, ja lyrischen Phase Beethovens entstanden, während die beinahe gleichzeitig geschriebene Appassionata sowie die zuvor entstandene Eroica als größere Kraftanstrengung des Komponisten zu lesen seien. Betrachtet man das vierte Klavierkonzert jedoch insgesamt, so stellt sich heraus, dass sich die Bezeichnung «lyrisch» vor allem aus dem Charakter des Kopfsatzes ergibt und damit eine starke Verkürzung, wenn nicht gar ein Klischee darstellt. Fest steht jedenfalls, dass Beethoven sein viertes Klavierkonzert seinem Gönner und langjährigen Klavierschüler Erzherzog Rudolph von Österreich widmete. Fest steht auch, dass Beethoven mit diesem Werk ein gewaltiger Vorstoß im Vergleich zu seinen drei früher entstandenen Klavierkonzerten gelang. Die in der Musikwissenschaft so oft diskutierte Verschmelzung zwischen Symphonie und Klavierkonzert zum sogenannten symphonischen Klavierkonzert findet hier einen Anfang. Vor allem aber war das Konzert ein Befreiungsschlag vom großen Vorbild Mozart, zu dem Beethoven bereits mit dem dritten Klavierkonzert angesetzt hatte.

Dieser Befreiungsschlag setzt gleich mit dem Beginn des Kopfsatzes ein – allerdings nicht als ein Schlag, sondern im Gegenteil: völlig allein und als erster intoniert der Solist in kontemplativer Ruhe das Hauptthema. Die ersten Akkorde erklingen piano und dolce, gewissermaßen in versonnener Stimmung, auf die die Bezeichnung «lyrisch» in der Tat zutrifft. Ein Konzertanfang also, der ohne Beispiel ist: kein lärmendes Orchestertutti, in das der Virtuose triumphal hineindonnert, sondern vielmehr der Beginn eines mit höchster Feinheit konzipierten «Gesprächs» zwischen dem Klavier und den anderen Instrumenten. Bereits hier kann gesagt werden, dass Beethoven in diesem Werk das konzertante Prinzip neu gefasst hat. In den Rahmensätzen des vierten Klavierkonzerts hebt er den Gegensatz von Solo und Tutti auf, vielmehr wächst wie selbstverständlich eines aus dem anderen heraus. Statt eines Gegeneinanders hört man also im ersten Satz ein «Gespräch unter vernünftigen Leuten» im Goethe’schen Sinne.

Erst nach der beschriebenen lyrischen Einleitung setzt das Orchester zur Tutti-Exposition an, wendet das Thema überraschend nach H-Dur, entwickelt es weiter und moduliert es zurück in die Ausgangstonart G-Dur. Das folgende zweite Thema wirkt ein wenig geheimnisvoll und ist von schwebendem Charakter.  Es wird zunächst in a-moll vorgetragen, erklingt anschließend jedoch sieghaft gesteigert in C-Dur. Der Solist kann im Verlauf der Durchführung und der leicht veränderten Reprise seine gesamte Virtuosität darbieten. Doch steht diese nie als Effekt im Vordergrund, sondern ordnet sich völlig in den Gesamtklang ein. Zwei Kadenzen schrieb Beethoven für dieses Konzert: die erste, von Beethoven selbst bevorzugte Kadenz ist themenbezogener und entwickelt ihre Virtuosität bis zum Ende hin. Die zweite, «Triolenkadenz» genannt, wird heute von den meisten Pianisten bevorzugt. Der Kadenz folgt ein letzter lyrischer Teil mit einem Zitat des Hauptthemas, bevor der gewaltige Satz einen glanzvollen Abschluss durch das Orchester findet.

Noch bemerkenswerter als der erste ist sicherlich der zweite Satz, Andante con moto. Er hat zwar die Kürze, aber nicht den Charakter eines Intermezzos; man könnte ihn mit dem Begriff «Dialog», vielleicht auch «ernstes Gespräch» beschreiben. Zwei zu Beginn völlig gegensätzlich erscheinende Partner nähern sich im Satzverlauf einander an; der ursprünglich stärker erscheinende (das Orchester) überlässt am Ende dem introvertierten Klavier das Feld. Schroff beginnt die «Auseinandersetzung» mit einem punktierten Streicher-Unisono, dem das Klavier beinahe choralartig mit melancholisch flehender Kantilene antwortet. Die erneute Entgegnung des Orchesters ist nun noch entschiedener und am Ende beinahe drohend auffahrend, das Klavier hingegen bleibt ganz verhalten und in sich gekehrt. Nun verkürzen sich die Dialogabschnitte deutlich, bis nur noch kurze Auftaktfiguren des Orchesters übrig bleiben, die sich in den Klaviergesang mischen und die Streicher sich ganz ins piano zurückziehen. Übrig bleibt das Klavier, dessen Figurationen in eine quasi improvisierte Kadenz auslaufen. Der Satz ist ohne formales Schema wie eine Opernszene aufgebaut und die poetisierenden Hinweise, es handele sich um eine Darstellung des die Furien besänftigenden Orpheus, sind nicht von der Hand zu weisen.

Waren im Andante alle Bläser ausgespart, so erklingt im Finale nun der festliche Glanz der vollen Orchesterbesetzung (mit Trompeten und Pauken) und bietet dem Solisten reiche Entfaltungsmöglichkeiten seines virtuosen Könnens. Obwohl die Haupttonart dieses Satzes G-Dur ist, steht sein erstes Thema in C-Dur, was im unmittelbaren Anschluss an das vorangegangene e-moll des Andante von pikanter Wirkung ist. Die einzelnen Gruppen sind breit und phantasievoll ausgebaut. Formal ist das Rondo einer Sonatensatzform ohne Durchführung angenähert, da es nur aus der Hauptgruppe sowie einer Zwischengruppe und deren Reprisen gestaltet ist. Zweifellos schlägt Beethoven mit seinem G-Dur-Konzert Brücken zur nachfolgenden Epoche der Romantik. Auch wenn es nicht so populär wurde wie andere Werke des Meisters, beeinflusste es nachfolgende Künstler in bedeutendem Maße: Schumann, Mendelssohn und Chopin sind diesem neuen Stil der atmosphärischen Dichte spürbar verpflichtet. Nicht umsonst nannte Schumann dieses Werk Beethovens «vielleicht größtes Klavierkonzert».

© NÖ Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Karin Martensen

Antonín Dvorák

Symphonie Nr. 9 e-Moll op. 95 «Aus der Neuen Welt»

Sätze

  • Adagio - Allegro molto

  • Largo

  • Scherzo. Molto vivace

  • Allegro con fuoco

Dauer

40 Min.

Entstehung

1893

Antonín Dvorák hatte das Angebot rundweg abgelehnt, als ihm im Juni 1891 die Leitung des Nationalen Konservatoriums inNew York angetragen worden war: Mit den erst jüngst übernommenen Aufgaben eines Professors am Prager Konservatorium, wo er Formenlehre, Komposition und Instrumentation unterrichtete, fühlte sich der fünfzigjährige Komponist, Dirigent, Ehemann und Vater von sechs Kindern zwischen dreizehn und drei Jahren voll ausgelastet - und verspürte nicht zuletzt auch eine patriotische Verpflichtung dem tschechischen Volk gegenüber. Doch Jeannette Thurber ließ nicht locker: Die Tochter dänischer Einwanderer hatte Europa bereist, in Paris studiert und schließlich in den amerikanischen Geldadel eingeheiratet. Ihr acht Jahre älterer Ehemann Francis Thurber war in New York vom Botenjungen zum Direktor einer der bedeutendsten Handelsketten des Landes aufgestiegen. Mit seinem millionenschweren Rückhalt konnte sich Jeannette fortan ganz ihrem Hobby verschreiben: der Musik. Als Präsidentin des Conservatory of Music in New York war die Gründung einer eigenständigen amerikanischen Musikkultur ihr erklärtes Ziel. Zum 400. Jahrestag der Entdeckung Amerikas sollte ein europäischer Experte als Direktor ihres Instituts entscheidenden Anteil daran haben, «dem Kontinent, den Kolumbus entdeckte, eine Neue Welt der Musik hinzuzufügen». Die logische Wahl fiel auf Antonín Dvorák - schließlich, so Mrs. Thurbers Argumentation, hatte der berühmte Tscheche auch der Musik seiner Heimat ein unverwechselbares Gesicht im Rahmen westlicher Kunstmusik verleihen können. Und weil sie nicht nur über großen Charme, sondern auch über ein gerüttelt Maß an Beharrlichkeit und Überzeugungskraft verfügte, kam Dvoráks früheres Nein ins Wanken: «Ich soll für zwei Jahre nach Amerika fahren. Die Direktion des Konservatoriums übernehmen und zehn Konzerte leiten (eigene Kompositionen), für acht Monate und vier Monate (follow) werden mir dafür jährlich 15.000 Dollar, das heißt über 30.000 Gulden angeboten. Soll ich es annehmen?», schrieb er grübelnd an einen Freund. Freilich war die Sache finanziell höchst lukrativ: In Prag verdiente er bloß 1.200 Gulden jährlich. Doch hatte er sich erst nach langem Hin und Her bereit erklärt, die dortige Stelle anzunehmen, fühlte sich dem Konservatorium und den dort studierenden jungen Talenten (darunter sein späterer Schwiegersohn Josef Suk, Oskar Nedbal und Julius Fu?ík) verpflichtet und nahm seine Aufgaben mit größtem Idealismus wahr.

Heimweh nach Böhmen. Durfte er sich schon nach einem halben Jahr wieder aus dem Staub machen? Mehrfach begehrte Dvorák Änderungen an dem in kompliziertem Juristenenglisch abgefassten Vertrag - bis er ihn, nach einem persönlichen Treffen mit Jeannette Thurber in London, schließlich doch unterschrieb. Nicht zuletzt beeindruckte ihn, der sich finanziell mehr schlecht als recht durch sein Studium hatte schlagen müssen, dass die Ausbildung am National Conservatory of Music für bedürftige Talente kostenlos sein sollte. Ende September 1892 kam Dvorák mit seiner Frau Anna, der ältesten Tochter Otilie und dem ältesten, neunjährigen Sohn Antonín in New York an und blieb, abgesehen von einem Ferienaufenthalt in Böhmen, bis 1895. «Was mir ungemein gefällt, das ist, daß man in Amerika keinen Unterschied zwischen einem Herrn und einem gnädigen Herrn macht. Man gebraucht nicht den Titel gnädiger Herr. Der Millionär kommt zum Bedienten und sagt: Herr! - und der Bediente, obwohl er weiß, daß er mit einem Millionär spricht, sagt zu ihm ebenfalls Herr! Sie sind also beide Herren - bis auf die Millionen!» - Auch wenn Dvorák mit dem ganz alltäglich-selbstverständlichen Rassismus, der die schwarze Bevölkerung diskriminierte, durchaus seine Probleme hatte, war er doch fasziniert von der demokratischen Haltung zumindest unter den Nachkommen der europäischen Einwanderer, die die ihm bekannten Standesunterschiede der Alten Welt außer Kraft setzte. Der Aufenthalt in den USA sollte trotz (oder auch wegen) Heimwehs eine für sein Schaffen zentrale Periode werden, in der so großartige Werke entstanden, dass der New York Herald schließlich die Frage stellte: «Warum kam dieser Dvorák nicht schon früher in unser Land, wenn er hier in Amerika eine solche Musik schreiben kann?» Das F-Dur- Streichquartett, das Es-Dur-Streichquintett und das Cellokonzert sprechen für sich - sowie selbstverständlich auch seine neunte Symphonie, auf deren vollendete Partitur Dvorák spontan die Worte «Z nového sv?ta» (Aus der neuen Welt) geschrieben hatte.

Die Symphonie Nr. 9 e-Moll op. 95 spiegelt die vielfältigen Erfahrungen des Komponisten in den Vereinigten Staaten wider. «Es hat mir den Anschein, daß der amerikanische Boden auf mich segensreich wirken wird, und fast möchte ich sagen, daß schon in dieser neuen Symphonie etwas Derartiges zu hören ist», schrieb er im Jänner 1893 während der Arbeit. Und einige Monate später: «Sie macht mir große Freude und wird sich von meinen früheren grundlegend unterscheiden. Nun, wer eine 'Spürnase' hat, muß den Einfluß Amerikas erkennen.»

Über nichts freilich ist in Zusammenhang mit dieser Symphonie mehr spekuliert worden, als über den konkreten Einfluss Amerikas. Mit seinen Aussagen in einem Interview mit dem New York Herald im darauffolgenden Mai sollte sich Dvorák nicht nur Freunde machen: «Ich bin jetzt überzeugt, daß die zukünftige Musik dieses Landes auf dem basieren muß, was man 'Negerlieder' nennt. Das muß die wirkliche Grundlage einer jeden ernsthaften und originellen Kompositionsschule sein, welche in den Vereinigten Staaten zu entwickeln ist. Diese schönen und vielfältigen Themen sind das Produkt des Landes. Sie sind amerikanisch. In den Negerliedern finde ich alles, was für eine bedeutende und vornehme Schule der Musik nötig ist. Sie sind pathetisch, zart, leidenschaftlich, melancholisch, feierlich, religiös, verwegen, lustig, fröhlich...» Dvoráks Rat blieb, wie man sich denken kann, nicht unwidersprochen: Ein ganz an der Alten Welt orientierter Kollege wie Eduard MacDowell meinte, dass eine amerikanische Musik vielmehr nur eine solche sein könne, «die von der jugendlichen, optimistischen Vitalität und der unbezähmbaren Kühnheit des Geistes erfüllt ist, die den amerikanischen Menschen erfüllt» - womit klar wird, dass der «amerikanische Mensch» in MacDowells Augen ausschließlich Nachkomme der europäischen Einwanderer sein kann. Dvorák wurde Mangel an gutem Geschmack vorgeworfen, ja im unverhohlenen Rassismus jener Zeit hieß es sogar, dass «solche fremde Künstlichkeit keinen Platz in unserer Kunst haben sollte, wenn es unseres freien Landes würdig sein soll». Die unvermutet losgetretene Debatte tat dem triumphalen Erfolg jedoch keinen Abbruch, den die neunte Symphonie im Dezember 1893 in der New Yorker Carnegie Hall unter der Leitung von Dvoráks Freund Anton Seidl errang; Publikum und ein Teil der Presse feierten das Werk gleich als Prototyp einer genuin amerikanischen Kunstmusik.

Hiawatha, Spiritual und «Neue Welt». Der Komponist selbst verheimlichte seine Inspirationsquellen dennoch nicht, etwa in einem neuerlichen Interview mit dem New York Herald unmittelbar vor der Uraufführung: «Der zweite Satz ist eine Art Adagio, das sich jedoch von der klassischen Form dieses Gebildes unterscheidet. Es ist in Wirklichkeit eine Studie oder eine Skizze zu einer längeren Komposition, entweder zu einer Kantate oder Oper, die ich nach Longfellows 'Hiawatha' schreiben möchte.» Hiawatha (wörtlich «der Sucher des Wampumgürtels») ist eine Figur aus der Überlieferung der Onondaga, ein Häuptling, der wahrscheinlich im 15. Jahrhundert, also vor Ankunft der europäischen Eindringlinge, die verfeindeten Stämme der Irokesen unter dem «Gayanashagowa», dem «Großen Gesetz des Friedens» geeint hat. Der Schriftsteller und Dichter Henry Wadsworth Longfellow, Nachfahre einer neuenglischen Puritanerfamilie, hatte «The Song of Hiawatha» 1855 nach dem Vorbild der finnischen «Kalevala» als eine Art von amerikanischem Nationalepos geschaffen. «Schon lange denke ich daran», verriet Dvorák damals, «dieses Gedicht zu vertonen. Zum erstenmal bin ich mit ihm in tschechischer Übersetzung vor dreißig Jahren bekannt geworden. Damals beeindruckte es sehr stark meine Phantasie, und mein Aufenthalt hier hat diese Empfindungen noch verstärkt. Das Scherzo meiner Sinfonie wurde von der Szene des indianischen Festes in 'Hiawatha' inspiriert, in der die Indianer singen und tanzen. Ich wollte damit den indianischen nationalen Charakter mit musikalischen Mitteln zum Ausdruck bringen.»

Dennoch ist die Symphonie mindestens so «böhmisch», wie sie «amerikanisch» ist: Lassen sich in ihr auch Elemente ausmachen, die aus Spirituals oder indianischer Musik stammen könnten (Synkopen, plagale Wendungen, Pentatonik, Vermeidung des Leittons), ist die stilistische Nähe zu Volkstänzen böhmischer Provenienz gleichfalls unüberhörbar. Exponiert das einleitende, kontrastreiche Adagio des Kopfsatzes mit pentatonischen Floskeln, fehlendem Leitton und plagalen Harmoniefolgen bereits den exotischen Schauplatz, erinnern Teile des folgenden Allegro molto, besonders in den parallelen Terzen von Klarinetten und Fagotten, die auf die initiale Dreiklangszerlegung im Horn folgen, cum grano salis auch an zünftige Polka- Klänge. Das zweite Thema präsentiert sich leittonlos über Bordunquinten, während das dritte in der Soloflöte das Spiritual «Swing low, sweet chariot» anzudeuten scheint. Gänzlich europäisch sind allerdings die satztechnischen Finessen, die Dvorák hier und später auch im Finale anwendet: Abspaltungen, Überlagerungen und Neukombinationen der Themen zeigen den Komponisten als souveränen Meister motivisch-thematischer Arbeit. Das Dreiklangs-Hornthema erscheint gar als Leitmotiv in allen vier Sätzen: Im Largo, das durch seine entrückte Englischhornmelodie unglaubliche Popularität erreicht hat, erklingt es am blechglänzenden Höhepunkt des Satzes mit dieser (und dem dritten Thema des Kopfsatzes!) kombiniert; im zwischen Indianertanz und Walzerseligkeit angesiedelten Scherzo taucht es in der Coda auf. Und der Schlusssatz (Allegro con fuoco) verarbeitet überhaupt all das vorangegangene Material, um in der grandiosen, expressiv-dissonanzreichen Vereinigung des Leitmotivs mit dem energischen Marschthema des Finales in hymnischer Ballung zu kulminieren.

Amerikanisch oder böhmisch? - «Es scheint, ich habe ihnen ein wenig den Kopf verdreht. Bei uns zu Hause versteht jeder gleich, was ich gemeint habe», soll Dvorák am Tag nach der Uraufführung zu einem Landsmann gesagt haben. Ein Randgebiet des Prager Stadtteils Hradschin, in dessen Wirtshäusern viele Tanzkapellen aufspielten, hieß unter den Einheimischen nämlich «Nový sv?t» - «Neue Welt».

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Walter Weidringer