Archiv: Probenbesuch | Bernstein: Kaddish

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Leonard Bernstein

Symphonie Nr. 3 für Chor, Knabenchor, Sprecher, Sopran und Orchester «Kaddish»

Dauer

40 Min.

Entstehung

1963/1977

Leonard Bernstein saß über den letzten Partiturseiten seiner dritten Symphonie «Kaddish», als die Nachricht von der Ermordung des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy eintraf. Am 22. November 1963 schrieb der Komponist auf die erste Seite seiner Symphonie: «To the beloved Memory of John F. Kennedy». Die Worte des «Kaddish» werden in der jüdischen Religion traditionellerweise auch als Totengebet am Grab Verstorbener und bei Gedächtnisfeiern gesprochen. Ursprünglich entstand «Kaddish», «Heiligung», vermutlich im ersten oder zweiten Jahrhundert nach Christus, aber als jüdischer Lobpreis Gottes zum Gebet in der Synagoge. Der erste Gebetstext ist in einer Mischung aus Hebräisch und Aramäisch, der damaligen Volkssprache im Nahen Osten, überliefert. In den nächsten Jahrhunderten veränderte sich der Text, seit dem zwölften Jahrhundert wird er unverändert gebetet. Im Mittelpunkt des Gebets steht neben dem Gotteslob die Bitte um Frieden und um die Niederkunft des Gottesreiches auf der Erde und in Israel.

In der Symphonie betet der Chor das «Kaddish» drei Mal. Im ersten Teil komponierte es Bernstein als verzweifeltes und anklagendes Totengebet. Im Orchester zieht sich ein Ostinato aus den zwölf Tönen der chromatischen Tonleiter durch das Gebet, nachdem in der langsamen Einleitung eine dreitönige Anrufung mit Aufwärtsbewegung angestimmt wurde. Das Gebet im erstenTeil wird zunehmend zu einem wilden Tanz, das «Amen» kommt aufgeregt in Synkopen und Halbtonschritten über die Lippen der Sänger. Der Sprecher, der Mensch, macht von Anfang an klar, er bete sein eigenes «Kaddish» als persönliche Aussprache mit Gott, die sich zum Angriff auf Gott wandelt, ihn in Frage stellt und am Ende zur Aussöhnung zwischen Gott und dem Menschen führt.

Der zweite Teil der Symphonie beginnt mit einer Stimmung der Ratlosigkeit und der Einsamkeit im Universum: zerrüttete Schlagwerkklänge, ein Summchor im Hintergrund und verzweifelte Fragen des Menschen an Gott, ob dieser denn überhaupt zuhöre, überhaupt wahrnehme, was die Menschheit auf dem Erdenreich anrichtet mit Krieg, Vernichtung von Mitmenschen und der Erfindung einer Bombe, die den ganzen Planeten auslöschen könne. Der Chor hängt noch immer in den zerklüfteten «Amen»-Rufen fest, die schließlich in eine kreisende melodische Bewegung übergehen und in der Ferne verschwinden. Der Mensch hält Gott als Fehler vor, den Menschen nach seinem, Gottes, Ebenbild erschaffen zu haben.

Solosopran und Knabenchor setzen mit dem zweiten «Kaddish» der Symphonie ein, in kantablen Melodien voller Sehnsucht nach Frieden und mit Worten des Trostes. Zwischendurch kommen bewegte Tonfolgen auf, als ob die Betenden eine neue Energie bemächtige. Dann tragen die Streicher hymnisch den Gesang weiter. Der Mensch kann aber nicht Frieden schließen mit Gott. Zu viel ist noch zu bereden. In einem flackernden Scherzo wie aus einer Symphonie Gustav Mahlers befragt der Mensch Gottzu dem, was dieser auf Erden geschaffen habe, und stellt ihm das Reich des Menschen gegenüber: das, was die Menschen geschaffen haben. Ironisch preist der Mensch seinen eigenen, geheiligten Namen. Diese Passage wurde nach ersten Aufführungen der Symphonie missverständlich als Blasphemie kritisiert. Doch die Musik sagt etwas anderes. Unmittelbar nach der Selbstpreisung des Menschen spricht dieser das Wort «Glaube» aus, und das Orchester stimmt eine beglückende, erhebende Melodie an, nunmehr frei von allen Dissonanzen.

Doch die Lage auf der Erde bleibt bitterernst. In den dritten Teil der Symphonie führen die Blechbläser und Streicher mit brutalen Fortissimo-Sequenzen ein, die sich schwer lastend über die Welt auszubreiten scheinen. Holzbläser-Rufe wie von Einsamen aus der Wüste werden dann doch erhört, und die Streicher greifen die erhebende Melodie wieder auf. Der Mensch wünscht einen guten neuen Morgen. In der Gemeinsamkeit, im Eins von Mensch und Gott scheine die Unsterblichkeit noch möglich zu sein. Das Orchester steigert sich in einem «Auferstehungs-Hymnus», dann setzt der Chor mit einer um Freude ringenden Fuge zum dritten «Kaddish» der Symphonie an. Immer wieder mischen sich Klagemotive und Leidenstöne aus früheren Teilen der Symphonie ein. Die einzelnen Fugenfiguren scheinen einander jedoch an den Händen zu nehmen und gemeinsam in ein besseres Dasein zu tanzen. Die Dreiton-Anrufung kehrt wieder und peitscht das Gebet zu einem «Amen»-Jubel auf. Restlos wohl scheint den Betenden aber bis zum Schluss der Symphonie nicht zu sein. Auch wenn die aktuelle Krise überwunden ist, bleibt für die Zukunft ein Rest Unbehagen.

Bernsteins «Kaddish» ist eine Symphonie und gehört zu jener Gattung, die sich im Laufe der Epochen zum musikalischen Ort der Verhandlung der Welt entwickelt hat. Was mit Beethovensneunter Symphonie als Appell an Menschlichkeit und Frieden auf Erden begann, mit Mahlers zweiter und achter Symphonie hymnisch zur Auferstehung und Erlösung erhöht wurde, mündet Mitte des 20. Jahrhunderts in Bernsteins «Kaddish» im Ringen um den Glauben an Gott, überlagert von Zweifeln an seiner Existenz angesichts von unmittelbar zurückliegenden Katastrophen wie der Shoa und den Pogromen in Europa, den Atombomben auf Japan, den Machtkämpfen zwischen den politischen Systemen des Kapitalismus und Kommunismus – und der gerade noch verhinderten Katastrophe eines Atomkrieges als Folge der Kuba-Krise. All dem folgten der Bau der Mauer mitten durch Europa, die Ermordung des US-Präsidenten.

Als Bernsteins «Kaddish» im Dezember 1963 in Tel Aviv uraufgeführt wurde, lag die Menschheit in einer Depression, die bis heute nicht auskuriert ist. Aufführungen von «Kaddish» könnten jeden Tag stattfinden. Bei den ersten Aufführungen in den USA wurde der Sprechertext von einer Frau – Bernsteins Ehefrau, der Schauspielerin Felicia Montealegre – gesprochen. Für die europäische Erstaufführung der Symphonie am 20. August 1977 beim Carinthischen Sommer in Villach – vier Tage nach Elvis Presleys Tod – mit dem Israel Philharmonic Orchestra und dem Wiener Jeunesse-Chor übertrug der Komponist den – gekürzten – Sprechertext einem Mann: dem Schauspieler Michael Wager. Das Sopransolo sang damals Montserrat Caballé. Vor der Schlussfuge fügte Bernstein eine neu hinzukomponierte Passage in die Symphonie ein, in der jene erhebende, Hoffnung gebende Melodik von unheimlichen, bedrohlichen, tiefen Klängen unterlegt ist. Diese revidierte Fassung dirigierte Bernstein auch bei der «Journey for Peace» 1985 in der Wiener Staatsoper, weiters in Athen, in Budapest und in Hiroshima als Gedächtnisaufführung zum 40. Jahrestag des Abwurfs der ersten Atombombe durch die US-Luftwaffe. Da war die Symphonie Totengebet und Friedensgebet in einem.

Die drei «Kaddish»-Teile legte Bernstein in der traditionellen Form einer viersätzigen Symphonie an. Der erste Satz besteht aus der langsamen Einleitung mit der ersten Anrufung und dem darauf folgenden Allegro-Hauptsatz mit dem ersten «Kaddish». Den zweiten, langsamen Satz bilden «Din-Torah» («Prüfung nach Gottes Gesetz») und das zweite «Kaddish». Im dritten Teil sind der dritte Satz, das Scherzo, und das Finale mit dem dritten «Kaddish» und dem Schlusschor zusammengefasst. Die Sprechertexte sind in allen Teilen melodramatisch eingewoben. Wie schon Beethovens und Mahlers Symphonien mit Solostimmen und Chor ist auch Bernsteins «Kaddish»-Symphonie mit Elementen der Kantate und des Oratoriums vermischt: Das Geistliche und das Weltliche fließen ineinander. «Kaddish» ist Sakralmusik für den Konzertsaal, richtet sich direkt an das Publikum. Es ist ein Dialog aller Menschen – der Menschheit – mit Gott, ein Friedensgebet über alle Ideologien und Religionen hinaus. Es ist Musik, die der Apokalypse Widerstand leistet.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Rainer Lepuschitz