Archiv: Auftakt! MUK.FINALS feat. Tonkünstler-Orchester

Wien Radiokulturhaus Großer Sendesaal Radiokulturhaus - Großer Sendesaal

Interpreten

  • Victor Petrov, Dirigent
  • Amit Rosenblum, Dirigent
  • Taichi Hiratsuka, Dirigent

Programm

Johann Strauss
Künstlerleben, Walzer op. 316
- Pause -
Dmitri Schostakowitsch

Die Förderung des musikalischen Nachwuchses ist den Musikerinnen und Musikern des Tonkünstler-Orchesters ein großes Anliegen. Beim Composer-Conductor-Workshop «Ink still wet» am Campus Grafenegg agieren sie seit vielen Jahren als Werkstattorchester, und im Rahmen einer intensiven Kooperation mit der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien bieten sie künftigen Dirigentinnen und Dirigenten professionelle Rahmenbedingungen für ihren Studienabschluss. Junge Maestri aus der Klasse von Professor Andreas Stoehr stellen sich in diesem Konzert nicht nur einer breiten Öffentlichkeit, sondern auch der kritischen Beurteilung durch eine professionelle Jury.

Im Rahmen der diesjährigen MUK.finals treten bei ihrer öffentlichen Abschlussprüfung drei Nachwuchstalente mit einem illustren Querschnitt der Orchesterliteratur ans Pult der Tonkünstler: Victor Petrov schwingt mit ihnen durch Johann Strauss´ Walzer «Künstlerleben» und präsentiert seine mit dem Orchester erarbeitete Version der «Oberon»-Ouvertüre von Carl Maria von Weber, Amit Rosenblum dirigiert die «Coriolan»-Ouvertüre von Ludwig van Beethoven und Franz Liszts symphonische Dichtung «Les Préludes». Abschließend leitet Taichi Hiratsuka die selten gespielte neunte Symphonie von Dmitri Schostakowitsch: ein zur Zeit seiner Uraufführung politisch hoch brisantes Werk, das als Abrechnung des Komponisten mit dem verhassten Diktator Josef Stalin gilt. In diesem fünfsätzigen Opus mit einer Spieldauer von nur etwas mehr als 20 Minuten zitiert Schostakowitsch das Lied «Lob des hohen Verstandes» aus Gustav Mahlers «Des Knaben Wunderhorn», darin der Esel entscheidet, dass der Kuckuck schöner singe als die Nachtigall…

Mein Besuch

0 Einträge Eintrag

Voraussichtliche Besuchszeit

Liste senden
Carl Maria von Weber

Ouvertüre zur Oper «Oberon»

Sätze

  • Adagio sostenuto ed il tutto pianissimo possibile - Allegro con fuoco

Dauer

9 Min.

Entstehung

1826

Carl Maria von Weber war bereits schwer an der Schwindsucht erkrankt, als er im Winter 1826 nach London reiste, um an der Oper von Covent Garden die Uraufführung seiner Oper «Oberon» vorzubereiten. Nach Webers 1821 in Berlin uraufgeführtem Geniestreich «Der Freischütz» und einem Erfolg mit «Euryanthe» in Wien 1823 wollte auch London eine Oper des gefeierten Komponisten und Königlichen Kapellmeisters von Dresden haben. Weber, der noch im Umfeld der Wiener Klassik aufwuchs und u. a. bei Michael Haydn in Salzburg und Abbé Vogler in Wien studierte, wurde mit seinen Musiktheaterwerken zum Begründer der romantischen deutschen Oper und Wegbereiter für Wagners Musikdrama. Dabei darf man nicht übersehen, dass Weber vor seinem Wirken als Operndirektor in Prag und Dresden und seinen kompositorischen Opernerfolgen eine beachtliche Laufbahn als Konzertpianist eingeschlagen und Instrumentalmusik wie Sonaten, Charakterstücke und Konzertstücke für Klavier sowie Symphonien komponiert hatte. Es war dann auch seine Orchestersprache, die durch ein besonders differenziertes Klangfarbenspektrum und anschauliche Instrumentierung zu einem eigenständigen dramaturgischen Faktor der Opern wurde.

Überwältigend, wie in der «Oberon»-Ouvertüre nach der geheimnisvollen und flirrenden Einleitung der Allegro-Jubel losbricht. Das Kernmotiv von Oberons Hornruf am Beginn verbindet in der Folge insgesamt sieben verschiedene Themen aus der Oper. Der Ursprung des Hornmotivs zeigt, wie sorgfältig Weber die musikalische Stimmung seiner Opern plante und vorbereitete. Um die Welt des Orients in der Geschichte von «Oberon» musikalisch adäquat zu erfassen, arbeitete er originale arabische Themen ein, die er in musikwissenschaftlichen Abhandlungen fand. Die markante aufsteigende Terz aus einem ägyptischen Marsch und einem türkischen Tanz machte Weber zum typischen Signal von Oberons Hornruf.

Der Elfenkönig Oberon «inszeniert» nach einem Streit mit seiner Gattin Titania, ob denn nun Männer oder Frauen in der Liebe treuer seien, eine Liebesgeschichte, die den Ritter Hüon von Bordeaux nach Bagdad führt, wo er die Kalifentochter Rezia entführt und freit. Das Paar wird durch Oberons Zutun in zahlreiche kritische Situationen gebracht, doch die Beiden bleiben einander trotz aller Ablenkungsmanöver und Trennungen treu. Am Ende sind sie glücklich vereint und Oberon und Titania ziehen in friedlicher Gemeinsamkeit auf einer Wolke vorüber. Musikalischer Höhepunkt der Oper ist zweifellos Rezias Ozeanarie, in der sie die Verwandlung des Meeres von einem stürmischen Ungeheuer zu einem im Sonnenlicht strahlenden Wellenkreis schildert. Harmonik und Motivsymbolik bereiten in dieser Arie bereits Wagners Musiksprache vor. Die Thematik von Rezias Jubel nimmt Weber als effektvollen Schluss in der Ouvertüre vorweg.

Auch «Oberon» wurde zu einem Triumph für Weber, der über die Stimmung bei der Premiere am 12. April 1826 an seine Frau, die Sängerin Caroline Brandt, schrieb: «Wie ich ins Orchester trat, erhob sich das ganze überfüllte Haus und ein unglaublicher Jubel, Vivat- und Hurra-Rufen, Hüte- und Tücher-Schwenken empfing mich und war kaum wieder zu stillen.» Wenige Wochen später starb Weber entkräftet in London. 1844 veranlasste Richard Wagner die Überführung von Webers sterblicher Hülle nach Deutschland und die Beisetzung in Dresden.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Rainer Lepuschitz

Franz Liszt

«Les Préludes» Symphonische Dichtung

Dauer

15 Min.

Entstehung

1848

So hell Franz Liszt als pianistischer Fixstern am musikalischen Firmament strahlt, so mäßig beleuchtet bleibt sein orchestrales ?uvre, das doch in Vielfalt und Größe einen der wertvollsten Schätze der Romantik birgt. Die Nachwirkungen panegyrischer Lebensbeschreibungen, Legenden über exzentrische Kapriolen und Liebesabenteuer sind noch heute für ein unangenehm flimmerndes Zerrbild verantwortlich, dessen Demontage überfällig wäre. Institutionen wie das Liszt Festival Raiding, das sich unter der Intendanz von Eduard und Johannes Kutrowatz dem Künstler und seinem Gesamtwerk an dessen Geburtsort widmet, tragen erfolgreich zu einer wahrheitsgetreuen Pflege bei. Unter dem Stichwort der Aufarbeitung bietet sich auch ein Zugang zur symphonischen Dichtung »Les Préludes«, deren schmetterndes Fanfarenmotiv im Dritten Reich als »Russland-Fanfare« usurpiert wurde. Nachdem Pulverdampf und brauner Mief endlich verweht waren, konnte »Les Préludes« bald wieder in den allgemeinen Kulturschatz zurückkehren - und eine Aufführung wie im heutigen Konzert des Tonkünstler-Orchesters soll ein willkommener Impuls zu einer intensiveren und vor allem breiter angelegten Auseinandersetzung mit Liszts Musik sein.

In der Tat hatte der Komponist ein »Vorspiel« zu vier Werken für Männerchor (»Les quatre éléments«) im Sinn, die jedoch nie realisiert wurden. Und so empfing das Orchesterstück von Liszt den Ritterschlag und galt fürderhin als symphonische Dichtung unter dem wahrheitsgetreuen Titel »Les Préludes«. Nun war Liszt der Auffassung, dass »die Musik in ihren Meisterwerken mehr und mehr die Meisterwerke der Literatur in sich aufnimmt.« Mithilfe der Literatur, der poetischen Grundidee, sollte sich die instrumentale Musik zu einer über alles erhabenen Kunstform emanzipieren. Für »Les Préludes« musste also paradoxerweise erst im Nachhinein ein Programm her. Liszt fand es in den poetischen Meditationen von Alphonse de Lamartine: »Was anderes ist unser Leben, als eine Reihenfolge von Präludien zu jenem unbekannten Gesang, dessen erste und feierliche Note der Tod anstimmt? ...« Die folgenden Zeilen handeln von Liebessehnen, ländlicher Idylle, zerstörten Träumen und schließlich von der Mannwerdung durch den offenen Kampf, angekündigt durch der »Drommete Sturmsignal«.

Tatsächlich braucht es die nachgereichte Vorlage gar nicht, um die einzelnen Episoden (Erwecken - Konflikt - Idyll - Liebesglück - Kampf und Sieg) bestens aus dem imposanten Orchesterwerk heraushören zu können. Liszt ist Klangmaler und Poet zugleich, lässt die Musik sprechen und die Verse singen. In »Les Préludes«, wie übrigens in allen seiner symphonischen Dichtungen, entlockt er dem Orchester alles: vom zarten Liebesflüstern über Landschaftsbeschreibungen bis hin zum martialischen Knattern reicht die Palette. Es war wohl auch das verfehlte Verständnis dieser pathetischen Anmutung, die rund 100 Jahre später zum Missbrauch als propagandistisches Musiklogo führte. Ein Grund mehr, diese Musik zu spielen und lieben zu lernen - denn alte Beschriftungen wegzuwischen und den eigentlichen Kern des Kunstwerks zu erfassen, wäre sicherlich in Franz Liszts Sinn.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Alexander Moore

Ludwig van Beethoven

Ouvertüre zum Trauerspiel «Coriolan» op. 62

Sätze

  • Allegro con brio

Dauer

8 Min.

Entstehung

1807

Ludwig van Beethoven setzte sein waches Interesse am Theater auch mehrfach kompositorisch um. «Jeder Ton, den der Dichter anschlug, klang in seinem [Beethovens] Gemüte wie auf gleichgestimmter, mitvibrierender Saite wider», schrieb der Dichter und Musiker E. T. A. Hoffmann anlässlich einer «Egmont»-Aufführung bewundernd über den Theaterkomponisten Beethoven. Auffällig die Wahl der Stoffe, zu denen Beethoven Musik schrieb. Wie in seiner Oper «Fidelio» geht es auch in «Egmont» um den Befreiungskampf eines Volkes aus der Umklammerung eines Unterdrückers, weicht der Patrizier Coriolan am Ende von seinem Hass auf die Plebejer ab, und verbirgt sich hinter den antikisierenden Ballett-«Geschöpfen des Prometheus» eine Huldigung des damals noch als Freiheitshelden geltenden Napoleon.

Der österreichische Staatsbeamte Heinrich von Collin schrieb am Beginn des 19. Jahrhunderts die Tragödie «Coriolan», ohne damals zu wissen, dass von William Shakespeare ein Stück gleichen Inhalts existierte. Collins Trauerspiel stand auf dem Spielplan des Wiener Burgtheaters. Beethoven komponierte offenbar auf Anregung von einem seiner Gönner, dem Fürsten Lobkowitz, der auch einer der Hoftheaterdirektoren war, 1807 eine Ouverture zu Collins «Coriolan». Beethoven bildete damit einen neuen Typus von Orchestermusik heraus: Nie zuvor wurde der Gehalt einer Geschichte in einem einsätzigen Orchesterstück so dicht nachvollzogen und direkt ausgedrückt. Er wies damit Komponisten wie Berlioz, Mendelssohn Bartholdy und Liszt den Weg für ihre Programmmusiken und Tondichtungen.

Der römische Patrizier Coriolan, der wegen seiner Volksfeindlichkeit verbannt wurde, verbündet sich mit den mit Rom verfeindeten Volskern, führt diese gegen Rom und beinahe zum totalen Sieg über die Stadt. Seine Mutter bittet ihn um Gnade für Rom, Coriolan erhört sie schließlich, verzichtet auf die Erstürmung Roms und verrät somit die Volsker. Aus dem Zwiespalt gibt es für Coriolan nur mehr den Ausweg des Freitods. Beethoven konzentrierte die Komposition holzschnittartig auf den Konflikt zwischen Sohn und Mutter. Der Hauptthemenblock mit wuchtigen Intervallsprüngen und einem drängenden Achtelmotiv im tragisch-heroischen c-moll und später in den noch düstereren Tonarten g-moll und f-moll schildert die rachedurstige Entschlossenheit Coriolans. Das Achtelmotiv wird zum Leitthema seiner Energie. Demgegenüber stimmt Coriolans Mutter Volumnia im Seitenthema einen Bittgesang um Gnade an, dessen Intensität durch Wiederholungen jeweils um einen Ton höher gesteigert wird. Am Ende erhört Coriolan seine Mutter und resigniert. Das zuvor energische Achtelmotiv wird in den letzten Takten immer matter und zerfällt.

© Rainer Lepuschitz | NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H.

Dmitri Schostakowitsch

Symphonie Nr. 9 Es-Dur op. 70

Sätze

  • Allegro

  • Moderato

  • Presto

  • Largo

  • Allegretto - Allegro

Dauer

22 Min.

Entstehung

1945

Dmitri Schostakowitsch hinterließ ein weitverzweigtes Œuvre, das an Qualität und Größe zu den herausragenden künstlerischen Schätzen des gesamten 20. Jahrhunderts zählt. Die vielleicht wichtigste Lebensleistung des russischen Komponisten ist aber die gelungene Selbstfindung als Künstler und vor allem in Folge die konsequente Treue zu sich selbst auch unter den widrigsten Umständen – Schostakowitsch machte den Widerstand in verschiedenen Gesichtern zu seinem Alter Ego. Nötig wurde das durch die anfänglich aufreibende und in ihren schlimmsten Ausformungen existenziell bedrohliche Behandlung durch den von Stalin eingesetzten Machtapparat, der auch in künstlerischen Belangen das Sagen hatte. Die ästhetischen Kriterien waren streng, ein Abweichen wurde schnell in ein Liebäugeln mit dem dekadenten Westen uminterpretiert. So mancher Künstler ließ es lieber bleiben oder bezahlte seine «Vergehen» teuer. Und Dmitri Schostakowitsch war da keine Ausnahme: In seinem Fall war es ein, über weite Strecken gesehen, ständiger Wechsel von Gunst und Ungnade, die über dem seinem Haupt ausgegossen wurden.

«Chaos statt Musik» titelte die Tageszeitung «Prawda» im Jänner 1936 und geißelte in einem polemischen Hertzartikel die Oper «Lady Macbeth von Mzensk». Alle Aufführungen wurden abgesagt, Schostakowitsch erfuhr davon auf einer Konzertreise. Die Kritiker stolperten reihenweise über ihre vorher lobenden Rezensionen. In den nächsten Monaten schlief der Komponist nur in Straßenkleidern, unter dem Bett ein gepackter Koffer – er rechnete damit, plötzlich von der Geheimpolizei abgeholt zu werden. Depressionen und Suizidgedanken sollten ihn noch viele Jahre begleiten. Mehrfach zitierte man ihn in die Geheimdienstzentrale Ljubjanka, wo man ihn verhörte und zu angeblichen «Volksfeinden» befragte.

Nur wenige Jahre später sah alles wiederum ganz anders aus, als Schostakowitsch mit seiner Familie im von der deutschen Wehrmacht belagerten Leningrad lebte. Als Künstler und Held des Volkes prangte sein Konterfei in der Uniform eines Feuerwehrmanns auf dem Titelblatt des US-amerikanischen «Time»-Magazins. Mit Stolz verwies die sowjetische Führung auf den unzerstörbaren Siegeswillen der Bürger von Leningrad – die im Entstehen befindliche Symphonie Nr. 7 des Genossen Schostakowitsch war der lebendige Beweis für die Überlegenheit … Auch so konnte es zugehen im Leben des damals 35-jährigen Komponisten. Nach einer dramatischen Rettungsaktion, in der die Familie Schostakowitsch mitsamt der fast fertigen Partitur aus Leningrad ausgeflogen wurden, wurde die «Leningrader» Symphonie als musikalische Gallionsfigur des alliierten Kampfes gegen Hitler gefeiert und auf beiden Seiten des Atlantiks im Rundfunk übertragen.

Es folgte dann die achte Symphonie als insgesamt zweite der drei Kriegssymphonien: ein melancholisches Werk mit düsterem Grundcharakter, einem Gedenken an die zahllosen Opfer des Kriegs. So etwas wollte Stalin in seinem Reich nicht hören, die Symphonie fiel bald der Zensur zum Opfer und wurde nicht mehr aufgeführt. Im Jahr 1945, als der Sieg über das deutsche Reich mit Jubel gefeiert wurde, erwartete man vom großen Komponisten Schostakowitsch eine triumphale Musik, die dem Anlass entsprechend auch das Heldentum der Sowjetunion zum Thema haben sollte. Obendrein war bekannt, dass es im Gesamtwerk von Schostakowitsch die neunte Symphonie werden musste – in Hinblick auf Beethoven standen die Sterne also mehr als günstig, ein großes Werk mit Chor aus der Feder des Komponisten zu erhalten.

Im Sommer 1945 zog sich Dmitri Schostakowitsch nach Iwanowo in der Nähe von Moskau zurück. Der sowjetische Komponistenverband stellte hier in der ruhigen Abgeschiedenheit ein Künstlerheim zur Verfügung, wo die Mitglieder in Ruhe und in angenehmer Umgebung arbeiten konnten. Das Kriegsende war das zentrale Thema dieser Monate. Doch während etwa Sergej Prokofjew und Reinhold Glière Oden und Ouvertüren auf den Sieg schrieben, arbeitete Schostakowitsch in aller Ruhe an etwas ganz Anderem. An einem kleinen Tischchen, wie ein Zeuge zu berichten wusste, setzte sich der Komponist Tag für Tag in der Früh für wenige Stunden nieder – und in nur kurzer Zeit entstand die Symphonie Nr. 9. Eine Huldigungsmusik, wie sich alle erwartet hatten, wurde das Werk allerdings nicht, eher im Gegenteil: Das fünfsätzige Werk stellte sowohl in seiner Anlage, seiner relativ kleinen Besetzung und den ganz und gar unheroischen Themen in wenig schmeichelhaften Klanggewändern eher eine Antithese zur Huldigungsmusik dar, wie sie sich Genosse Stalin gewünscht hatte. Obendrein fehlte der erwartete Chor und damit auch die Möglichkeit, in pathetischen Worten von der Größe des Vaterlandes und seiner Führer zu singen. Schostakowitsch legte es (wieder) darauf an, den Mächtigen eine lange Nase zu drehen ...

Die Symphonie Nr. 9 in Es-Dur wurde vom Musikwissenschaftler Frank Reinisch im Jahr 1988 im Vorwort der Partiturausgabe als «eine ‹Symphonie classique› mit Widerhaken» bezeichnet – womit in wenigen Worten das gesamte Werk charakterisiert ist. Obwohl in der heroischen Tonart Es-Dur stehend, verstrahlt das Werk keinen Heldenglanz, sondern vielmehr kecken Übermut, leichten Witz und mitunter beißende Schärfe. Schostakowitsch bediente sich der strengen klassizistischen Form, wie er sie in den frühen dreißiger Jahren gepflegt hatte.

Das eröffnende Allegro ist in der überlieferten Sonatensatzform angelegt, die hier zur Gänze dem Formideal verpflichtet ist – sogar die Exposition wird gemäß der klassischen Schulmeinung wiederholt. Und gerade vor diesem Hintergrund ist die Verwendung mancher Instrumente an prominenter Stelle, wie etwa der derb gespielten Piccoloflöte als Anführerin des Seiten-themas, ein kaum verhohlener Schlag gegen hoch gesteckte Erwartungen. Ironie lässt sich kaum deutlicher darstellen als durch das klassische Ideal im Clownskostüm. Schostakowitsch legt die Durchführung mit der konsequenten Verwendung von Quartenmotiven als Militärmarsch an, dessen groteske Züge unüberhörbar sind. Der Komponist selbst soll während der Proben zur Uraufführung von einer «Zirkusmusik» gesprochen haben.

Der wiegende Dreivierteltakt des zweiten Satzes (Moderato) zeigt sich, trotz weniger dramatischer Einsprengsel, insgesamt verhalten und mysteriös. Schostakowitsch entwickelt zwei klagende Motive in den Holzbläsern, zu denen sich später ein drittes gesellt. Im Gestus einer barocken Sarabande wird eine Trauermusik für die Toten des Kriegs vorgestellt, ein stärkerer Kontrast zur exaltierten Welt der Eröffnung ist kaum vorstellbar.

Der Depression folgt wiederum die Ausgelassenheit: Inmitten des dreiteiligen Scherzo (Presto) wartet Schostakowitsch mit einem gepfefferten Marsch auf, der mit der Todestonart fis-Moll eindeutig erkennen lässt, welch grausige Ereignisse die Symphonie zum Anlass hat. Der Satz geht in düsterer Stimmung nahtlos in das Largo über, das eine kriegerische Fanfare einem berührenden Thema im Solofagott gegenüberstellt. Ein Dialog entwickelt sich, von Anfang an im dynamischen Ungleichgewicht gehalten: Während die Fanfare einheitlich im Fortissimo daherkommt, kann das Fagott mit einer breiteren Palette die Stimmungen ausloten.

Attacca beginnt das Finale (Allegretto), eingeleitet von der Fagottstimme des vorangegangenen Largo. In der Ausgangstonart Es-Dur werden drei Themen vorgestellt, der prominente Marschcharakter der Symphonie ist auch hier vorherrschend. Gegen Ende hin steigert Schostakowitsch die Spannung und greift wieder auf den «zirkushaften» Ton zurück, dem Es-Dur gar nicht zu Gesicht stehen will. In koboldhafter Raserei treibt das musikalische Geschehen einem Ende entgegen, das alles ist – nur kein Sieg.

Mit gerade 25 Minuten Spieldauer insgesamt unterbot Schostakowitsch mit seiner gesamten Neunten den ersten Satz seiner eigenen «Leningrader» Symphonie. Wen mochte es wundern, dass Stalin schäumte und das halbe Land vor den Kopf gestoßen war? Für die Kritik war klar: Der Komponist hatte nicht begriffen, in welch glorreicher Stimmung sich das Land im Augenblick zu befinden hatte! Ein Könner von diesem Rang durfte im Moment des Triumphs nicht als Spötter dastehen. Schostakowitsch kommentierte angeblich später lakonisch: «Ich konnte keine Apotheose auf Stalin schreiben, konnte es einfach nicht.» Und er prophezeite seinem Werk: «Die Musiker werden sie mit Vergnügen spielen, aber die Kritiker werden sie vernichten.»

Am 3. November dirigierte Jewgeni Mrawinski die Leningrader Philharmoniker, die die neunte Symphonie im Rahmen der Saisoneröffnung uraufführten. Das Werk stieß auf Kopfschütteln und Unverständnis, die Kritik sparte nicht mit den von Schostakowitsch selbst vorausgesagten vernichtenden Pamphleten. Am 14. Februar 1948 landete die Symphonie gemeinsam mit weiteren Werken auf der Liste der Stücke mit Aufführungsverbot: Die zweite große Propagandawelle gegen Schostakowitsch hatte begonnen. Er schrieb bis nach dem Tod Stalins 1953 keine weitere Symphonie mehr – die zehnte wurde dann allerdings die große Abrechnung mit dem Diktator.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore