Archiv: Ein deutsches Requiem

Wien Musikverein Großer Saal Musikverein | Großer Saal

Interpreten

  • Christina Landshamer, Sopran
  • Tareq Nazmi, Bass
  • Konzertchor Niederösterreich
  • Ivor Bolton, Dirigent

Programm

Wenn Ivor Bolton mit dem «Deutschen Requiem» von Johannes Brahms ans Pult der Tonkünstler zurückkehrt, dann fließen nicht nur seine Opernerfahrungen in die Interpretation mit ein, die er aktuell als Musikdirektor des Teatro Real in Madrid beweist, sondern auch sein Wissen als profilierter Vertreter der historischen und historisch informierten Aufführungspraxis. Statt einer Vertonung der lateinischen Totenmesse hat Brahms hier Bibelstellen zusammengestellt und ein Werk geschaffen, das mehr dem Trost der Hinterbliebenen gilt als der Bitte um die arme Seele: Clara Schumann schwärmte von «tiefem Ernst, vereint mit allem Zauber der Poesie».

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Johannes Brahms

«Ein deutsches Requiem» für Soli, Chor und Orchester op. 45

Sätze

  • Selig sind,die da Leid tragen

  • Denn alles Fleisch,es ist wie Gras

  • Herr, lehre doch mich, daß ein Ende mit mir haben muß

  • Wie lieblich sind Deine Wohnungen, Herr Zebaoth

  • Ihr habt nun Traurigkeit; Ich will Euch trösten

  • Denn wir haben hie keine bleibende Statt; Siehe, ich sage Euch ein Geheimnis

  • Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben

Dauer

80 Min.

Entstehung

Veröffentlicht 1868

Bis heute steht das «Deutsche Requiem» von Johannes Brahms sowohl in der Anlage wie in der Aussage solitär: Weder fügt sich das Werk in das engmaschige Netz der musikalischen Gattungen und Genres des 19. Jahrhunderts, noch hat es zu vergleichbaren Partituren angeregt. Der bewusste Verzicht auf die liturgischen Texte des lateinischen Requiems – wie anders hätte sich ein im protestantischen Hamburg geborener Komponist auch entscheiden können? – zugunsten einer freien, jedoch konzisen Auswahl von Bibelstellen aus dem Alten und Neuen Testament führte das Werk als eine Art säkularer Adaption des Sakralen gleichsam aus der Kirche hinaus in den Konzertsaal.

Die ersten drei Sätze wurden durch den Wiener Singverein unter Johann Herbeck erstmals am 1. Dezember 1867 während eines Gesellschaftskonzerts im Großen Redoutensaal aufgeführt; in der zweiten Hälfte stand Franz Schuberts Schauspielmusik zu «Rosamunde» auf dem Programm. Das nachträglich um einen fünften Satz – «Ihr habt nun Traurigkeit» – erweiterte, nunmehr siebenteilige Werk erklang am 18. Februar 1869 im Gewandhaus zu Leipzig im 17. Abonnementskonzert unter der Leitung von Carl Reinecke. Als Datum der Uraufführung gilt allerdings bereits der 10. April 1868, als Brahms selbst die Partitur im Bremer Dom aus der Taufe hob – eine Aufführung, die für den 35-Jährigen nun auch den Durchbruch als Komponist bedeutete: Trotz der zahlreich im Druck veröffentlichten Werke, vor allem von Klavier- und Kammermusik wie auch Liedern und Chören, war Brahms unter seinen Zeitgenossen bis dahin eher als Pianist und Chorleiter bekannt. Dies spiegelt sich in der 1857 angenommenen Anstellung als fürstlicher Klavierlehrer und Leiter des neu gegründeten Chores in der kleinen und etwas abgelegenen Lippeschen Residenzstadt Detmold ebenso wie in dem vergeblich gebliebenen Versuch, als Chormeister der Hamburger Singakademie in seiner Heimatstadt eine Anstellung zu finden.

Die erfolgreiche wie auch langfristig folgenreiche Bremer Aufführung des «Deutschen Requiems» wurde nicht nur von Brahms’ engstem Freundeskreis als Erfüllung jener Prophezeiung angesehen, die Robert Schumann bereits 1853 in seinem legendären Essay «Neue Bahnen» ausgesprochen hatte – ein in der «Neuen Zeitschrift für Musik» veröffentlichter Text, der den zurückhaltenden Brahms mit einem Schlag in die Musikwelt einführte, ihn zugleich als Hoffnungsträger apostrophierte und, als Kehrseite dieser Begeisterung, den jungen Komponisten mit einer lebenslangen Bürde belastete: «Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor.»

Noch knapp neun Jahre später, als sich Brahms im September 1862 erstmals in Wien aufhielt und im privaten Kreis sein Klavierquartett g-Moll op. 25 durchgespielt wurde, soll Joseph Hellmesberger senior, Primarius der gleichnamigen Quartettformation, spontan ausgerufen haben: «Das ist der Erbe Beethovens!»

Zu diesem Zeitpunkt hatte Brahms freilich weder Streichquartette noch eine Symphonie, die nobilitiertesten Gattungen der Instrumentalmusik, vorgelegt; dies geschah erst 1873 mit den Streichquartetten op. 51 – nach vielen vernichteten Versuchen und in Brahms’ eigenen Worten eine «Zangengeburt» – sowie 1876/77 nach mehr als einem Jahrzehnt der Arbeit mit der lang erwarteten Symphonie Nr. 1 op. 68; dort nun auch im Finale mit deutlicher Reminiszenz an Beethovens Neunte. In seinem vokalen Schaffen setzte sich Brahms hingegen vielfach mit dem Thema der Vergänglichkeit des Lebens und meist hochkarätigen Texten auseinander – beginnend mit dem noch in Detmold entstandenen «Begräbnisgesang» op. 13, fortgesetzt mit der «Alt-Rhapsodie» op. 53 und dem «Schicksalslied» op. 54, der «Nänie» op. 82 und dem «Gesang der Parzen» op. 89 bis hin zu den «Vier ernsten Gesängen» op. 121 und den letzten Choralvorspielen, die mit einer Bearbeitung von «O Welt, ich muss dich lassen» schließen.

Neben Beethovens Schatten lag aber auch der von Robert Schumann auf Brahms’ schöpferischer Biografie. Letzterer wirkte besonders im «Deutschen Requiem» nach – freilich in ganz anderer Weise. Brahms erschien es gar, wie er 1873 in einem Brief an Joseph Joachim notierte, dass es «überhaupt Schumann gehört», nachdem er schon früher den Versuch unternommen hatte, den tragischen Tod des verehrten Vorbilds – «Das Andenken Schumanns bleibt mir heilig» – in einer Trauerkantate zu verarbeiten.

Die Rückbezüge sind denn auch vielfältig und fügen sich zu einem Panorama zusammen: So soll Robert Schumann nach Vollendung seines eigenen Requiems op. 148, der letzten von ihm mit einer Opuszahl versehenen Partitur, gesagt haben: «Das schreibt man für sich selbst.» Ob er damit freilich schon im Frühjahr 1852 die Ereignisse der kommenden Jahre antizipieren konnte, ist fraglich. Eher dürfte es sich angesichts der direkt vorangegangenen «Missa Sacra» op. 147 um eine bewusste Paarbildung handeln. Darüber hinaus findet sich in Schumanns sogenanntem «Düsseldorfer Projektbuch» die ergänzende Idee zu einem nicht weiter spezifizierten «Deutschen Requiem». Schon der gut informierte Biograf Max Kalbeck verwies darauf, dass Brahms bei der Sichtung des Nachlasses auf den Eintrag gestoßen sei – auch wenn sich dieser daran später nicht mehr erinnern wollte oder konnte und widersprach. Brahms dürfte auch so im Schaffen Schumanns genügend Anknüpfungspunkte gefunden haben: darunter das 1849 entstandene «Requiem für Mignon» op. 98b wie auch im Liederzyklus op. 90 von 1850 das als «Requiem» bezeichnete letzte Lied, das Schumann explizit auf den Tod des Dichters Nikolaus Lenau bezog.

Lenau wiederum hatte in einzelnen Formulierungen seiner Dichtung genau jene Bibelstellen aufgegriffen, die später auch Brahms für sein «Deutsches Requiem» zusammenstellte. Wenngleich es trotz dieses Rückgriffs auf Texte der Heiligen Schrift und der weiträumigen Chorpartien kein Oratorium im eigentlichen Sinne darstellt, zugleich aber auch nicht liturgisch verwendbar ist, ergeben sich über alle sieben Sätze hinweg doch einige Allusionen, Querbezüge und musikalische Verweise zum lateinischen Requiem, wie es in den Exequien der katholischen Kirche gebräuchlich ist. Dies betrifft zunächst den kantablen Melodiebogen der Violoncelli und Violen, in dem sich die ersten Töne des Introitus «Requiem aeternam» wiederfinden. Inhaltlich nimmt Brahms mit dem Rekurs auf die Bergpredigt aus dem Matthäus-Evangelium die Idee auf, dass Leid nicht von ewiger Dauer
ist, bezieht dies aber nicht auf die Verstorbenen, sondern auf die noch lebenden Hinterbliebenen, die getröstet werden sollen.

Umgedeutet findet sich im zweiten Satz auch die Sequenz «Dies irae»: Die von anderen Komponisten meist hochdramatisch vertonten Worte vom Zorn Gottes und dem Flehen um Gnade beim Jüngsten Gericht werden ersetzt durch Bibelzeilen, die auf die Vergänglichkeit des Menschen auf Erden verweisen und ihr die Erwartung himmlischer Freuden gegenüberstellen: «und Schmerz und Seufzen wird weg müssen.» Eine gewisse Korrespondenz lässt sich auch zwischen der Communio – «Lux aeterna» – und dem letzten Satz ausmachen, die beide auf den Introitus bzw. den ersten Satz zurückverweisen.

Musikalisch schließt sich in Brahms’ «Deutschem Requiem» ein weiter Bogen, indem die beiden Ecksätze in F-Dur stehen und sich vom liegenden Grundton aus entfalten. Auch die Schlüsse der Sätze sind nahezu identisch, zudem verweist die absteigende Linie des Soprans am Ende («Selig sind die Toten») auf eine Wendung aus dem ersten Satz («getröstet werden»). Aufgegeben wird hier allerdings die für den ersten Satz so charakteristische Wendung nach Des-Dur («die mit Tränen säen»), die man auf die Tonart von Schumanns Requiem-Vertonung beziehen kann. Insgesamt lässt sich – freilich erst nach der späteren Einfügung des fünften Satzes – eine annährend spiegelsymmetrische Anlage konstatieren, in deren Zentrum als Achse der vierte Satz mit seiner Schilderung des himmlischen Elysiums steht («Wie lieblich sind deine Wohnungen») – im wiegenden Dreivierteltakt und in unbeschwertem Es-Dur.

Dass Brahms, einer Erinnerung von Albert Dietrich zufolge, für den zweiten Satz und sicherlich nur für dessen ersten Teil auf das «langsame Scherzo» der im Frühjahr 1854 entstandenen Sonate für zwei Klaviere zurückgegriffen haben soll, ist nicht eindeutig belegbar, erscheint allerdings mit Blick auf die formale Anlage im Bereich des Möglichen: Dreivierteltakt, Rahmenteile in b-Moll mit kontrastierendem Trio in Ges-Dur. Aus den anderen Sätzen dieser Sonate ging schon zuvor das symphonisch gearbeitete Klavierkonzert d-Moll op. 15 hervor.

Darüber hinaus verortet Brahms seine Komposition auch in der Musikgeschichte durch melodische Wendungen und satztechnische Verfahren. So notierte der Berliner Chordirigent Siegfried Ochs um die Wende zum 20. Jahrhundert, Brahms habe ihn darauf hingewiesen, dass sich im zweiten Satz «ein bekannter Choral» verberge. Wörtlich ist dies allerdings nicht zu nehmen, denn das Melos der im Unisono der Singstimmen vorgetragenen Weise entspricht weder der Linie von «Wer nur den lieben Gott lässt walten» noch einem anderen Gesang, sondern bedient sich lediglich der entsprechenden Topoi, um ein scheinbar bekanntes choralhaftes Element und die damit einhergehenden Assoziationen zu erzeugen.

Von größerem Gewicht ist hingegen die Verwendung der Fuge und der damit verbundenen kontrapunktischen Anlage: am Ende des dritten Satzes triumphal in einem alles andere als statischen Klangrausch auf einem über 36 Takte gehaltenen, rhythmisch pulsierenden Orgelpunkt der tiefen Streicher mit Kontrafagott, Posaunen, Tuba und Pauke («Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand») sowie am Ende des sechsten Satzes in einer mehrteiligen Doppelfuge im «stile antico» («Herr, du bist würdig»).

Auch wenn Brahms nach dem Tod seiner Mutter zu Beginn des Jahres 1865 die Arbeit am «Deutschen Requiem» überhaupt erst intensivierte und das Werk – den fünften Satz ausgenommen – bis Sommer 1866 vollendete, entzog er die Partitur einer entsprechenden Deutung: In guter norddeutscher Tradition blieben auch in diesem Fall die möglicherweise mitschwingenden Gefühle eine «Privatangelegenheit des Komponisten», zumal im Zentrum der Texte und der Komposition nicht Trauer, sondern Trost steht.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H.| Michael Kube