Archiv: Grossbritannien-Tournee 2020: Leeds

Leeds Town Hall Town Hall

Interpreten

  • Nobuyuki Tsujii, Klavier
  • Yutaka Sado, Dirigentin

Programm

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Jean Sibelius

«Finlandia» op. 26

Sätze

  • Andante sostenuto - Allegro moderato - Allegro

Dauer

8 Min.

Entstehung

1899

Jean Sibelius’ Nachname vervollständigt ein viel zitiertes Lebensrezept der Finnen, das sich aus drei prägnanten Wörtern zusammensetzt: Sauna – Sisu – Sibelius. Das zweite Wort «Sisu» hat viele Bedeutungen: Am ehesten könnte es mit Beharrlichkeit, Kampfgeist oder Standfestigkeit übersetzt werden. Den regelmäßigen Saunagang, die Beharrlichkeit und die Musik von Jean Sibelius sollte man also verinnerlicht haben, um das Leben im waldreichsten Land Europas zu verstehen. Und gerade mit «Sisu» und Jean Sibelius sollte man die berühmte Tondichtung «Finlandia» auch in Verbindung bringen.

Als eine der erfolgreichsten Kompositionen Sibelius’ hat das Stück einen besonderen Stellenwert im musikalischen Bewusstsein der Finnen erlangt. «Finlandia» ist der kraftstrotzende Urschrei nach Unabhängigkeit. Dieser unbändig starke Wille nach Freiheit ist durch einen Blick in die finnische Geschichte leicht zu erklären: Finnland war über Jahrhunderte hinweg ein Spielball zwischen dem schwedischen Königreich und dem zaristischen Russland. Militärische Auseinandersetzungen auf finnischem Boden verschoben Grenzen; alte Gouverneure gingen, neue kamen. Die scheinbar endgültige Entscheidung über Finnland fiel im Schwedisch-Russischen Krieg 1808/09, als das Gebiet an Russland fiel. Zar Alexander I. er-kannte, dass sich die Finnen nicht ohne Weiteres in sein Reich eingliedern würden und erhob das Land zum Großfürstentum mit einer selbständigen Regierung und Gesetzgebung. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts pflegte man in Finnland einen Weg des Kompromisses: Prosperität und innerer Friede im Tausch gegen Selbst-bestimmung – das Großherzogtum Finnland blieb aber weiter-hin Teil Russlands. Unter Zar Alexander II. (1855 – 1881), der die Zügel lockerer ließ als seine Vorgänger, nahm der politische Schwung zu. Unter Nikolaus II. (1894 – 1917) verschlechterten sich die Dinge für die Finnen aber merklich. Ein wesentlicher Grund war die Installation des Generals Nikolai Bobrikow als Gouverneur in Finnland im Jahr 1898. Bobrikows Auftrag war es, die Russifizierung Finnlands voranzutreiben und jegliche separatistischen Ansätze zu unterbinden. Im Jahr 1900 verfügte er, dass die Korrespondenz zwischen den Behörden in russischer Sprache zu führen sei. Der Russisch-Unterricht sollte in den Schulen verstärkt werden. 1901 wurde die eigenständige finnische Armee abgeschafft. Finnische Wehrpflichtige waren von nun an gezwungen, in russischen Einheiten im ganzen zaristischen Reich Dienst zu tun. 1903 gab Zar Nikolaus II. General Bobrikow weitere Sondervollmachten. Er hatte künftig das Recht, direkt finnische Staatsbeamte zu entlassen. Außerdem erhielt er weitgehende Zensurrechte gegenüber den finnischen Zeitungen und schränkte die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ein. Bobrikow schrieb: «Russlands Würde fordert es […], dass Finnland, mit harter Hand regiert, schrittweise so umgebildet wird, dass es auch äußerlich als eine russische Grenzprovinz erkennbar ist, und während dieser Erneuerungsarbeit unvermeidlich zu Tage tretende Ausbrüche von Bosheit und Widerstandswillen sind um jeden Preis zu zerschlagen.» Finnland wurde zum Pulverfass; wenige Jahre später wurde Bobrikow von einem fanatischen Nationalisten in Helsinki erschossen, was die Stimmung weiter aufheizte.

Die Entstehung von «Finlandia» fällt in jene Zeit, in der Bobrikow gerade einmal ein Jahr im Amt war. In weiten Teilen Finnlands war man sich einig, dass die Situation nicht länger hinnehmbar war; Jean Sibelius war derselben Meinung. Allerdings zog er es vor, sich künstlerisch auszudrücken, die politische Betätigung überließ er anderen. Sein «Gesang der Athener», komponiert im Frühjahr 1899, wurde in Windeseile zum musikalischen Symbol für die Auflehnung gegen den Zaren. Sibelius war nolens volens zu einer der führenden künstlerischen Figuren des Widerstands geworden. Obwohl das offizielle Finnland unter eiserner russischer Hand war und man die Presse sukzessive durch Stilllegungen von Druckereien und weitere Re-pressalien in die Enge trieb, lief der Musikbetrieb einigermaßen unberührt weiter. Die Reaktion darauf waren die «Pressetage» vom 3. bis 5. November 1899, die offiziell zu Gunsten der Rentenkasse für Journalisten abgehalten wurden. Tatsächlich war die Veranstaltung aber als moralische Unterstützung für Finnlands kämpfende Presse gedacht. Für die Galavorstellung am 4. November hatte sich der Leiter des Finnischen Theaters in Helsinki eine Reihe historischer Tableaus ausgedacht, die mit Texten namhafter Dichter und Musik von Jean Sibelius untermalt werden sollte. Das letzte dieser Tableaus hieß «Finnland erwache» und erinnerte an Schlüsselmomente der finnischen Geschichte, darunter auch die erste Eisenbahnlokomotive, die im Land fuhr, und die Sibelius so trefflich am Ende des Tableaus vertonte.

Der Komponist zeigte sich in diesem vergleichsweise kurzen Stück als glühender Patriot; die Musik wurde zu einem spontanen Erfolg, Sibelius hatte die Sorgen und Sehnsüchte seiner Landsleute so gut eingefangen wie niemand zuvor. Das Grollen der Blechbläser war von ihm eigentlich dazu gedacht, das Gemurmel im Saal bei der Aufführung zum Verstummen zu verbringen, stellt gleichzeitig aber den verbissenen Grimm der zaristischen Umklammerung dar. Zaghaftes Flehen und Weinen wird mehr und mehr durchsetzt von wütenden Einwürfen – Finnland beginnt zu erwachen. Am Ende dieses Prozesses steht ein markiges Thema aus fünf Tönen, es eilt vorwärts und verströmt Kraft und Zuversicht. Festlich und freudig eilt die Musik ihrem hymnischen Finale entgegen.

Als man im Frühjahr 1900 das Gastspiel des Philharmonischen Orchesters Helsinki bei der Pariser Weltausstellung vorbereitete, wurde Sibelius eingeladen, aus diesem Anlass eine Ouvertüre zu komponieren. Anstelle eines neuen Stücks offerierte er seinen Sensationserfolg aus der Tableaumusik und gab die Komposition unter dem Titel «Finlandia» heraus. Als Beitrag zur – letztlich erfolgreichen – Unabhängigkeitsbewegung darf «Finlandia» seinen fixen Platz in der (Musik-)Geschichte beanspruchen. Nach weiteren Jahren des Ringens erklärte Finnland in den Nachwehen der Oktober-revolution am 6. Dezember 1917 seine Unabhängigkeit, die von Lenin umgehend akzeptiert wurde. «Finlandia» war aber nicht nur bei den Finnen enorm populär, sondern erfreute sich schon bald in weiten Teilen der Welt großer Beliebtheit. «Finlandia» verkörpert das allgemeingültige Wesen der Bedrohung, der Revolte, des Gebets, der Glaubensgewissheit und der Zuversicht.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore

Richard Strauss

«Don Juan» Tondichtung op. 20

Sätze

  • Allegro molto con brio (alla breve)

Dauer

17 Min.

Entstehung

1888

Im Frühjahr 1888 begann Strauss mit der Komposition seiner dritten Tondichtung für großes Orchester, «Don Juan». Der Partitur stehen zwar Zitate aus der unvollendeten Dichtung Nikolaus Lenaus voran, doch scheint die programmatische Verbindung viel loser zu sein, als man lange dachte. Im Juni 1885 hatte er gemeinsam mit Hans von Bülow eine Aufführung von Paul Heyses Drama «Don Juans Ende» besucht – eine weitere Inspirationsquelle? Mozarts «Don Giovanni» dirigierte Strauss zwar erst 1890 zum ersten Mal, doch gekannt hat er die Oper zweifellos. Die Figur des Don Juan, des Frauenhelden, der zwar keiner Versuchung widerstehen kann, doch gleichzeitig seines Lebens überdrüssig ist und in letzter Konsequenz den Tod findet, hat den knapp 24-Jährigen an sich fasziniert. Sein «Don Juan» bildet ein eigenes Drama in den glühenden Farben des großen Symphonieorchesters eindrucksvoll ab, das der Hochbegabte mit der ihm eigenen sicheren Hand einzusetzen wusste. Im Herbst schon war das Stück fertig, und obwohl es bis zur Uraufführung am 11. November 1889 in Weimar noch über ein Jahr dauerte, änderte Strauss (angeblich) nichts mehr an seiner Partitur.

Heute glaubt man zu wissen, dass Strauss bei «Don Juan» keinem fixen, vorgegebenen Programm gefolgt ist, sondern im Laufe der Komposition sich seine programmatische Richtung aufgrund der vorgegebenen Titelfigur selbst erst entwickelt hat. Einer Handlung ist hier insofern zu folgen, als sich das Werben, der Erfolg und Misserfolg der amourösen Abenteuer in der Musik gut erkennen lassen.

Der umwerfend stürmische Beginn markiert zweifellos den Helden der Geschichte. Wild auffahrend, ein Draufgänger, wie auch jeder Dirigent gleich zu Beginn zu spüren bekommt: Sie sind nicht leicht zu bändigen, die ersten Takte des «Don Juan», der in so rasendem Tempo anhebt, als würde er mit einem Streich die komplette Damenwelt in wohlig-prickelnde Ohnmachten stürzen wollen. Das feurige Thema verbreitert sich, gewinnt an Kraft, wird ungeduldig – als es plötzlich sich träumerisch verliert und eine Solo-Violine über allem schwebt: die erste Angebetete betritt die Szene. Das Liebeswerben nimmt seinen Lauf, findet das erstrebte Ziel, und zurück bleibt Ermattung, bevor das nächste Abenteuer losgeht. Diesmal ertönt das Lied des erotischen Opfers in der Oboe. Diese Affäre beginnt ruhiger, doch bald stellt sich auch hier mit mächtigen Hornklängen ein enormes Drängen ein: Der Blechglanz verströmt die unwiderstehliche Kraft des Helden. Die Ermattung folgt auch diesmal, nur stärker. Ein weiteres Mal schwingt er sich auf, doch das Begehren wird wilder, ziellos. Erneut ergießt sich die unbändige, fast verzweifelt mobilisierte Kraft in vollmundig-üppigem Orchesterglanz, es folgt ein weiterer Aufschwung mit dem Anfangsthema – doch es führt nirgendwo mehr hin: Diese Erlahmung ist die letzte. Der einzelne Ton der Solo-Trompete wird gern als tödlicher Degenstoß interpretiert, denn jetzt verdämmert alles rasch. «Don Juan» ist in jeglicher Hinsicht am Ende. Der leise, wie absterbende Schluss vermittelt sowohl den Tod als auch die mit der Masse an Liebesabenteuern, dem ständigen Suchen, Finden, der Erschöpfung und der Wiederholung dieses Musters einhergehende Auszehrung, den Verfall des Helden.

Freilich ist diese inhaltliche Darstellung nur eine Möglichkeit, denn so sehr Strauss anderswo klare Richtschnüre hinterlassen hat, etwa im «Heldenleben» oder der «Alpensinfonie», fußen die Denkansätze bei «Don Juan» letztlich alle auf drei Textzitaten aus Lenaus «Don Juan», und diese sollten nur den Gehalt der Tondichtung erläutern, nicht aber deren detaillierten Ablauf. Und so wird, je nach Fantasie, sich jeder seine mehr oder weniger eindeutigen Gedanken machen zu diesem Glanzstück der Orchestergeschichte. Strauss’ Instrumentierungskunst machte selbst scharfe konservative Kritiker staunen, die sonst kein gutes Haar an seiner Musik ließen. Mit «Don Juan» hat er eine Tür in seine Zukunft der Orchesterbehandlung aufgestoßen, ohne die alles weitere, von «Rosenkavalier» bis «Capriccio», nicht denkbar gewesen wäre. Der Erfolg des «Don Juan» war derart, dass er in den ersten drei Jahren schon 26 Mal in Städten von Wien bis Paris, New York oder Boston aufgeführt wurde und Strauss’ internationalen Ruf über Nacht festigte.

© Grafenegg Kulturbetriebsges.m.b.H. | Markus Hennerfeind

Jean Sibelius

Symphonie Nr. 7 op. 105

Dauer

21 Min.

Entstehung

1924

Die Lebensjahre von Jean Sibelius fallen in eine Zeit, als sich die Welt ständig selbst neu erfand. In Sibelius' Geburtsjahr 1865 wurde Wagners «Tristan und Isolde» uraufgeführt, wenige Tage nach seinem Tod 1957 sandte die Raumsonde Sputnik 1 ihre ersten Radiosignale zur Erde. Dazwischen lagen zwei Weltkriege, der Zerfall des alten und die Anfänge des modernen Europas. Auch in der Musik war kaum ein Stein auf dem anderen geblieben: Während seines Wiener Studienjahres 1890/91 brannte der junge Sibelius für Anton Bruckner und stand Johannes Brahms skeptisch gegenüber - als er rund 40 Jahre später die Komponistenfeder endgültig weglegte, war die Zweite Wiener Schule längst begründet worden, Igor Strawinski hatte die Musikwelt gehörig durchgewirbelt, und der junge Olivier Messiaen hatte sich mit ersten Werken vorgestellt.

Dass Sibelius seinen Ruhestand rund 30 Jahre lang auskosten konnte und damit auch Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und John Cage erlebte, machte ihn zur «lebenden Legende». Freilich war Sibelius da nur mehr ein schweigender Beobachter und hatte sich aus dem internationalen Musikbetrieb schon längst zurückgezogen. Er gehört zur letzten Generation der großen Romantiker und den ersten Mitgestaltern der Moderne - nur um von der Zeit selbst eingeholt zu werden, als «eine Erscheinung aus den Wäldern», wie er grüblerisch mutmaßte. Dabei provozierte seine Musik Beurteilungen, die kaum gegensätzlicher hätten ausfallen können und gar nicht notwendigerweise ihm selbst galten, sondern unterschiedlichen Standpunkten in einem sich zuspitzenden Prozess geschuldet waren. Während manche seine Musik als hoffnungslos rückständig ansahen, begeisterten sich Vertreter der sogenannten Spektralmusik in den 1980er- und 1990er-Jahren für seine ausgeklügelten und noch unerforschten Klangkonstellationen. Die welt- und musikhistorische Kulisse sowie sein überreiches OEuvre machen Jean Sibelius jedenfalls zu einer der interessantesten Musikerpersönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts.

Insgesamt komponierte Sibelius acht Symphonien; und doch ist die Symphonie Nr. 7 seine letzte. Ihr Nachfolgewerk gab er nie heraus und verbrannte es in den frühen 1940er-Jahren. Damit sind die symphonische Dichtung «Tapiola» (Uraufführung 1926) und die Siebente (Uraufführung 1924) die beiden letzten großen Orchesterwerke des Komponisten, der seine Heimat Finnland endgültig auf die große Weltkarte der Musik gesetzt hatte. Von der ersten bis zur sechsten Symphonie spannt sich ein großer Bogen, in dem sich Sibelius auf vielfache Weise verwirklichte. Waren die ersten beiden temperamentvolle Geniestreiche, zeigte sich Sibelius mit seiner dritten Symphonie als humorvoller Klassizist - um mit der Vierten «per aspera ad astra» («durch das Dunkel zu den Sternen») zu gehen. Die fünfte Symphonie wurde ein sonnengereiftes Freudenfest, die sechste ein geheimnisvolles, liebliches Idyll.

Über den Symphonien lässt sich ein großes gedankliches Thema ausmachen, nämlich Sibelius' intensive Beschäftigung mit der äußeren Form und dem inneren Gehalt - diese beiden Dinge waren für ihn eng verbunden, ja sie bedingten einander. Die Musik von Sibelius weist so gut wie immer einen organischen und nachvollziehbaren Wachstumsprozess auf: Es ist ein Keimen und Sprießen, in der sich das Neue aus dem Vorangegangenen ergibt. Und weil nicht jedes Wachstum auf gleiche Weise verläuft, war es für Sibelius nur naheliegend, nicht immer die gleichen Mittel zu wählen, um sich seiner selbstgestellten Aufgabe zu nähern. So finden sich bei ihm auch zwei dreisätzige Symphonien unter seinen sonst viersätzigen Werken dieser Gattung. Mit dem Bestreben, die Musik ständig entstehen und keimen zu lassen, steht Sibelius in einer symphonischen Tradition, zu deren Vertretern in mancher Hinsicht unter anderem Franz Schubert und Anton Bruckner zählen.

Schon entlang des Entstehungsprozesses der Symphonie Nr. 7 C-Dur op. 105 kann man das Denken von Sibelius gut nachvollziehen. Die ersten Ideen reichen zurück in die Jahre 1913/14, was die Symphonie zum ungleichen Schwesterwerk der Sechsten macht. Dann ist 1918 in einem Brief von Sibelius zu lesen: «Meine neuen Werke - zum Teil schon skizziert und im Plan fertig [...] Die Siebente Sinfonie: Freude des Lebens und Vitalität, mit appassionato Passagen.» Nach Abschluss der Sechsten konzentrierte er sich auf seine neue Symphonie - doch die Stimmung hatte sich dramatisch verdüstert: «... Wie unendlich tragisch ist doch das Schicksal eines alternden Tonsetzers! Es geht nicht mehr mit der gleichen Geschwindigkeit wie früher, und die Selbstkritik wächst ins Unmögliche.» Mehr als einmal in seinem Leben gelang es ihm, sich wieder einzufangen und aufzurichten - so auch hier. Anfang der 1920er-Jahre existierte die Symphonie Nr. 7 in einer viersätzigen Fassung; doch ab Sommer 1923 ging Sibelius den radikalen Schritt und konstruierte seine Symphonie als einsätzigen Monolith.

Bis heute herrscht keine Einigkeit darüber, wie das innere Wesen des Werks beschaffen ist. Sind es drei, vier oder doch mehr Teile? Gehen sie ineinander über oder überlagern sie sich? Ist das Thema die aufsteigende Skala zu Beginn, die pastorale Melodie danach oder letztlich doch das wiederkehrende, majestätische Motiv der Blechbläser? Jeder dieser Ansätze hat Verfechter und Kritiker. Letztlich bewegt man sich beim Versuch, diesem Werk mit herkömmlichen Begriffen und tradierten Systemen beizukommen, auf unsicherem Terrain. Diese Symphonie entzieht sich all dem - sie ist eine Welt für sich. Am ehesten noch könnte man sich so etwas wie «tektonische Verschiebungen» vorstellen, die sich unter den vielfältigen Musikphänomenen im Orchester abspielen: die aufsteigende Skala in einer alten Kirchentonart (Modus) zu Beginn führt am Ziel schon zum ersten von vielen harmonischen Flüssen. Kreiselnde Melodiestücke verdichten sich in schillernden Farben, um wieder in den Humus einzusickern, aus dem ständig neue Gedanken keimen. Alles ist so faszinierend verwoben, dass man sich dem Sog unmöglich entziehen kann. Man spürt, dass hier eine große, ja riesige Idee beschworen wird, die ihre geheime Ordnung nicht preisgibt. Sibelius sagte über seine Siebente: «Der Fluss entsteht aus zahllosen Zuflüssen, die alle ihren Weg suchen... die den Fluss bilden, bevor er breit und majestätisch dem Meer entgegenflutet. Der Strom des Wassers formt den Fluss: Er gleicht dem Strom der musikalischen Ideen, und das Flussbett, das er bildet, wäre der symphonischen Form gleichzusetzen.»

Die unglaubliche Schönheit der Symphonie Nr. 7 liegt in ihrer kunstvollen Wandelbarkeit. Alles findet seinen Platz, für alles ist Zeit - am Ende hat man die Erde umkreist und sie dabei gleichzeitig umarmt.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H.| Alexander Moore

Maurice Ravel

Konzert für Klavier und Orchester G-Dur

Sätze

  • Allegramente

  • Adagio assai

  • Presto

Dauer

20 Min.

Entstehung

1929-32

Maurice Ravel  entschied erst spät in seinem Leben, für sich ein eigenes Klavierkonzert zu komponieren. Nach viel Klaviermusik, Kammermusik, Liedern, Balletten und sogar Opern fehlte im Werkkatalog dieses nicht zuletzt auch fabelhaften Pianisten bloß ein Werk für Klavier und Orchester. 1929 nahm er es in Angriff; es war auch als Referenz an Mozart gedacht und zählt heute zu den beliebtesten Klavierkonzerten überhaupt. Nun wollte es der Zufall, oder eigentlich: der Wiener Pianist Paul Wittgenstein, dass Ravel, kurz nachdem er mit der Arbeit an seinem G-Dur-Klavierkonzert begonnen hatte, ein weiteres, spezielles Werk für die Besetzung Klavier und Orchester schreiben sollte – allerdings eines für die linke Hand allein. So ergab es sich, dass Ravel gleichzeitig an zwei Konzerten arbeitete: Auf seinem Flügel lag links ein Packen Noten für das G-Dur-Konzert, rechts bewahrte er das linkshändige Werk auf. Und obwohl kein Zweifel besteht, dass beide Werke ureigenster Ravel sind, könnten sie doch unterschiedlicher nicht sein – sowohl stilistisch als auch, klarerweise, spieltechnisch. Ravel selbst äußerte sich dazu im Juli 1931 in einem Interview für den Daily Telegraph: «Gleichzeitig zwei Konzerte zu konzipieren war eine interessante Erfahrung. Dasjenige, das ich selbst spielen werde [dazu sollte es nicht mehr kommen], ist ein Konzert im wahrsten Sinne des Wortes.

Darunter verstehe ich, dass es im Geiste der Konzerte Mozarts und Saint-Saëns’ geschrieben ist. Meiner Meinung nach muss die Musik eines Konzerts leicht und brillant und nicht auf Tiefsinn und dramatische Wirkung bedacht sein […] Zuerst hatte ich gedacht, mein Konzert als ‹divertissement› zu bezeichnen. Dann erschien mir dies aber als unnötig, weil der Begriff ‹concerto› selbst klar genug den Charakter des Werks erfasst. In mancher Hinsicht ist dieses Konzert nicht ohne Beziehungen zu meiner Violinsonate. Es enthält einige Anspielungen auf den Jazz, aber nicht viele.»

Maurice Ravel schrieb also das G-Dur-Konzert eigentlich für sich selbst – er war schließlich auch ein fabelhafter Pianist, der sich auf der Höhe seines Ruhmes befand. Allerdings erlaubte ihm seine sich langsam, aber stetig verschlechternde Gesundheit nicht mehr, die Uraufführung am 14. Jänner 1932 auch selbst zu spielen. Die mit Ravel lange Jahre befreundete Pianistin Marguerite Long saß bei der Premiere am Flügel, Ravel stand am Pult des Orchestre Lamoureux.

Der erste Satz (Allegramente) beginnt mit einem Peitschenschlag, auf den sofort über wirbelnden Klaviergirlanden die Piccoloflöte mit einem an ein baskisches Volkslied erinnernden Thema einsetzt. Schlag auf Schlag tauchen, enorm kunstvoll und doch mit scheinbar leichter Hand aneinandergefügt, gleich vier weitere Themen auf, die zunehmend von der Sphäre des Jazz beeinflusst sind. Formal wiederum bleibt Ravel im Kopfsatz der klassischen Form verpflichtet, wenn auch durch die abwechslungsreiche Instrumentierung so verschleiert, dass weder die ausgelassene Durchführung, noch die raffiniert sich einschleichende Reprise leicht auszumachen sind. Lauscht man jedoch genau, verrät eine zarte Passage mit glitzernden Harfenglissandi und die bald darauf folgende Klavier-Kadenz mit langen Trillerketten den Eintritt der Coda, die den Satz schließlich launig-lärmend beschließt.

Der zweite Satz (Adagio assai) bildet dazu den denkbar größten Kontrast: Das Klavier alleine singt eine beinahe unendliche Melodie, «die an Mozart erinnert, den Mozart des Klarinettenquintetts …, das schönste Stück, das er geschrieben hat,» meint Ravel, und fügt noch hinzu: «diese fließende Melodie! Wie habe ich um sie Takt für Takt gerungen! Fast hätte es mich umgebracht.» Das Klavier behält dabei in der linken Hand durch den ganzen Satz eine gleichbleibende Figur bei, über der sich in der Folge nicht nur die rechte Hand mit immer neuen Figurationen erhebt, sondern auch die Holzbläser einige der schönsten Orchestersoli der Musikgeschichte beisteuern.

Die ausgelassene Atmosphäre des ersten Satzes kehrt im Finale (Presto) zurück, allerdings noch deutlich knalliger und schneller. Der Gedanke an Strawinskis «Petruschka» oder Saties «Parade» liegt hier nahe, an eine Zirkus- oder Jahrmarktsszene also. Doch ist es letztlich die Welt des klassischen Rondosatzes, «im Geiste Mozarts und Saint-Saëns’», dem das unglaublich rasch seinem Ende zurasende Presto, in verknappter, ausgelassener, jazziger Weise, folgt: Effektvollere, und dabei so leicht fließende Musik für Klavier und Orchester ist nie geschrieben worden.

Nun, Ravel selbst sollte sich an seinen beiden Klavierkonzerten nicht mehr allzu lange erfreuen dürfen. Das eigentlich für ihn selbst komponierte in G-Dur konnte er aufgrund seiner fortschreitenden Erkrankung nicht mehr aufführen – aber immerhin dirigierte er es selbst. Das Konzert für die linke Hand hörte er erst 1937, selbst längst arbeitsunfähig und gezeichnet vom unaufhaltbaren Verfall: «Ich habe noch so viel Musik im Kopf, ich habe noch nichts gesagt, ich habe noch alles zu sagen», klagte er, doch an Arbeit war nicht mehr zu denken. Seine letzten vollendeten Werke nach den beiden Konzerten waren 1932 die drei Lieder «Don Quichotte à Dulcinée». Nach Jahren des Leidens und einer zuletzt noch unternommenen, jedoch zwecklosen Gehirnoperation starb Ravel am 28. Dezember 1937. Sein heute gespieltes Konzert in G-Dur gilt nicht nur in seiner einzigartigen Verbindung aus Witz, Spielfreude und melancholischen Momenten, tatsächlich im Geiste der großen Vorbilder Mozart und Saint-Saëns, als eine der gelungensten Schöpfungen auf dem Gebiet des Klavierkonzerts, sondern es steht auch am Höhe- und gleichzeitig Schlusspunkt des einmaligen Schaffens von Maurice Ravel.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Markus Hennerfeind

Frédéric Chopin

Andante spianato et Grande Polonaise brillante für Klavier und Orchester Es-Dur op. 22

Sätze

  • Andante spianato

  • Grande polonaise brillante

Dauer

14 Min.

Entstehung

1830-34
Maurice Ravel

Boléro

Sätze

  • Tempo die Boléro, moderato assai

Dauer

16 Min.

Entstehung

1929

Maurice Ravel formulierte es einmal ganz lakonisch so: «Ich habe nur ein Meisterwerk geschaffen, das ist der ‹Boléro›, leider enthält er keine Musik.» – Was sich wie beinharte, überzogene Selbstkritik ausnimmt, ist freilich bloß die nüchterne Analyse eines vom Komponisten einmal ausdrücklich so bezeichneten «Experiments»: Es existiert wohl keine zweite Viertelstunde in der abendländischen Musikgeschichte, in der die gegensätzlichen Prinzipien von Abwechslung und Wiederholung so exzessiv und gleichsam «nackt» gegeneinander ausgespielt würden wie hier. In seiner «Monotonie und Monomanie, seiner Starrheit, unerbittlichen Mechanik und einzigartigen Gleichförmigkeit» (Attila Csampai) scheint das Werk trotz gewaltigen Orchesterapparats die Idee der Mehrstimmigkeit gar grundsätzlich zu leugnen. Denn Ravel reduziert hier das Phänomen Musik in radikaler Unerbittlichkeit auf die Anwendung eines einzigen Verfahrens: jenes der Variation. Und zwar gerade nicht in der üblichen Form der Abwandlung einer melodischen Bewegung mittels Erweiterung oder Reduktion, sondern einzig über Modifikationen von deren Klangfarbe.

Nach einer knappen Einleitung, die den allgegenwärtigen Boléro-Rhythmus der kleinen Trommel über einer denkbar simplen, gezupften C-Dur-Bassformel inauguriert, werden zwei Themen A und B in der starren Abfolge AABB beständig wiederholt: anmutig und rein tönt das erste (A), eine schwerelos wirkende Arabeske (zunächst Flöte, dann B-Klarinette); unfein, fast anstößig dagegen das zweite (B) mit seinen widerspenstigen Synkopen in vom Blues geprägter Chromatik (Fagott, gefolgt von der frechen Es-Klarinette). Unmerklich werden Trommel-Rhythmus und Bass kontinuierlich durch weitere Instrumente verstärkt, während Oboe d’amore, dann im Verein Flöte und gestopfte Trompete jeweils das A-Thema wiederholen, gefolgt von Tenor- sowie Sopranino-Saxophon mit ihren Varianten des B-Themas.

Dass sich Ravel aber weder mit den wechselnden Farbwerten bloßer solistischer Reihung noch mit reiner Addition der instrumentalen Kräfte zufrieden gibt, zeigt schon der nächste Einsatz. In einer wahrlich ausgefuchsten Kombination treten da Piccoloflöten, Horn und Celesta mit dem A-Thema hervor, spielen aber gleichzeitig in verschiedenen Tonarten: Zum C-Dur der Celesta kommen Horn und 2. Piccolo in G-Dur, während sich das erste in E-Dur darüber legt – eine glitzernd-irisierende Kolorierung, die einer Orgelmixtur gleicht.

Eine Tabelle aller Instrumentierungsfinessen würde wohl der strikt rationalen Planung des Werkes am ehesten gerecht werden – doch dadurch wäre man abgelenkt von der magisch-rituellen Wirkung, die der Boléro in erster Linie entfacht: Denn selbst wer das AABB-Schema eine Weile aufmerksam mitzuverfolgen versucht, verliert sich irgendwann unweigerlich in dem unerhörten Sog der Musik, die in einem riesigen Crescendo anschwillt. Eine gewaltige Steigerung baut sich auf, bis schließlich das unverdoppelte Melodiepaar AB folgt, worauf die Orchester-Maschinerie nach 328 Takten schließlich außer Kontrolle gerät und «abhebt»: eine ekstatische E-Dur-Explosion lässt das bisher herrschende C-Dur zerbersten. Nur mit einem gewaltsamen Modulations-Manöver kann das überhitzte Triebwerk wieder in sein C-Dur-Gleis zurückgezwungen werden – heulende Posaunen­glissandi und ein kollektiver Aufschrei prägen die knappen Schluss­takte.

Für die Tänzerin Bronislava Nijinska als Ballettmusik entstanden und am 11. November 1928 in der Pariser Oper uraufgeführt, hat sich der Boléro in der Folge zu einem der beliebtesten Stücke der klassischen Musik überhaupt, aber auch zu einer der härtesten Konzert-Herausforderungen für Orchester und Dirigenten entwickelt: Stupende instrumentale Virtuosität und ein kühler Kopf beim strikten Durchhalten des relativ langsamen Tempos sind unabdingbar. Dazu formulierte Ravel selbst anlässlich denkbar unterschiedlicher Aufführungen unter Arturo Toscanini und Wilhelm Furtwängler das Paradoxon: «Wenn man den Boléro schnell spielt, so scheint er lang; wenn man ihn aber langsam spielt, so erscheint er kurz.»

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Walter Weidringer