Archiv: Mahler 3

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Interpreten

  • Kate Lindsey, Mezzosopran
  • Wiener Singverein, Chor
  • Wiener Sängerknaben, Chor
  • Yutaka Sado, Dirigent

Programm

Ein ganzer Roman in Form eines zerklüfteten Marsches zu Beginn und ein langsamer Hymnus auf die Liebe als Finale. Dazwischen zwei leichtgewichtige Scherzi und zwei Gesangssätze nach Worten aus Nietzsches «Also sprach Zarathustra» und der Volksliedsammlung «Des Knaben Wunderhorn»: Gustav Mahlers 1902 uraufgeführte Dritte zählt zu den eindrucksvollsten und umfangreichsten Symphonien überhaupt. Himmel und Erde klingen darin – und nur erste Kräfte, auf vokaler Seite Kate Lindsey, die Damen des Wiener Singvereins und die Wiener Sängerknaben, können diesen Tonkünstler-Gipfelsturm wagen: Yutaka Sado ist ihr bei jedem Tritt sicherer Bergführer.

Elisabeth Kulman musste ihre Teilnahme an diesem Konzert absagen. Dankenswerterweise erklärte sich Kate Lindsey bereit, als Solistin einzuspringen. 

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Gustav Mahler

Symphonie Nr. 3 d-Moll für Alt-Solo, Frauenchor, Knabenchor und Orchester

Sätze

  • Kräftig. Entschieden

  • Tempo di Menuetto. Sehr mäßig

  • Comodo. Scherzando. Ohne Hast

  • Sehr langsam. Misterioso

  • Lustig im Tempo und keck im Ausdruck

  • Langsam. Ruhevoll. Empfunden

Dauer

95 Min.

Entstehung

1895-96

«Ich bin in der Arbeit! das ist die Hauptsache! – Mein Häuschen (auf der Wiese), neu gebaut, ein idealer Aufenthalt für mich! Kein Laut in der weiten Runde! Umgeben von Blumen und Vögel[n]»: So jubelte Gustav Mahler Mitte Juni 1894 über sein gerade fertiggestelltes persönliches Ferienrefugium, das sogenannte Komponierhäuschen in Steinbach am Attersee in Oberösterreich. Mit Mitte 30 Erster Kapellmeister in Hamburg sowie in ganz Europa erfolgreicher Dirigent, befand er sich zugleich als Komponist auf einem ersten schöpferischen Höhepunkt. In den Sommermonaten der Jahre 1895 und 1896 schuf er in Steinbach seine monumentale dritte Symphonie, die alle bisher gewohnten äußeren und inneren Dimensionen sprengen sollte: Es wurde seine längste überhaupt und dadurch auch das umfangreichste in jenem großen Zyklus der Symphonien 2 bis 4, der Inspiration und Text für jeweils einen Gesangsteil aus der Sammlung «DesKnaben Wunderhorn» bezieht.

Stand in seiner zweiten Symphonie der Mensch zwischen den Schrecken des Todes und der feierlich inszenierten Auferstehungsgewissheit im Mittelpunkt, richtete Mahler nun seinen kompositorischen Blick auf die ganze Schöpfung und setzte in wahrlich weltumspannender Weise Natur und Leben schlechthin in Musik. Der 16 Jahre jüngere Freund des Komponisten und von ihm geförderte Kollege Bruno Walter berichtet, dass auf einem Spaziergang in der Steinbacher Gegend, als Walter die Augen durch die Landschaft schweifen ließ, Mahler gemeint habe: «Sie brauchen gar nicht mehr hinzuschauen – das habe ich schon alles wegkomponiert.»
«Meine Symphonie wird etwas sein, was die Welt noch nicht gehört hat!», heißt es in einem Brief an die Sängerin Anna von Mildenburg Ende Juni 1896: «Die ganze Natur bekommt darin eine Stimme und erzählt so tief Geheimes, was man vielleicht im Traume ahnt! Ich sag Dir, mir ist manchmal selbst unheimlich zu Muth bei manchen Stellen, und es kommt mir vor, als ob ich das gar nicht gemacht hätte. Man ist sozusagen selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt.» Und dieses Universum wird als Ganzes zum Klingen gebracht – in einem programmatischen Stufenplan, der in etlichen, leicht differierenden Fassungen überliefert ist. Mahler formte ihn, wie Constantin Floros herausfinden konnte, in Anlehnung an das 1880 im Buch der Freude veröffentlichte Gedicht «Genesis» seines Freundes Siegfried Lipiner. Nacheinander werden in den einzelnen Sätzen, ausgehend von der «unbeseelten, starren Materie», immer höhere Daseinsformen musikalisch behandelt – bis hin zur Liebe als ewig-göttlichem Prinzip. Die sechs Kapitel dieser «hochpoetischen Schöpfungsgeschichte» (Floros) benannte Mahler zuletzt so:

Ein Sommermittagstraum
I. Abteilung.
Einleitung: Pan erwacht.
Nr. 1: Der Sommer marschiert ein (Bacchuszug).
II. Abteilung.
Nr. 2: Was mir die Blumen auf der Wiese erzählen
Nr. 3: Was mir die Tiere im Walde erzählen
Nr. 4: Was mir der Mensch erzählt
Nr. 5: Was mir die Engel erzählen
Nr. 6: Was mir die Liebe erzählt

Einen ursprünglich noch konzipierten letzten Satz: «Was mir das Kind erzählt», eine Vertonung des Wunderhorn-Gedichts «Das himmlische Leben», mit dem Mahler kindliche Unschuld als die einzige ihm möglich scheinende Steigerung und Fortführung allumfassender Liebe darlegen wollte, strich er und setzte ihn später als Finale und Kulminationspunkt seiner vierten Symphonie ein, wobei der Refrain bereits im fünften Satz der Dritten anklingt. «Daß ich sie Symphonie nenne», räumte Mahler im Hinblick auf dieses in nahezu jeder Hinsicht unerhörte Konzept ein, «ist eigentlich unzutreffend, denn in nichts hält sie sich an die herkömmliche Form. Aber Symphonie heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.» So bedeutsam all diese programmatischen Leitlinien auch im Entwurf und während der Ausführung gewesen sein mögen, so unpassend und von der Musik ablenkend erschienen sie Mahler später, weshalb er sie schließlich bewusst wegließ – in den Worten Bruno Walters: so «wie man ein Gerüst entfernt, wenn das Haus fertig ist».

Die Idee von der Symphonie als einem klingenden Abbild der Welt in ihrer Vielfalt und mit allen Widersprüchen und Gegensätzen bedingt auch die für Mahler typischen stilistischen Querstände, extremen Kontraste und verblüffenden Gleichzeitigkeiten: Militärmarsch, Blasmusikfanfare, Naturlaut, Volkslied und Tanzmusik finden Eingang in den bürgerlichen Konzertsaal und stehen gleichrangig neben der hehren, altehrwürdigen Kunst – wofür ein Wiener Kritiker 1904 dem Komponisten ein paar Jahre Gefängnis aufbrummen wollte. Dergleichen Vorurteile sind heute längst überwunden, doch stellt die dritte Symphonie vor allem durch ihre Dimensionen für Ausführende und Publikum nach wie vor eine Herausforderung dar: Immerhin dauert der zuletzt komponierte Kopfsatz alleine etwa so lang wie eine ganze Symphonie Ludwig van Beethovens. Mahler ließ daraufhin die Konzertpause folgen; heutzutage wird das Werk gewöhnlich als geschlossenes Ganzes präsentiert. Zwei jeweils denkbar unterschiedliche, auch in sich kontrastierende Satzpaare folgen: tänzerisch das eine, von Gesangsstimmen beherrscht das andere. Danach fasst das breit angelegte Finale die im ersten Satz vielfältig divergierenden Kräfte auf gleichsam höherer Bewusstseinsebene neu zusammen und stimmt einen hymnischen Abgesang an.

«Es ist furchtbar, wie dieser Satz mir über alles, was ich je gemacht habe, hinauswächst. Wahres Entsetzen faßt mich an, wenn ich sehe, wohin das führt, welcher Weg der Musik vorbehalten ist, und daß mir das schreckliche Amt geworden, Träger dieses Riesenwerkes zu sein. Denn wirklich, zu weit von allem Gewesenen entfernt sich dies, das kaum Musik zu nennen, sondern nur ein mystischer, ungeheurer Naturlaut ist.» So heißt es am 4. Juli 1896 im Tagebuch von Mahlers Freundin, der Geigerin Natalie Bauer-Lechner, die als verlässliche Zeugin seiner künstlerischen Aussagen gilt.

Mit imposanter Kraft und einem charakteristischen, in der Tonart freilich mehrdeutigen Thema eröffnen die acht Hörner unisono den Kräftig. Entschieden überschriebenen Kopfsatz. Es bleibt die einzige wirklich fest gefügte Gestalt in einem wie ein Felsengebirge wild zerklüfteten Geschehen, das dennoch in Grundzügen als Sonatensatzform organisiert ist. «Schwer und dumpf» ertönen lastende Trauermarschfloskeln, in die sich grelle Fanfaren wie verzerrte Angstschreie mischen. In Hörnern und dann Trompete schließt sich ein von kreatürlich ächzenden tiefen Bläsern sekundiertes, beredt-dramatisches Rezitativ an, das später in einer feierlich deklamierenden Soloposaune seine eindringlichste Ausformung erlangt. Inzwischen aber sind ein Holzbläserchoral nebst dazugehöriger Melodie und ein die rhythmischen Kräfte bündelnder Militärmarsch auf den Plan getreten und formieren einen optimistisch scheinenden Zug, in den auch das Hauptthema der Hörner mit einstimmt. Doch der angesteuerte Höhepunkt gerät zur schmerzenden Dissonanz, aus dem sich erneut das Rezitativ herausschält. Die Durchführung wird zu einem zweiten, mit schrillen Einwürfen garnierten Marsch am Rande des Chaos. Erst die kleine Trommel kann nach Art einer Blaskapelle zur Ordnung und damit zur Reprise rufen. Die freie Wiederkehr des Themenmaterials erreicht einen von rauschenden Harfenglissandi markierten Gipfel, bevor eine äußerst knappe, drängende Coda mit ekstatisch schmetterndem Blech und donnerndem Schlagzeug den Satz mit wirbelndem Aufschwung zu seinem Ende bringt.

«Wie das klingen wird, davon kannst du dir keine Vorstellung machen! Es ist das Unbekümmertste, was ich je geschrieben habe, – so unbekümmert, wie nur Blumen sein können. […] Daß es bei der harmlosen Blumenheiterkeit nicht bleibt, sondern plötzlich ernst und schwer wird, kannst du dir denken.» (Bauer-Lechner, April 1896)

In größtem Kontrast entpuppt sich der zweite Satz als graziöser Tanz in kammermusikalischem Gewande, mit nur spärlichem Einsatz von Blech und Schlagzeug – das erste von jenen vier Genrebildern, die den Mittelteil der Symphonie bilden. In lyrischem A-Dur steht dieses mit Tempo di Menuetto. Sehr mäßig überschriebene Geschehen, das von einem ruhigen Oboensolo seinen Ausgang nimmt. Als fünfteiliges Menuett mit zwei Trios angelegt, verläuft der Satz freilich unerwartet: Die Schlichtheit wird immer mehr von komplexen musikalischen Bezügen überwuchert, von rhythmischen und harmonischen Differenzen.

«Nur auf den Schluß der ‹Tiere› fällt noch einmal der schwere Schatten der leblosen Natur, der noch unkristallisierten, unorganischen Materie. Doch bedeutet er hier mehr einen Rückfall in die tieferen tierischen Formen der Wesenheit, ehe sie den gewaltigen Sprung zum Geiste in dem höchsten Erdenwesen, dem Menschen, tut.» (Bauer-Lechner, 22. Juni 1896)

Comodo. Scherzando. Ohne Hast folgt als erster Teil des dritten Satzes eine wesentlich erweiterte, reine Instrumentalfassung von Mahlers Lied «Ablösung im Sommer» auf einen Text aus «Des Knaben Wunderhorn»:

Kukuk hat sich zu Tode gefallen
An einer grünen Weiden,
Kukuk ist tod, hat sich zu Tod’ gefallen!
Wer soll uns jetzt den Sommer lang
Die Zeit und Weil vertreiben?

Ei, das soll tun Frau Nachtigall,
Die sitzt auf grünem Zweige;
Die kleine, feine Nachtigall,
Die liebe, süße Nachtigall!
Sie singt und springt, ist allzeit froh,
Wenn andre Vögel schweigen.

Wir warten auf Frau Nachtigall;
Die wohnt im grünen Hage,
Und wenn der Kukuk zu Ende ist,
Dann fängt sie an zu schlagen!

In das von grimmigem Humor geprägte c-Moll-Liedchen im 2/4-Takt mit seinen bukolischen Holzbläsern, feinen Streichergespinsten und derb polterndem Blech ist ein C-Dur-Trio im 6/8-Takt eingeschoben. Danach ereignet sich jedoch ganz Unerhörtes, weil die Scherzo-Funktion des Satzes plötzlich radikal durchbrochen wird: Man fühlt sich in den «Sommermittagstraum» des einst geplanten Werktitels versetzt, wenn mit leiser Wehmut «wie aus weiter Ferne» die Weise eines Posthorns ertönt und damit auch die Menschenwelt ins Tierreich herüberschallt – ein zauberischer Moment. Zaghaft setzt das Kuckuckslied wieder ein, doch neuerlich scheint die Zeit stehenzubleiben, wenn das Posthorn klingt. «Mit geheimnisvoller Hast!» setzt das Treiben der Tiere wieder ein, hat sich aber auf seltsame Weise verändert. Ein letztes Mal lässt sich das Posthorn hören, bevor wieder einmal Harfenglissandi den plötzlichen Einbruch eines düsteren es-Moll-Akkords in diese Sphäre kennzeichnen und eine an den Schluss des ersten Satzes gemahnende Coda den Satz harsch beendet.

Die drei letzten, freilich scharf kontrastierenden Sätze folgen ohne Unterbrechung aufeinander. Die äußeren beiden stehen dabei in D-Dur, der heimlichen Haupttonart der Symphonie, die Mahler seit dem Höhepunkt der Exposition des Stirnsatzes nicht mehr verwendet hat, sondern für jenen Moment aufspart, an dem der Mensch in sich geht und das Wort ergreift: Sehr langsam. Misterioso. Durchaus ppp. Die weihevoll-sakrale Ruhe dieser Vertonung einer Stelle aus Friedrich Nietzsches «Also sprach Zarathustra» verschleiert fast völlig die Tatsache, dass die Musik zur Gänze auf dem Material des ersten Satzes basiert. Beschwörend tönt die Anrufung der Altstimme mit ihrer seufzenden Sekundmotivik, der ein klagendes Englischhornsolo antwortet: D-Dur wirkt hier noch labil und bedroht.Erst mit dem plötzlichen Einsatz von Frauen- und Kinderchor zeigt sich die Radikalität, mit der Mahler den Charakter des fünften und des vorangegangenen Satzes kompositorisch umgedreht hat: Die Menschenworte kleidete er in die Klänge einer religiösen Zeremonie, während der Gesang der Engel, Lustig im Tempo und keck im Ausdruck, mit volksliedhaft-schlichtem, naiv lächelndem Schwung ertönt. «Wie gerade der Humor am allerwenigsten verstanden werden wird, das konnte ich aus dem Verhalten eines Freundes, dem ich’s vorspielte, entnehmen, auf den die ‹Nacht› einen ungeheuren Eindruck machte, während er das darauffolgende Stück der ‹Engel› als zu leicht nach solcher Schwere nicht gelten lassen wollte und dabei nicht begriff (was übrigens die wenigsten begreifen), daß der Humor hier nur für das Höchste einsetzen muß, das anders nicht mehr auszudrücken ist.» (Bauer-Lechner, 28. Juni 1896)

Während die Knaben das Läuten der himmlischen Glocken nachahmen, stimmen die Frauen das Wunderhorn-Gedicht «Es sungen drei Engel» an, wobei im Mittelteil die Altstimme die Rolle des reuigen Petrus und damit eines jeden Menschen übernimmt, der von seinen Sünden losgesprochen wird. Das ermöglicht jedoch nur die uneingeschränkte höchste Liebe: «Im Adagio ist alles aufgelöst in Ruhe und Sein; das Ixionsrad der Erscheinung ist endlich zum Stillstand gebracht. In den schnellen Sätzen dagegen, im Menuett und Allegro […] ist jegliches Fluß, Bewegung, Werden. So schließe ich meine Zweite und Dritte wider den Usus – ohne daß ich mir damals des Grundes bewußt gewesen wäre – mit Adagios, als mit der höheren gegen eine niedrigere Form.» (Bauer-Lechner, August 1896)

Der Satz, Langsam. Ruhevoll. Empfunden, ist ein einziger großer Liebeshymnus – eine grandiose Apotheose, in der die Ewigkeit zur Gegenwart und die Gegenwart zur Ewigkeit wird. Die menschlichen Stimmen schweigen wieder, sind sublimiert in den Kantilenen der Instrumente, die laut Partitur «sehr gebunden», «sehr ausdrucksvoll gesungen» und «sehr gesangvoll» erklingen sollen, wie Mahler nicht müde wird zu betonen. Eine schier endlose D-Dur-Kadenz mit auskomponiertem Ritardando beendet die Symphonie «nicht mit roher Kraft», sondern «gesättigten, edlen Ton[s]».

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Walter Weidringer