Archiv: Mahler 4

St. Pölten Festspielhaus Großer Saal Festspielhaus | Großer Saal

Interpreten

  • Adela Zaharia, Sopran
  • Mie Miki, Akkordeon
  • Meri Yoshioka, Erzählerin
  • Yutaka Sado, Dirigent

Programm

«Der erste Satz beginnt, als ob er nicht bis drei zählen könnte, dann aber geht es gleich ins große Einmaleins und zuletzt wird schwindelnd mit Millionen und aber Millionen gerechnet»: So fasste Gustav Mahler einmal seine Vierte zusammen, in der erneut die letzten Dinge verhandelt werden – aber nun mit doppeltem Boden und in einem humorvollen Märchentonfall, wobei zuletzt ein Sopransolo Einblick in die «himmlischen Freuden» gewährt. Yutaka Sado kombiniert die Fortsetzung seines Mahler-Zyklus mit Tōru Takemitsus «Family Tree», in dem ein Mädchen sein Familienalbum durchblättert und schmerzliche Wahrheiten erkennen muss: bewegende Klänge hier wie dort.

TIPP: Im Anschluss an das Konzert signiert Chefdirigent Yutaka Sado im Foyer des Festspielhauses die CDs, die im Tonkünstler-Label erschienen sind.

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Toru Takemitsu

«Family Tree» für Erzählerin und Orchester

Sätze

  • Once upon a Time

  • Grandpa

  • Grandma

  • Dad

  • Mom

  • A distant Place

Dauer

25 Min.

Entstehung

1992

Ein Mädchen im Teenageralter blättert ein Familienalbum durch und stößt dabei auf schmerzliche Wahrheiten: Ein «Family Tree» – ein Stammbaum – ist es, der hier mit dem Untertitel «Musikalische Dichtung für junge Leute» erklingt und der so gar nicht der Idee eines musikalischen Märchens a la «Peter und der Wolf» oder «Der Karneval der Tiere» entspricht, der auch dezidiert nicht allzu junge Leute, sondern eher reifere Jugendliche und Erwachsene jeden Alters ansprechen dürfte. Wie kann man sich einen solchen Stammbaum in einer vollkommen digitalisierten Welt vorstellen?

Am besten ohne Zuhilfenahme aller elektronischen Hilfsmittel. Es könnte ein schon etwas abgegriffenes Album sein, eine Fotomappe oder ein Stammbuch. Darin eingeheftet oder eingeklebt, schwarz-weiß oder in schon etwas vergilbten Farben: Fotos von Familienangehörigen. Ja, man erkennt sie gerade noch, aber die Dargestellten erscheinen einem anders, als man sie in der täglichen Erinnerung vor Augen hat. Es ist auch schon lange her, seit diese Fotos aufgenommen worden waren, die durchblätternde Person war damals noch weit jünger, in Momenten gerade neugeboren, dann fünf, sechs Jahre vielleicht oder nur wenig älter. Sie hat diese Fotos, diese Bilder so lange nicht gesehen, und sie sieht sie heute – mit dem Abstand der seither vergangenen Jahre – anders. Damals lag vielleicht mehr Selbstverständlichkeit, mehr Gleichgültigkeit in den Eindrücken. Heute berühren sie andere Ebenen, sind andere Erfahrungswerte hinzugekommen: Ja, Erinnern kann etwas sehr Schönes sein. Aber es kann auch aufwühlen und traurig machen.

Mit Toru Takemitsu hat sich einer der prominentesten japanischen Komponisten der jüngeren Geschichte dieser «Handlung» angenommen, die eigentlich kaum eine Handlung ist, sondern ein Ablauf von Gefühlen und Impulsen. Takemitsu zählt zu den produktivsten Tonschöpfern des 20. Jahrhunderts. 1930 in Tokio geboren, wuchs er teilweise in China auf. Seine Schulausbildung sollte er zwar in Japan erhalten, doch durch die Einberufung zum Militär gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit nur 13 Jahren verlief diese brüchig und in musikalischer Hinsicht weitgehend autodidaktisch. Die Kriegserfahrung, die er als «bitterste Zeit» bezeichnete, prägte sein künftiges Leben. Der Sieg der USA über Japan ermöglichte ihm freilich bald eine enge Berührung mit der «westlichen», vor allem der französischen und der nordamerikanischen Musik, darunter auch die aktuellsten Strömungen.

Kurz erhielt er Unterricht bei dem Japaner Yasuji Kiyose, letztlich unternahm er aber auch seine weiteren Studien weitgehend selbstständig. Wichtig waren für ihn nun sowohl Parallelen, die er zwischen seiner Arbeit und der Musique concrete des Franzosen Pierre Schaeffer entdeckte, als auch in sein Schaffen einfließende Elemente der japanischen Musiktradition, die er zeitgemäß einsetzte. Daneben ist in seinen ersten international wahrgenommenen Werken durchaus auch ein Bezug zur Wiener Schule um den Schönberg-Kreis zu erkennen. Weiters griff er in seinem vielgestaltigen OEuvre Anregungen und Ideen von Igor Strawinski bis John Cage auf, was ihn bald zu einem zentralen Vertreter der Neuen Musik seiner Zeit machte und zugleich das Interesse für das japanische Musikschaffen auf den internationalen Bühnen und in den Konzertsälen im Allgemeinen förderte.

Unter den vielen Personalen, welche die Bedeutung seines Schaffens unterstrichen, ist aus österreichischer Sicht der ihm gewidmete Schwerpunkt beim Festival «Wien Modern» 1993 zu nennen. Einem breiten Spektrum an originalen japanischen Instrumenten kann man in seiner Musik ebenso begegnen wie asiatischer Modalität und auch Elementen des Jazz. Wie viele andere Komponisten seiner Generation, die einst als führende Vertreter einer progressiv orientierten Avantgarde galten, wandte sich Takemitsu in späterer Folge – in seinem Fall etwa ab Beginn der 1980er-Jahre – einer allgemein verständlicheren Tonsprache zu, in der Parameter wie Diatonik und melodische Gestaltungsmittel Platz fanden. 1996 starb Toru Takemitsu mitten in einem Opernprojekt 65-jährig an einer Lungenentzündung als Komplikation während einer Krebsbehandlung.

«Family Tree» gilt nicht nur als eines seiner repräsentativsten letzten Werke und – mit mehr als 80 Aufführungen seit seinem Tod – eines seiner postum viel gespielten, es ist auch ein zentrales Beispiel für den Spätstil des Komponisten. Experimentelle Techniken der Nachkriegszeit sind in diesem Erzählstück fast völlig ausgespart. Sie spiegeln sich allenfalls in der ausgefeilten Nutzung handwerklicher Aspekte. Aus dem oben skizzierten Erlebnis der unerwarteten Begegnung mit der eigenen familiären Vergangenheit, das in ähnlicher Weise jede und jeder schon einmal hatte oder noch haben könnte, schufen der japanische Schriftsteller Shuntaro Tanikawa (deutsche Übersetzung von Irmela Hijiya-Kirschnereit) und Takemitsu ein sechsteiliges Werk für Sprecherin und Orchester. Das Alter des die Bilder studierenden und beschreibenden Mädchens ist von den Autoren als 15-jährig vorgegeben – kein Kind mehr, aber auch kein bereits völlig ausgereifter Mensch. Was die Sprecherin in ihrem Stammbaum sieht, auf ihrem Weg durch diesen erfährt, kann und wird sie prägen.

«Family Tree» ist durchaus kein in sich geschlossenes familiäres Idyll. Viel Schmerz und Leid sind darin eingewoben, und dieses Schmerzliche des Textes umfängt Takemitsu mit seiner Musik. Gerade dadurch aber, dass der Schmerz angesprochen wird, anklingt und nicht darüber hinwegzutäuschen versucht wird, liegt darin auch Heilendes, Tröstliches. Es sind impressionistische Klänge, die im ersten Moment an die Farbigkeit der Musik der Franzosen um Claude Debussy und Maurice Ravel bis zu Olivier Messiaen denken lassen. Mit ihnen führt Takemitsu in eine märchenhaft-erzählende Welt ein, in der die Sprechstimme die Stammbaum-Bilder beschreibt und von den Instrumenten illustrierende Stütze erfährt. Die Satztitel führen vom eigenen frühen Erleben oder Erträumen in «Es war einmal» über die Erinnerungen an die vier zentralen Figuren der Familie – Großeltern und Eltern – bis zu «Weit, weit weg», in dem all das Gewesene weit zurückliegt und vielleicht auch in dieser Vergangenheit bleiben soll. Leben und Tod, Schrecken und Harmlosigkeit liegen in den sechs Bildern dicht an-, bei- und übereinander. Die Zuhörenden, die Lesenden sind aufgefordert, ihre persönlichen Schlüsse aus diesem Stammbaum zu ziehen – vielleicht am eigenen «Family Tree» orientiert.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H.| Christian Heindl

Gustav Mahler

Symphonie Nr. 4 G-Dur

Sätze

  • Bedächtig, nicht eilen

  • In gemächlicher Bewegung. Ohne Hast

  • Ruhevoll. Poco adagio

  • Sehr behaglich. «Wir genießen die himmlischen Freuden»

Dauer

50 Min.

Entstehung

1899-1901

Gustav Mahler schrieb seine vierte Symphonie nach einer fast dreijährigen, wahrscheinlich durch den Dienstantritt als Wiener Operndirektor (1897) erzwungenen Kompositionspause während der Sommer 1899 in Bad Aussee und 1900 in Maiernigg am Wörthersee. Der Aufenthalt in Aussee war durch schlechtes Wetter und unerträgliche Lärmbelästigung getrübt gewesen, sodass noch im Herbst 1899 die Suche nach einer neuen Sommerresidenz in Angriff genommen wurde. Dabei stieß man auf die kleine Ortschaft Maiernigg, in unmittelbarer Nachbarschaft von Klagenfurt am Südufer des Wörther Sees gelegen, und erwarb ein Grundstück am See. Mahler lebte damals noch mit seiner Schwester Justine zusammen, die ihm den Haushalt führte. Die Geschwister ahnten nicht, dass sie beide nur kurze Zeit später, im März 1902, heiraten würden. Unverzüglich wurde mit dem Bau einer Villa und eines Komponierhäuschens begonnen. Im Sommer 1900 war zwar das Komponierhäuschen fertig, die Villa aber noch nicht, weshalb Mahler genötigt war, nebst Schwester Justine und Natalie Bauer-Lechner, die im Vorjahr angemietete, nahe gelegene «Villa Antonia» zu beziehen.

Die Entstehung der Vierten ist also wohl mit Maiernigg, nicht jedoch mit Mahlers Seevilla verknüpft. Die für uns wichtigste Person, mit der Mahler in diesen Jahren Umgang hatte, ist die Bratschistin Natalie Bauer-Lechner. Sie betete Mahler an, hätte sich wohl auch gerne von ihm heiraten lassen, musste sich indes mit ihrer Rolle als enge Freundin und getreue Chronistin zufrieden geben. Ihre «Erinnerungen an Gustav Mahler» wurden erstmals 1923 gedruckt und erschienen 1984 in revidierter und erweiterter Ausgabe. Diese Tagebuchaufzeichnungen sind neben Mahlers eigenen Briefen die wichtigste Quelle für die Dekade von 1891 bis 1901. Die Uraufführung der vierten Symphonie fand am 25. November 1901 in München statt, und bis zu den letzten Aufführungen am 17. und 20. Jänner 1911 in der New Yorker Carnegie Hall leitete Mahler seine Vierte insgesamt acht Mal. Dabei nahm er – wie gewohnt – stets Revisionen vor, die letzten noch kurz vor seinem Tod. Erst 1963 erschien eine kritische Ausgabe, in der alle Revisionen Mahlers berücksichtigt wurden.

Die vierte Symphonie ist das Schlussstück der mit Recht so genannten «Wunderhorn-Symphonien», die Mahler selbst als «durchaus in sich geschlossene Tetralogie» bezeichnete. War die dritte Symphonie gekennzeichnet durch ihre riesige Dimension, einen großen Aufführungsapparat und globale bis kosmische Vielfalt in sechs Sätzen, so bestimmen Konzentration, Verkleinerung des Apparates und die Beschränkung auf vier Sätze bei engster thematischer Verzahnung die Vierte. «Das himmlische Leben», schon 1892 als Klavierlied geschrieben, sollte ursprünglich den Schlusssatz der dritten Symphonie bilden. Dieser Plan war wohl der Grund dafür, dass in deren 5. Satz, dem Chorsatz «Es sungen drei Engel», einige Zitate aus dem «Himmlischen Leben» an prominenter Stelle zu finden sind. Die Planänderung macht den besonderen Rang dieses Liedes deutlich, welches nun quasi eine eigene Symphonie erhielt, in der es «die sich ganz verjüngende Spitze» bildet. «Es ist die Heiterkeit einer höheren, uns fremden Welt darin, die für uns etwas Schauerlich-Grauenvolles hat. Im letzten Satz […] erklärt das Kind, welches im Puppenstand doch dieser höheren Welt schon angehört, wie alles gemeint sei.» Mahlers eigene Aussage vom 12. Oktober 1901 enthüllt den Kern seiner IV. Symphonie. Sie ist in ihrem ganzen Ablauf auf das abschließende Lied hin komponiert, welches mit allerlei Vorahnungen und Zitaten in den ersten drei Sätzen wiederholt in den Vordergrund tritt. Die formale und motivische Verkettung der Sätze ist für Mahler neu und von großer Wichtigkeit: «Jeder der drei Sätze hängt aufs innigste und bedeutungsvollste mit dem letzten zusammen», schrieb er noch 1911 an den Autor einer damals eben erschienenen Werkeinführung. Es ist wiederum Natalie Bauer-Lechner zu verdanken, dass wir eine Reihe von als authentisch anzusehenden Äußerungen Mahlers besitzen. «Stell dir das ununterschiedene Himmelblau vor […]. Das ist die Grundstimmung des Ganzen. Nur manchmal verfinstert es sich und wird spukhaft schauerlich: doch nicht der Himmel selbst ist es, der sich trübt, er leuchtet fort in ewigem Blau. Nur uns wird plötzlich grauenhaft, wie einen am schönsten Tag im lichtübergossenen Wald oft panischer Schrecken überfällt».

Symphonische HumoreskeDas Gesamtkonzept von Gustav Mahlers vierter Symphonie folgt einem Schema, das aus einigen Symphonien (z. B. Bruckner, achte Symphonie) bekannt ist: Sonatenhauptsatz – Scherzo – langsamer Satz – Finale. Das Finale weicht insoweit von diesem Schema ab, als es in einer Art kammermusikalischer Anspielung auf das Finale von Beethovens neunter Symphonie die menschliche Stimme einbezieht. «Eigentlich wollte ich nur eine symphonische Humoreske schreiben», sagte Mahler im Sommer 1900, «und da ist mir das normale Maß einer Symphonie daraus geworden.» Was mag Mahler mit einer «symphonischen Humoreske» meinen? Der Bezug zu Schumanns «Humoreske» op. 20 dürfte nicht formal, sondern ein Konzept, eine Geisteshaltung sein, die den damals im deutschen Sprachgebrauch neu aufgekommenen Begriff des Humors mit Jean Paul, einem Lieblingsdichter Mahlers, und den romantischen Sprachtheoretikern wie Friedrich Schlegel verknüpft.

Der 1. Satz (Bedächtig, nicht eilen) ist eine «traditionelle Sonatenform» mit ihrer Dreiteilung in Exposition – Durchführung (Verarbeitung der Themen) – Reprise. Den Anfang bildet ein Schellengeläute, das dem Schlussgesang entnommen ist, welcher auf diese Weise das gesamte Werk umklammert. Mahler sagte zu diesem Satz: «Der erste Satz beginnt, als ob er nicht bis drei zählen könnte, dann aber geht er gleich ins große Einmaleins und zuletzt wird schwindelnd mit Millionen und aber Millionen gerechnet. […] Dieser Satz [ist] trotz seiner Freiheit mit der größten, fast schulmäßigen Gesetzmäßigkeit aufgebaut». Auf dem Höhepunkt der ziemlich komplizierten Durchführung ertönt ein auch aus anderen Werken Mahlers geläufiger Trompetenappell, nach welchem sich die Reprise beinahe unbemerkt einschleicht: «Wo die Verwirrung und das Gedränge der erst geordnet ausgezogenen Truppen zu arg wird, versammelt sie ein Machtruf des Kommandanten mit einem Schlag wieder zur alten Ordnung unter seiner Fahne».

Der 2. Satz (In gemächlicher Bewegung. Ohne Hast) ist ein Scherzo mit Anklängen an einen Wiener Walzer und einem bedeutungsvollen Violinsolo. Mahler bedient sich bei diesem einer barocken Technik, der sogenannten Skordatur, bei der die Saiten der Violine nicht in der üblichen Weise gestimmt sind; durch die geänderte Stimmung sollte die «Geige schreiend und roh klingen, wie wenn der Tod aufspielt», welcher Effekt auf Instrumenten, die wie zu Mahlers Zeit mit Darmsaiten bespannt sind, viel deutlicher herauskommt als auf den heutigen, mit Stahlsaiten versehenen Geigen. Der geigende Tod ist ein seit der Renaissancezeit bekannter Topos, der auch in Mahlers Tagen, etwa in Arnold Böcklins «Selbstbildnis mit geigendem Tod» (1872) seine andauernde Aktualität beweist. Mahler sagte weiter über den Satz: «Mystisch, verworren und unheimlich, daß euch dabei die Haare zu Berge stehen werden, ist das Scherzo. Doch werdet ihr im Adagio [recte: Andante] darauf, wo alles sich auflöst, gleich sehen, daß es so bös nicht gemeint war.»

Der 3. Satz (Ruhevoll) ist eine Folge von Doppelvariationen (das Thema ist zweiteilig). «Einmal nannte er das Andante auch das Lächeln der heiligen Ursula und sagte, daß ihm dabei aus der Kindheit das mit tiefer Traurigkeit und wie durch Tränen lachende Antlitz seiner Mutter vorschwebe» (Nathalie Bauer-Lechner). Das Thema ist laut Mahler «eine göttlich heitere und tief traurige Melodie […], daß ihr dabei nur lachen und weinen werdet». Ferner sprach er über die «größte Beweglichkeit der Rhythmen und Harmonien» und die spezielle «Polyphonie in diesem Werke […] Wie wenn uns ein Regenbogen plötzlich in die Milliarden seiner tanzenden, immer wechselnden Tropfen zerfiele und damit sein ganzer Bau zu schwanken und sich aufzulösen schiene. Dies gilt besonders von den Variationen im Andante, über die Mahler sagte, es seien die ersten richtigen, die er geschrieben, d. h. die ersten so durch und durch verwandelten, wie er sich Variationen denke». Kurz vor dem Ende des Satzes kommt es zu einem ebenso unerwarteten wie gewaltigen «Durchbruch» mit allen verfügbaren Instrumenten und Auf- und Niederrauschen von Harfen und Streichern – als würden sich plötzlich die Wolken öffnen und den Blick auf den Himmel des Finales freigeben.

Das Finale selbst (Sehr behaglich) ist ein Orchesterlied, dessen Text aus «Des Knaben Wunderhorn» ursprünglich den Titel «Der Himmel hängt voll Geigen» trägt. In Mahlers Vertonung – zunächst als klavierbegleitete Humoreske – heißt es «Das himmlische Leben». Es ist keineswegs nur die naiv-kindliche Schilderung eines Himmels, der nichts anderes ist als eine Art Schlaraffenland. Vielmehr lauert ein ironisch-kritischer Unterton, der Mahler sichtlich behagt hat: «St. Lucas den Ochsen tut schlachten / ohn’ einig’s Bedenken und Achten». Deshalb finden wir hier auch das Motiv der «Schellenkappe», ein wiederkehrendes Zwischenspiel mit Staccati in gestopften Trompeten, col legno-Streichern (dabei wird das Holz des Streichbogens auf die Saiten geschlagen) und dem Klingeln einer Schelle: Das Lied verbindet «Schelmerei» mit «tiefstem Mystizismus» (und programmatisch hatte die Schelle schon den 1. Satz eröffnet!). Nur der Schlussteil, der nicht grundlos in einer anderen Tonart steht, eine Apotheose der «Himmelsmusik», ist ohne Einschränkungen positiv gemeint. Die Symphonie versandet mit einer Musik, die von Glocken inspiriert ist, die immer leiser und langsamer werden und nacheinander aufhören. Und obwohl «viel Lachen» vorkommt in der Vierten (Mahler, 21. Oktober 1901), darf die Gratwanderung zwischen «Heiterkeit» und «Grauen» nie aus den Augen verloren werden. Wie es der bedeutende Mahler-Biograph Jens Malte Fischer ausdrückt: «Die vermeintlich von mozartischem Geist durchpulste Vierte (so wollen uns Programmheftartikel bis heute glauben machen) erweist sich als der radikalste Kommentar zum Weltlauf, den Mahler je komponiert hat.» Die vierte Symphonie könne nicht «gemütvoll enden. Sie singt sich nicht aus, sie triumphiert nicht, sie schließt nicht mit weisem Lächeln, sondern sie verdämmert, erstirbt.»

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Reinhold Kubik