Mahler 9

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Details und Tickets

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    Restkarten

Interpreten

  • Yutaka Sado, Dirigent

Programm

Erinnerung, Abschied und Zerfall: Das sind die Themen von Gustav Mahlers Neunter, seiner letzten vollendeten Symphonie, die erst posthum uraufgeführt werden konnte. Lange Zeit war deshalb unumstritten, dass er hier seinen eigenen nahen Tod verhandelt habe; später regte sich Skepsis. Inzwischen gilt dieses janusköpfige Werk bei aller Rückwendung zugleich auch als Beginn der sogenannten Moderne in der Musik. In einem eigentümlichen Formkonzept umschließen langsame Ecksätze, in welchen die Endzeit regiert, zwei rasche Binnensätze, die an die Turbulenzen des Lebens und der Welt erinnern. Das Finale wird zum atemberaubenden Protokoll des Verlöschens.


TIPP 1: Chefdirigent Yutaka Sado signiert im Anschluss an das Konzert die unter seiner Leitung eingespielten Tonkünstler-CDs mit den Symphonien von Gustav Mahler. Am Tonkünstler-Infotisch im Hauptfoyer sind bei dieser Gelegenheit auch alle weiteren verfügbaren Tonträger aus dem Eigenlabel des Orchesters erhältlich.

TIPP 2: Erleben, wie dieses Konzert entsteht! Ein Probenbesuch im Musikverein Wien bietet spannende Einblicke in die Arbeitsatmosphäre des Tonkünstler-Orchesters und seiner Gäste. Mit Pluspunkt-Vorteilskarte ist der Eintritt frei, die Teilnahme aufgrund des begrenzten Platzangebots allerdings nur nach verbindlicher Anmeldung im Kartenbüro möglich. Weitere Informationen hier!

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Gustav Mahler

Symphonie Nr. 9 D-Dur

Sätze

  • Andante comodo

  • Im Tempo eines gemächlichen Ländlers

  • Rondo-Burleske. Allegro assai, sehr trotzig

  • Adagio. Sehr langsam und noch zurückhaltend

Dauer

80 Min.

Entstehung

1909-10

Gustav Mahlers Bedeutung liegt für uns vor allem in seinem symphonischen Werk. In der deutschen Musikwelt des 19. Jahrhunderts war die Symphonie zweifellos die vornehmste Gattung, die Königsdisziplin. Dass im symphonischen Schaffen von zwei Heroen – Beethoven und Bruckner – die «Neunte» die Endstation darstellte, war für einen Musiker mit einem so starken historischen Bewusstsein wie Gustav Mahler einer war, Problem und Herausforderung zugleich, denn er empfand sich gewiss als Erbe der genannten Komponisten. Ein gerüttelt Maß an Aberglauben kam dazu, vielleicht sogar durch den «Symbolismus» verstärkt, der eine in Dichtung und Kunstgeschichte der Zeit relevante Strömung war, die Verbindungen zwischen allgemein verständlichen Symbolen und persönlichem Schicksal aufzeigte. Das reicht bis Schönberg, der in seiner berühmten Prager Rede von 1912 meinte: «Seine Neunte ist höchst merkwürdig. In ihr spricht der Autor kaum mehr als Subjekt. Fast sieht es aus, als ob es für dieses Werk noch einen verborgenen Autor gebe, der Mahler bloß als Sprachrohr benützt hat. […] Was seine Zehnte, zu der, wie auch bei Beethoven, Skizzen vorliegen, sagen sollte, das werden wir so wenig erfahren wie bei Beethoven und Bruckner. Es scheint, die Neunte ist eine Grenze. Wer darüber hinaus will, muß fort.»

Mahler umschiffte den Stein des Anstoßes zunächst elegant, indem er das auf die achte Symphonie folgende Werk «Das Lied von der Erde» und nur im Untertitel «Eine Symphonie für eine Tenor- und eine Altstimme» nannte – so behauptet es jedenfalls Alma Mahler in ihren Memoiren. Aber das Titelblatt des Autographs der neunten Symphonie zeigt unmissverständlich, dass Mahler offenbar Schwierigkeiten mit der Zahl «IX» hatte und das erste der beiden Zeichen sichtlich erst später vor das «X» geschrieben hat.

Das Werk entstand in einem einzigen Sommer, dem des Jahres 1909, in Toblach (ital. Dobbiaco). Erhaltene Skizzen weisen freilich auf frühere Jahre, in denen Mahler begann, Ideen zu sammeln. Sie mündeten in ein fast völlig verloren gegangenes Particell (eine Teilpartitur mit meist 4 Notensystemen, während eine vollständige Partitur zwischen 20 und 30 Systemen hat). «Ich war sehr fleißig und lege eben die letzte Hand an eine neue Sinfonie. […] Es ist da etwas gesagt, was ich seit längster Zeit auf den Lippen habe», schrieb Mahler im August aus dem Ferienort an Bruno Walter. Dabei handelte es sich wohl um den erhaltenen Partiturentwurf, dessen Fertigstellung mit 1. September 1909 datiert ist. Mahler nahm die Arbeit mit nach New York und stellte während der Wintersaison die Instrumentierung und die Reinschrift fertig. Er begann damit zur Weihnachtszeit 1909 und beendete die Reinschrift am 1. April 1910.

Offenbar hat Mahler den ersten Satz, der wahrscheinlich schon im Jänner oder Februar 1910 fertig gewesen sein mochte, sofort zum Kopieren gegeben, Mahlers New Yorker Kopist schrieb noch in Amerika die Stichvorlage des ersten Satzes. Am 5. April reisten die Mahlers aus New York ab. Mahler nahm alles nach Europa mit und betraute seinen Wiener Hauptkopisten mit der Herstellung der Stichvorlage der Sätze 2 bis 4. Diese Arbeit wurde im Sommer 1910 erledigt, während Mahler in Toblach seine zehnte Symphonie entwarf. Wie immer überarbeitete Mahler danach die Stichvorlage der Neunten und korrigierte und ergänzte eine ganze Menge. Der Verlagsvertrag mit der Universal Edition datiert mit 21. Mai 1910, erst am 11. Juli 1911 begann man mit dem Notenstich. Die posthume Uraufführung am 26. Juni 1912 durch die Wiener Philharmoniker unter Bruno Walter erfolgte noch «aus dem Manuskript», die gedruckte Partitur wurde ab dem 10. Dezember 1912 ausgeliefert.

Mahlers Symphonie Nr. 9 ist ein derart bedeutendes und komplexes Werk, dass es nur aus dem Zusammenwirken mehrerer unterschiedlicher Sichtweisen verstanden und gewiss nicht im Rahmen einer Konzerteinführung erschöpfend dargestellt werden kann. In ihm sind «konstruktive Energie, intertextuelle Verdichtung und symbolische Verweise» (Christian Utz) so eng verknüpft, dass sie kaum analytisch zu trennen sind. Inhaltliche Komponenten verschmelzen untrennbar mit strukturellen Beziehungen. Der Streit, ob diese Musik sich aus autobiografischen Komponenten erklärt oder allein aus sich selbst, ist müßig: Beides ist in ihr enthalten. Es ist offenbar ein Charakteristikum von Mahlers Spätwerk, dass es Bögen zu seiner Jugend schließt, indem Formen, Motive und Verfahrensweisen der Frühzeit aufgegriffen und zu einer überhöhten Vollendung geführt werden. So gesehen bezieht sich die achte Symphonie auf die Chorkantate «Das klagende Lied», während «Das Lied von der Erde» die Mahler’sche Symbiose der «Wunderhorn»-Zeit zwischen Orchesterlied und Symphonie aufgreift.

Auch in der neunten Symphonie finden sich deutliche Bezüge auf Mahlers Jugendzeit. Zunächst ist sie von drei Faktoren gekennzeichnet: Beschränkung auf Instrumente (wie bei der «mittleren Trias» der Symphonien 5, 6 und 7), Viersätzigkeit, und – fast im Widerspruch zum Verzicht auf Singstimmen und Gesangstext – die intensive Beschäftigung mit «musikalischer Sprache». Jens Malte Fischer verglich den Beginn mit dem Stammeln eines aus dem Traum Erwachenden. Ein konzentrierter Kontakt mit dem Philosophen und Dichter Sigfried Lipiner (1856 – 1911), einem wichtigen Lebensfreund Mahlers, mit endlosen Erörterungen von metaphysischen Fragen durch die Kunst, war der Komposition der Symphonie im Mai 1909 in Wien vorausgegangen. Lipiner hatte dazu ein Gedicht geschrieben, «Der Musiker spricht». Die Hauptidee der Verse scheint in die Symphonie eingegangen zu sein: «Sie selbst, die Nacht, horcht auf, wie sie erklingt / Vom ew’gen Licht, das ihr im Schooße schwingt.»

1. Satz (D-Dur; Andante commodo)

Alban Berg schrieb 1923 an seine Frau: «Der erste Satz ist das Allerherrlichste, was Mahler geschrieben hat. Es ist der Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Erde, die Sehnsucht, in Frieden auf ihr zu leben, sie, die Natur, noch auszugenießen bis in ihre tiefsten Tiefen – bevor der Tod kommt. Denn er kommt unaufhaltsam. Dieser ganze Satz ist auf die Todesahnung gestellt. Immer wieder meldet sie sich. Alles Irdisch-Verträumte gipfelt darin …»

Im Partiturentwurf finden sich einige verbale Notate, die über diese generellen Empfindungen hinaus konkrete Hinweise auf Mahlers semantische Hintergrundebene geben. Es zeigt sich, dass Mahler im ersten Satz dreimal ein Thema aus dem Walzer «Freuet euch des Lebens» op. 340 von Johann Strauss Sohn in verfremdeter Form zitiert. Dieser Walzer war der Gesellschaft der Musikfreunde gewidmet und wurde 1870 für den Eröffnungsball des neuen «Goldenen Saales» geschrieben. In eben diesem Gebäude war auch das Conservatorium der Gesellschaft untergebracht, an dem Mahler von 1875 bis 1878 Klavier und Komposition studierte. Über die auffälligste dieser Zitatstellen schrieb Mahler in die Partitur: «O Jugendzeit! Entschwundene! O Liebe! Verwehte!» So scheint «Freuet Euch des Lebens» in der Tat eine symbolische, bittersüße Erinnerung an die Studienjahre, an die entschwundene Jugend zu sein.

Es gibt noch eine weitere Verbindung zur Jugendzeit: Alle Sätze gehen auf das «Motto» eines absteigenden Sekundschrittes zurück (von der 3. zur 2. Stufe). Dieser motivische Gestus spielt auch im «Lied von der Erde» eine Rolle (z.B. in dem berühmten «ewig … ewig …» des Schlusses). Die fallende Sekund wiederum könnte eine Anspielung auf Beethovens programmatische Klaviersonate op. 81a, «Das Lebewohl» sein. Es ist vielleicht nicht ohne Bedeutung, dass der 15-jährige Mahler die Erlaubnis seines Vaters, am Wiener Konservatorium zu studieren, 1875 nach einem Vortrag dieser «Lebewohl»-Sonate erhalten hatte.

Die Großarchitektur des Satzes zeigt vier «Strophen» von je etwa 100 Takten, die analog gebaut sind: Sie beginnen jeweils mit einer Ruhephase, gefolgt von einer Steigerungsphase, die in einen Höhepunkt – eine Katastrophe oder eine Erfüllungsphase – mündet. Nach der vierten Strophe beendet eine ausklingende Coda den Satz. Diese Gliederung erinnert auch an die «klassische» Sonatenform (Exposition – Durchführung – Reprise), wie eben hier alles mehrere Dimensionen hat. Wichtiger als der große Ablauf ist das Gewebe aus winzigen Partikeln, kleinen Motiven, kurzen Figuren und längeren thematischen Gebilden, die in der Art von Sprache untereinander kommunizieren. Nicht umsonst gab es Deutungsversuche, die in das Gebiet der Literatur weisen. Alle diese Betrachtungsweisen haben ihre Berechtigung, wenn sie nicht verabsolutiert werden: Mahlers neunte Symphonie entzieht sich einer «monistischen» und damit auch einseitigen Interpretation.

2. Satz (C-Dur; Im Tempo eines gemächlichen Ländlers)

Die Großform der Symphonie täuscht «klassische» Viersätzigkeit vor, die indes höchst ungewöhnlich ist. Zwei langsame Sätze (am Beginn ein «Andante comodo» und am Ende ein «Adagio») bilden den Rahmen für zwei der am meisten parodistischen und verbitterten Innensätze, die Mahler je geschrieben hat, zwei Tanzsätze. Der zweite Satz bringt – auch durch wechselnde Tempovorschriften erkennbar – vier Varianten des wienerischen Dreiertaktes: Walzer – Ländler – Menuett – derber, grob aufstampfender «deutscher Walzer» (Mahler im Manuskript). Die Zwanghaftigkeit der Bewegung liegt in der Luft der Zeit, der Totentanz (gespielt mit einer Fiedel!) ist ein Topos Mahlers, mindestens seit der 4. Symphonie.

3. Satz (a-moll; Rondo-Burleske. Allegro assai, sehr trotzig)

Die «Rondo-Burleske» ist ein bitterer, ironischer Satz, der spöttisch «an meine Brüder in Apoll» gewidmet war.  Auch dieser Satz hat vier «Rondo-Strophen». Seine Tonart a-moll steht bei Mahler mehrmals für das «Ungebändigte»; sie wird in der dritten Strophe abgelöst von einer «transzendierenden» Episode in D-Dur, der Tonart des Eröffnungssatzes. Man hat für sie und ähnliche Abschnitte in Mahlers Werk das Bild des Fensters benützt, das ein zentrales Motiv in der Wiener literarischen Moderne ist. Der Schluss ist eine Stretta, in der das «weltliche Gewimmel» dröhnend den Sieg erringt.

4. Satz (Des-Dur; Adagio. Sehr langsam und noch zurückhaltend)

Der außerordentlichste Aspekt von Mahlers letzter vollendeter Symphonie ist wohl das langsame Finale – ein hochgradig sanglicher, konfliktbeladener Satz von mehr als 20 Minuten Spieldauer, der zeitlupenartige Anspielungen auf verschiedene frühere Werke Mahlers enthält («Urlicht», «Ablösung im Sommer», Scherzo der 3. Symphonie, «Der Abschied» aus «Das Lied von der Erde» und das vierte Lied der «Kindertotenlieder»); es ist, als ob sich in der Tat Kreise schließen würden. Die Großform ist diesmal dreiteilig, wobei sich an die dritte Strophe eine Coda anschließt. Charakteristisch ist die Spannung zwischen D-Dur und seiner sozusagen tiefer «verrutschten» Spielart Des-Dur. Sie steht quasi symbolisch für die Impulse konstruktiver Prozesse im Kontrast zu den lähmenden Belastungen durch Erinnerungen, für den Gegensatz von «Erblühen» und «Vergehen». Die Coda – einer der am meisten kommentierten Abschnitte aus Mahlers Werk – versammelt äußerst leise und langsam die Bruchstücke aller wichtigen Materialien. Sie mündet am Ende in ein langes Zitat des 4. «Kindertotenliedes» («Oft denk’ ich, sie sind nur ausgegangen»). Dadurch ist das Ende der Symphonie kein Abschied, sondern ein neuer Anfang: «Der Tag ist schön auf jenen Höh’n» lautet Rückerts Text, der in der Melodie der ersten Violinen mitschwingt – der Musikwissenschaftler Christian Utz nannte das Ende des Werks «ersterbend», ein kaum mehr vernehmbares Signal an die Zukunft.

© Grafenegg Kulturbetriebsges.m.b.H. | Reinhold Kubik