Archiv: Mahler: Tragische

Wien Musikverein Großer Saal Musikverein | Großer Saal

Interpreten

  • Yutaka Sado, Dirigent

Programm

Gustav Mahlers monumentale Sechste ist eine der düstersten und dabei faszinierendsten Symphonien überhaupt: Ein stets abgewandelter, gesteigerter Gestus des Marschierens beherrscht sie und führt über vier Sätze unausweichlich in den Tod. Nur das idyllische Andante bietet dabei vorübergehend Trost. Mächtige Hammerschläge besiegeln im Finale das Schicksalshafte der dem Untergang zustrebenden Kräfte. Diese Entwicklung wird in den Ecksätzen in einem janusköpfigen Klangsymbol vorweggenommen: im Übergang der Trompeten vom strahlenden A-Dur ins fahle, verlöschende a-Moll über einem strengen Rhythmus der Pauken. Diese «Tragische» lässt niemanden kalt.

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Gustav Mahler

Symphonie Nr. 6 a-Moll «Tragische»

Sätze

  • Allegro energico, ma non troppo. Heftig, aber markig

  • Andante moderato

  • Scherzo. Wuchtig

  • Finale. Sostenuto - Allegro moderato - Allegro energico

Dauer

80 Min.

Entstehung

1903

Gustav Mahler komponierte seine sechste Symphonie in den Sommermonaten 1903 (Sätze 1–3) und 1904 (Finale) im Komponierhäuschen von Maiernigg bei Klagenfurt. Mahler, der die Symphonie bei der Wiener Aufführung von 1907 «die Tragische» nannte, setzte mit ihr ein «Rätsel» in die Welt, um das sich bald Legenden rankten. Enigmatisch ist die Düsterkeit und vernichtende Ausweglosigkeit vor allem des Finales, geschrieben zu einer Zeit, da Mahler sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht auf dem positiven Höhepunkt seines Lebens stand. Alma konnte diesen Widerspruch offenbar nur schwer ertragen und erfand später eine Reihe von Deutungen in biografischer Manier, in welche sie sich selbst (im Seitenthema des 1. Satzes), die Kinder (in einer Passage des Scherzos) und angebliche Vorahnungen von Mahlers eigenem Schicksal (die Hammerschläge des Finales) einbrachte. Während der Wintermonate der Opernsaison 1904-05 fertigte Mahler die Reinschrift der Partitur an, die er am 1. Mai 1905 beendete. Im Anschluss ließ er die Stichvorlage kopieren, die Vorlage für die Notenherstellung. Im Juni 1905 schloss er mit dem Verlagshaus C. F. Kahnt Nachfolger (Leipzig) einen Vertrag über die Publikation der Symphonie ab. Die Herstellung wurde unverzüglich in Angriff genommen, denn man wollte schon vor der Uraufführung eine Studienpartitur vorlegen, damit sich vor allem die Kritiker ein Bild von dem neuen Werk machen konnten. Leider verursachte diese Vorgangsweise bei Mahler, der schon während der Probenphase zur Premiere zu revidieren begann, größte Probleme. Von der Sechsten erschienen die Studienpartitur, Zemlinskys vierhändige Klavierbearbeitung und Richard Spechts «Thematische Analyse» bereits vor der Uraufführung. Sie waren am Abend des Konzerts bereits überholt, da Mahler die Reihenfolge der Binnensätze umgestellt und eine Unmenge von Eingriffen (an Instrumentation, Dynamik etc.) vorgenommen hatte. Die Kritiken der Uraufführung, die am 27. Mai 1906 im Rahmen des  42. Tonkünstlerfestes des Allgemeinen Deutschen Musikvereins in Essen stattfand, sind nicht durchwegs ablehnend, im Unterschied zu den Besprechungen der Aufführung im Jänner 1907 in Wien. Zwar fehlte es auch in Essen nicht an Missverständnissen, Antipathien und zweifelnden Interpretationen. Aber die – unterschwellig auch antisemitische – blinde Gehässigkeit der Wiener «Journaille» findet sich nicht. Allgemein wird in den Besprechungen die Erstaufführung der Sechsten als Höhepunkt des Tonkünstlerfestes bezeichnet. Besonders hervorgehoben wird die virtuose Instrumentierung, in Unkenntnis der Tatsache, dass Mahler wie in allen seinen Werken gerade um sie in unaufhörlichem Prozess gerungen hat. Mahler hatte sich an die widersprüchlichen und ablehnenden Reaktionen inzwischen beinahe gewöhnt und schrieb am 15. Oktober 1906 an den Dirigenten Willem Mengelberg: «Meine 6. scheint wieder eine harte Nuss zu sein, welche von den schwachen Zähnchen unserer Kritik nicht geknackt werden kann.»  Im Oktober desselben Jahres wurden endlich die Dirigierpartitur (mit geänderter Satzfolge und erheblichen Revisionen) gedruckt und sowohl der Klavierauszug zu vier Händen als auch Spechts Analyse mit geänderter Satzfolge neu vorgelegt. Die Erstausgabe der Dirigierpartitur unterscheidet sich von der Erstausgabe der Studienpartitur so sehr, dass man eigentlich von einer zweiten Fassung sprechen sollte.

Bis heute haben sich bei der Sechsten zwei Unklarheiten festgesetzt, die Interpreten und Hörer beschäftigen. Sie betreffen die Reihenfolge der Binnensätze und die Anzahl der Hammerschläge. Entgegen anders lautender Meinungen hat Mahler die Änderung der Satzreihenfolge, die er für die Uraufführung und in den nachfolgenden Druckausgaben vorgenommen hat (2. Satz Andante – 3. Satz Scherzo), nie mehr rückgängig gemacht. Die Meinung, er wäre schlussendlich zur Reihung der Erstfassung (Scherzo – Andante) zurückgekehrt, beruht auf einer Fehlinformation Alma Mahlers aus dem Jahr 1919, nach dem Tod des Komponisten, und wurde durch die Ausgabe von Erwin Ratz (1963) zementiert. Auch zu den Hammerschlägen im Finale lieferte Alma falsche Informationen. Ursprünglich waren es fünf, die schon für die Uraufführung auf drei reduziert wurden. Im Zuge der radikalen Umarbeitung des Sommers 1906 wurde die Passage mit dem dritten Hammerschlag grundlegend geändert, und zwar dynamisch radikal reduziert. Dieser klanglichen Zurücknahme fiel auch der Hammerschlag zum Opfer.

Die sechste Symphonie ist mehr als andere Werke Mahlers wichtigen formalen Eigenheiten der «klassischen» Symphonieform verpflichtet, wie der Viersätzigkeit und dem Verzicht auf Singstimmen. Der erste Satz folgt, bei allen abweichenden Freiheiten, dem akademischen Schema des Sonatenhauptsatzes (Themendualismus von Haupt- und Seitensatz, Durchführungsteil, Reprise und abschließende Coda); das Andante greift auf die rondoartige Liedform zurück; auch Scherzo (mit Trio) und Finale beziehen sich auf Rondoformen.

Von solchen Äußerlichkeiten abgesehen werden wir mit unverwechselbaren Neuigkeiten konfrontiert. Eine große Rolle spielt der Marsch, der von der ersten Note des ersten Satzes an den Ton bestimmt. Besonders ungewöhnlich ist dabei das Scherzo, das wie eine perspektivisch verschobene, parodistische Paraphrase des Anfangs wirkt: Formal ist es mit seinen Taktwechseln kein Marsch (so kann man nicht marschieren!), wohl aber inhaltlich.

Max Brod hat in einem ziemlich unbekannten Artikel auf die Rolle des Marsches in der jüdischen Musik hingewiesen (Musikalische Blätter des Anbruch, 2. Jahrgang, Heft Nr. 10, Mai 1920, S. 378f.): Er beobachtete, dass viele chassidische Lieder Marschrhythmen verwenden, «auch dann, wenn der Text die allerhöchsten Dinge, Gott und Ewigkeit, besingt.» Mahlers musikalische Sensibilität mag dies gefühlt haben, zusätzlich zu dem aus der Iglauer Kindheit stammenden Bezug auf die Militärmusik. Im ersten Satz fallen zwei Episoden aus dem Marschduktus heraus: Die erste ist das schwungvoll singende, leidenschaftliche Seitenthema, die zweite der choralartige Abschnitt mit den Herdenglocken. Diese sind – entgegen der Meinung vieler damaliger wie heutiger Kritiker – kein klanglicher Gag, sondern Mahlers Symbol für extremste Weltferne, Entrücktheit und Nähe zu Gott.

Das Gesangsthema des Andante hat Schönberg so imponiert, dass er es mehrmaligen Analysen unterzog; auch dieser Satz hat eine religiöse Komponente, die von mönchischer Askese bis zu überirdischer Verzückung reicht (Zeitgenossen vermeinten, Zitate aus vatikanischer Barockmusik darin zu finden).

Im Scherzo kommt noch eine andere Komponente der Musik Mahlers zum Tragen: die Auseinandersetzung zwischen «Philistertum» (heute würde man sagen: «Spießertum») und «echter Kunst». Mahler stellt dies unmissverständlich durch die Anweisung «Altväterisch» beim Trio klar. Dort erscheint perfiderweise die aufbegehrend stampfende Tonwiederholung, die den Satz eröffnet, aber in Sopranlage und langsamer, wie durch die vorsichtig-betuliche Sicht des Philisters (Spießers), pervertiert.

Das umfangreiche Finale greift wieder den Duktus des Marsches auf, der gegen Ende immer mehr zum Trauermarsch mutiert. Neben den Hammerschlägen sind ein stereotypischer ostinater Schlagzeugrhythmus (der bereits in früheren Werken zu finden ist und offensichtlich ein Militärsignal evoziert) und der Wechsel vom Dur- zum Mollakkord (Quintessenz der Musik des geistverwandten Schubert) Garanten für die Berechtigung des Etiketts «tragisch».

© Grafenegg Kulturbetriebsgesellschaft m.b.H. | Reinhold Kubik