Archiv: Osterkonzert

Grafenegg Auditorium Auditorium

Interpreten

  • Nikola Hillebrand, Sopran
  • Johanna Krokovay, Alt
  • Werner Güra, Tenor
  • Andrè Schuen, Bariton
  • Arnold Schoenberg Chor
  • Fabien Gabel, Dirigent

Programm

Johann Sebastian Bach lebte schon seit fast 60 Jahren nicht mehr, als Mendelssohn Bartholdy das Licht der Welt erblickte – und dennoch sollten beide für das Fortkommen des jeweils anderen bedeutsam sein. Während Mendelssohn Bartholdy im 19. Jahrhundert sein vergessenes Idol wieder ins allgemeine Bewusstsein rückte, war Bach auch für dessen eigenes Schaffen prägend. Ein eindrucksvolles Zeugnis dieser Einflussnahme ist das Oratorium «Paulus», das am Ostersonntag in Grafenegg starbesetzt zur Aufführung gelangt, unter anderem mit der mitreißenden Sopranistin Nikola Hillebrand als Solistin. Am Pult steht der Franzose Fabien Gabel, der derzeit zu den Lieblingsdirigenten des Tonkünstler-Orchesters zählt. Für die mitreißenden Chorpassagen des herrlichen Werkes ist der Arnold Schoenberg Chor aufgeboten.

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Felix Mendelssohn Bartholdy

«Paulus» Oratorium für Soli, Chor und Orchester op. 36

Dauer

130 Min.

Als Felix Mendelssohn Bartholdy 1847 starb, mit nicht einmal 39 Jahren, wertete die ferne «New York Tribune» das Ableben des «größten lebenden Komponisten» als «einen für die ganze musikalische Welt nicht wieder gut zu machenden Verlust». Das konnte allerdings nicht verhindern, dass bald darauf in seiner Heimat Deutschland eine schleichende antisemitische Verfemung seiner Person und seines Schaffens begann. Später, im «Dritten Reich», in dem bekanntlich rund 6 Millionen jüdischer Menschen ermordet worden sind, sollte dies dann zur Verbannung seiner Werke von den Spielplänen führen, zum Abriss seines Denkmales vor dem berühmten Leipziger Gewandhaus, und überhaupt zur versuchten Tilgung seines Andenkens und seines künstlerischen Vermächtnisses aus den Annalen der deutschen Kultur. Diese Rufschädigung blieb deutlich über die Zeit der Nazidiktatur hinaus wirksam und zog weiter ihre Kreise. Mittlerweile ist Mendelssohn zwar einerseits völlig rehabilitiert, doch kursieren andererseits immer noch abschätzige Vorurteile, die viel mit einem einseitigen Verständnis und Bild der sogenannten «Romantik» zu tun haben; viele seiner Werke sind bis heute kaum bekannt und keineswegs fix im Repertoire verankert.

Darüber hinaus gab und gibt es aber auch ein wohlmeinendes, aus der Wertschätzung geborenes Unrecht. «Er ist der Mozart des 19ten Jahrhunderts, der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt hat», stellte Robert Schumann einmal über den Freund und Weggefährten fest. Diese Worte zeugen dafür, wie schwierig die Komponistengeneration nach dem lange übermächtig erscheinenden Beethoven ihre Lage empfand. Felix Mendelssohn Bartholdy wurde in dieser Situation zum «schönsten Zwischenfall der deutschen Musik», wie Friedrich Nietzsche ihn später nannte. Er wurde in eine auch geistesgeschichtlich vornehme jüdische Familie hineingeboren: Sein Großvater, der aufklärerische Philosoph Moses Mendelssohn, war das Vorbild für die Titelfigur von Lessings Ideendrama «Nathan der Weise»; Abraham, dessen Sohn und Felix’ Vater, ließ zunächst seine Kinder sowie schließlich auch sich selbst und seine Frau protestantisch taufen und nahm den zweiten, «christlichen» Namen Bartholdy an. Aus Respekt für den Vater richtete sich auch Felix danach, konnte sich aber nicht dazu durchringen, auf das angestammte «Mendelssohn» zu verzichten, wie es der ganz auf Assimilation bedachte Abraham noch lieber gesehen hätte. Als konservativ — das heißt: nach alter Schule, also auch im strengen Kontrapunkt — ausgebildeter, enorm früh- und hochbegabter Komponist und Pianist ließ Felix die gleichsam pubertär aufwallende, anarchisch-ungezügelte Frühromantik bereits hinter sich, welche die Kunst noch in die Lebenspraxis überführen wollte. Die Elemente, die er dennoch aus ihr übernahm, verband er mit jenem Goethe’schen Klassizismus und den Idealen der Aufklärung, denen er zeitlebens verpflichtet blieb — eine Mischung von vielfach souveräner Überzeugungskraft, die den Zeitgenossen zu Recht einzigartig schien. Außerdem nahm er als Dirigent und Konzertveranstalter wesentlichen Einfluss auf das, was bis heute als bürgerliche Konzertkultur das Musikleben entscheidend mitbestimmt. Diesem Liebling der Götter, diesem «Glücklichen» (so die Übersetzung seines Vornamens aus dem Lateinischen) schien von seinen Anfängen als Wunderkind an alles zuzufliegen, ohne Anstrengung, ohne Probleme: auch das Durchschauen und Versöhnen, wie Schumann es andeutet. Und so zeichnet dieser jedenfalls kräftig mit an dem Bild, das sich bald von Mendelssohn verfestigt hat. Der titanenhaft gegen das Schicksal aufbegehrende, alle Widerstände überwindende und um sein Werk ringende Künstler, das «romantische Originalgenie», wie es die schon angedeutete, frühromantische Philosophie feiern sollte — das sieht dagegen anders aus: Die Epoche wollte es im Rückblick in Beethoven idealtypisch verkörpert erblicken, und Hector Berlioz eiferte dem Vorbild in Frankreich in jeder Hinsicht nach. Und in Deutschland? Suggerierte nicht auch die Formulierung von einem neuen Mozart einen unweigerlich auf diesen folgenden neuen Beethoven? Hatte sich etwa Schumann selbst diese Rolle zugedacht? Es gehört jedenfalls zur speziellen Tragik der deutschen Musik des 19. Jahrhunderts, dass ihre beiden fähigsten, 1809 und 1810 geborenen Vertreter beide schon früh verstummt sind, rund um die Jahrhundertmitte: Felix Mendelssohn Bartholdy starb im November 1847 an den Folgen mehrerer, in dichter Folge erlittener Schlaganfälle; Ende Februar 1854 stürzte sich der psychisch kranke Schumann in den eiskalten Rhein, wurde aber gerettet und verbrachte die ihm verbliebenen anderthalb Lebensjahre in einer Anstalt. Wäre ohne diesen doppelten Verlust der rasante Aufstieg Richard Wagners in der bekannten Form überhaupt möglich gewesen? Der Aufstieg jenes Richard Wagner, der Mendelssohn in seiner zuerst 1850 unter Pseudonym veröffentlichten, infamen Schrift «Vom Judenthum in der Musik» antisemitisch abkanzelt?

Überflüssig zu erwähnen, dass Mendelssohn keineswegs alles problemlos zu Gebote stand, sondern dass gerade er besonders hart gearbeitet und sich für seine künstlerisch wie ethisch hoch gesteckten Ziele aufgeopfert hat — ohne Rücksicht auf gesundheitliche Schäden. «In Mendelssohns von Grund auf bürgerlichem Leben», so fasst es der Musikschriftsteller Wolfgang Stähr zusammen, «regierte ein striktes Arbeitsethos, ein fast übermenschliches Verantwortungsbewusstsein für das eigene Werk, den Beruf, die Berufung. Als Komponist, Gewandhauskapellmeister und Gründer des Leipziger Konservatoriums verzehrte sich Mendelssohn in seinem Schaffen bis an den Rand der Selbstaufgabe. Dieser praktische Idealismus, der unschwer das Goethe’sche Leitbild der vernunftgegründeten ‹Tätigkeit› erkennen lässt, verstärkte sich wechselseitig mit einem ausgesprochen preußischen Sinn und elitären Hang zur Führung und Verpflichtung: Wer, wenn nicht wir, soll es leisten?» Das «Romantische», also für Mendelssohn das Moderne, lag vielleicht gerade auch in seiner handwerklich ungemein souveränen Art, auf noch weiter Vergangenes zurückzugreifen, es sich zu eigen zu machen, auf die Höhe der Zeit zu holen und dem eigenen Stil bruchlos einzugemeinden. «Nur das gilt», schrieb der 21-Jährige seinem Lehrer Carl Friedrich Zelter, «was im tiefsten Ernst aus der innersten Seele geflossen ist, und wenn auch die Ästhetiker und Kunstgelehrten sich quälen, von außen hinein beweisen zu wollen, warum dies schön und das weniger schön sei, durch Epochen, Stil, und wie all ihre Schubfächer heißen mögen, so ist nur jenes, glaub’ ich, der einzige unveränderliche Maßstab, für Bauwerke, Malerei, Musik und alles. Wenn nicht der Gegenstand allein das Werk hervorgerufen hat, so wird es nie ‹Herz zu Herzen schaffen›».

Dass Mendelssohns Musik es mit enormer Kraft von «Herz zu Herzen schaffen» kann, erweist sich im heutigen Osterkonzert anhand seines ersten großen Oratoriums «Paulus». Uraufgeführt in erster Fassung am Pfingstsonntag 1836 in Düsseldorf, hat es Mendelssohn überarbeitet und in endgültiger Fassung im Oktober desselben Jahres in Liverpool aufgeführt, diesmal in englischer Sprache als «St. Paul». Ein kleiner Rückblick in die Geschichte des Oratoriums ist nötig, will man Mendelssohns Leistung umfassend würdigen. Das Oratorium als Kunstform war im Zuge der Gegenreformation in Rom entstanden, rund um den 1595 verstorbenen und bald heiliggesprochenen Filippo Neri, den «Apostel Roms» — als ein Stück geistlicher Erbauung mit wesentlicher musikalischer Unterstützung. Ziel war es, die Gläubigen im Schoß der katholischen Kirche zu halten oder aus den Fängen der «Ketzer» und «Irrlehrer» wieder dorthin zurückzuholen: mit Andacht, die auch auf Sinnesfreuden und etwas Theaterdonner gleichzeitig fußt. Die Bezeichnung rührt vom Betsaal her («oratorio»), und die Form war zweiteilig, sodass die Pause dazwischen Gelegenheit zu einer Predigt gab. Die Glanzzeit des Oratoriums lag im Barock, wobei viele der bedeutendsten Beispiele — eigentlich ein Treppenwitz der Musikgeschichte! — gerade nicht der katholischen Sphäre entstammen, sondern dem evangelisch-reformierten Umfeld: Georg Friedrich Händels englischsprachige Werke etwa, meist mit Figuren des Alten Testaments im Zentrum und starker Chorbeteiligung, sowie natürlich Johann Sebastian Bachs Passionen als Sonderfälle des Oratoriums, großformatige Schilderungen von Jesu Leidensgeschichte mit spirituellen Betrachtungen dazu. Während jedoch im Vereinten Königreich die Pflege von Händels Oratorien nie abgerissen ist, sollte in deutschen Landen bald eine Rezeptionslücke klaffen, denn Bachs Passionen galten bald als altmodisch und wurden vergessen. Dass in Wien etwa Baron Gottfried van Swieten einen Zirkel Eingeweihter für die alte Musik Händels und Bachs begeistern konnte, darunter Wolfgang Amadeus Mozart, war eher die Ausnahme als die Regel. Und dass van Swieten dann zum Librettisten von Joseph Haydns Oratorien «Die Schöpfung» und «Die Jahreszeiten» werden konnte, wäre ohne Haydns Erlebnis groß besetzter Händel-Werke in England auch nicht möglich gewesen. Dem gerade einmal 20-jährigen Mendelssohn aber sollte es gelingen, Bachs «Matthäuspassion» im Bewusstsein der musikalischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts neu zu verankern — mit jener historischen, für die Ohren der Zeitgenossen freundlich gekürzten und bearbeiteten Berliner Aufführung des Jahres 1829. Ihr Erfolg bedeutete den entscheidenden Durchbruch bei den Wiederbelebungsversuchen eines Komponisten, «der damals noch allgemein für einen unverständlichen musikalischen Rechenmeister» galt, wie Mendelssohns Freund Eduard Devrient es formulierte. Der Sänger und Schauspieler hatte am Gelingen der Unternehmung wesentlichen Anteil und will sich sogar erinnern, dass Mendelssohn während der Vorbereitungen einmal «mitten auf dem Opernplatze stehenblieb», um des «wunderlichen Zufalls» zu gedenken, «daß es ein Komödiant und ein Judenjunge sein müssen, die den Leuten die größte christliche Musik wiederbringen». Sicher ist jedenfalls, wie Mendelssohns Biograf R. Larry Todd feststellt: «Die ‹Matthäuspassion› wurde zu einem Eckstein seines musikalischen Glaubens.»

Diesen Glauben wollte Mendelssohn dann mit «Paulus» erstmals in einem eigenen großen Oratorium bezeugen. Der Auftrag dazu kam im November 1831 von Johann Nepomuk Schelble, dem Leiter des Frankfurter Cäcilienvereins. Über das Thema, den Apostel Paulus, wurde offenbar rasch Einigung erzielt, auch wenn nicht klar ist, von wem der Vorschlag kam. Paulus von Tarsus (Tarsus ist heute eine Stadt in der türkischen Mittelmeerregion) kam vermutlich vor dem Jahr 10 zur Welt und wurde nach dem Jahr 60 der Überlieferung nach in Rom hingerichtet. Im Urchristentum war Paulus dessen bedeutendster Missionar und einer seiner ersten Theologen. Dass er Jesus persönlich nicht mehr begegnet ist und nicht zu den zwölf Aposteln der Evangelien zählt, steht direkt in Verbindung mit seinen Lehren und seinem Wirken: Paulus verkörpert die entscheidende Öffnung der jungen Religion hin zu anderen Völkern und Kulturen, weg von einer rein innerjüdischen Abspaltung. Aus der Apostelgeschichte bekannt sind vor allem seine Bekehrung vor Damaskus — denn als Pharisäer wollte er die neue Glaubensströmung ausmerzen. Dass der hellenistisch gebildete Mann sich bei diesem «Damaskuserlebnis» plötzlich «vom Saulus zum Paulus» gewandelt habe — gleich zwei sprichwörtlich gewordene Beschreibungen für eine fundamentale Kehrtwendung im Leben eines Menschen! —, ist insofern falsch, als er neben seinem jüdischen Synagogalnamen Scha’ul (Saul) als römischer Bürger von Geburt an auch den römischen Namen Paulus (griech. Paulos) trug. Wichtig sind seine ausgedehnten Missionsreisen, die theologisch bedeutsamen und höchst einflussreichen Briefe, die als Corpus Paulinum ins Neue Testament eingegangen sind: sieben von 13 gelten in der Bibelwissenschaft als zweifelsfrei authentisch. Mendelssohns erste Bitte nach einem Libretto ging an Devrient, doch fühlte sich dieser offenbar überfordert. Der Plan, dass Mendelssohn und sein Komponistenkollege Adolf Bernhard Marx, dem seinerseits ein «Moses»-Oratorium vorschwebte, einander gegenseitig bei den Textentwürfen helfen könnten, scheiterte so spektakulär und schmerzlich, dass Jahre später sogar die Freundschaft der beiden in die Brüche ging. Schließlich fand Mendelssohn für «Paulus» in Julius Schubring einen theologisch versierten Mitarbeiter. Die endgültige Textfassung stellte sich Mendelssohn erst während der Komposition zusammen, die die Zeit von Frühjahr 1834 bis April 1836 in Anspruch nahm. Nach der Uraufführung hat er noch einige Sätze gestrichen und zahlreiche Rezitative überarbeitet.

Die beiden Teile des «Paulus» umfassen 22 bzw. 23 musikalische Nummern bei einer Dauer von rund 75 Minuten im ersten sowie 60 Minuten im zweiten Teil. Die Handlung, die im ersten Teil die Bekehrung, im zweiten das Wirken des Apostels umfasst, lässt sich jeweils in drei Kapitel einteilen, die immer unter Einsatz des Chores abgeschlossen werden. Den ersten Teil eröffnen instrumentale Ouvertüre und Doxologie, also Gotteslob, in Form eines prunkvollen Chors mit folgendem, andächtigem Choral. Erst dann beginnt die Handlung — mit dem ersten großen Kapitel, das die Steinigung des Stephanus schildert. Stephanus ist der Überlieferung zufolge der erste Märtyrer der Christenheit, und Saulus soll bei seiner Hinrichtung anwesend gewesen sein. Das nächste Kapitel stellt Saulus als Christenverfolger dar, der aber dann auf dem Weg nach Damaskus ein Licht vom Himmel erblickt und eine Stimme hört, die sagt: «Saul! Was verfolgst du mich?» Das Erlebnis der Stimme, die sich als Jesus Christus zu erkennen gibt, erschüttert Saul in seinen Grundfesten. Vorübergehend mit Blindheit geschlagen, wird er nach Damaskus geführt, wo er sein Augenlicht wiedererlangt, sich taufen lässt und fortan Jesus predigt. Ein großer Chor preist Gott und schließt damit den ersten Teil ab. Der zweite Teil beginnt mit einem großen Kapitel über Paulus als Missionar, das selbst drei Abschnitte umfasst. Deren erster behandelt, wie Paulus und sein Mitstreiter Barnabas, auch er ein Apostel jenseits der Zwölf, als Prediger ausziehen. Im zweiten Abschnitt regt sich Widerstand unter den Juden, den Paulus und Barnabas damit quittieren, dass sie sich von den Juden ab- und den Heiden zuwenden. Der dritte Abschnitt berichtet, wie Paulus einen gelähmten Heiden in Lystra heilt und die göttliche Verehrung, die ihnen daraufhin zuteil wird, scharf zurückweist. Das nächste Kapitel schildert, wie Paulus’ Missionstätigkeit zwar von jüdischer wie heidnischer Seite mit Gewaltbereitschaft begegnet wird, aber wie er weiterhin mutig für den wahren Glauben eintritt und schließlich von der in Ephesus erblühten Christengemeinde Abschied nimmt, weil er Gottes Wort auch andernorts verkünden muss. Sein Märtyrertod wird nicht ausdrücklich behandelt, sondern nur im kurzen sechsten und letzten Kapitel indirekt angesprochen. Ein großer Chor mit Fuge bildet den hymnischen Abschluss: «Lobe den Herrn, meine Seele».

Choräle nach dem Modell der lutherischen Musikpraxis sind nach dem Vorbild Bachs auch für Mendelssohn unerlässlich: Er schiebt sie als vierstimmige Chorsätze an fünf Stellen in den Ablauf ein, variiert und steigert aber ihre kunstvolle Ausgestaltung, wobei der Choral über den Luthertext «Wir glauben all’ an einen Gott» (in Nr. 36) im Stile einer Choralmotette ausgeführt ist und den satztechnischen Höhepunkt darstellt. Besondere Symbolik kommt freilich dem Choral «Wachet auf, ruft uns die Stimme» zu. Von Philipp Nicolai 1599 veröffentlicht, wurde er seither vielfach bearbeitet, insbesondere durch Bach selbst in der gleichnamigen Kantate BWV 140 und als eröffnendes Choralvorspiel der «Schübler-Choräle» BWV 645. Mendelssohn konnte sich darauf verlassen, dass diese Melodie und ihre Bedeutung als transzendentaler Weckruf zum Glauben allgemein bekannt waren — und verwendet sie deshalb wie ein Fanal gleich am Beginn von «Paulus»: Die Ouvertüre setzt mit ihr in andächtigem Tonfall ein, im raschen Fugenabschnitt tritt sie immer prominenter hervor und bildet schließlich deren krönenden Abschluss: Das betont die Bekehrung als zentralen Punkt in der Biografie des Apostels. Vom Instrumentalen ins Vokale schlägt das «Wachet auf» dann bei der Wiederkehr in der Damaskusszene um. Gleichfalls wie bei Bach findet immer wieder ein Wechsel zwischen der Erzählung der Handlung und dem Auftreten sprechender Personen oder Gruppen statt, der das musikalische Geschehen entsprechend abwechslungsreich und lebendig macht. Zwei gravierende Gegensätze sind jedoch zu verzeichnen: Zum einen verzichtet Mendelssohn auf die Partie eines Evangelisten, also auf einen durchlaufend definierten Erzähler. Stattdessen teilt er den Bericht auf die unterschiedlichen Solostimmen von Sopran und Tenor auf. Das befreit die Wiedergabe der biblischen Geschichte von priesterlichen Obertönen und rückt sie näher an ein — vielleicht sogar urchristlich zu nennendes — Miteinander unter Gläubigen. Ja sogar Paulus selbst ist in der Partitur nicht wie eine darzustellende Rolle ausgewiesen, der Solobass verwandelt sich nicht in den Charakter, sondern ihm werden die Worte des Apostels zum Vortrag anvertraut. Der andere Gegensatz betrifft die Herkunft der Gesangstexte. In Bachs Passionen sind kontemplative Arien in den Passionsbericht eingestreut, persönliche Betrachtungen der frommen, wenngleich unweigerlich sündigen Seele, die in der Brust jedes Christenmenschen wohnt: Deren Worte stammen gewöhnlich aus der pietistisch gefärbten Dichtung seiner Zeit. Dergleichen aber empfand man im 19. Jahrhundert bereits als unpassend. Deshalb ist der Text zu «Paulus» zur Gänze aus biblischen Worten kompiliert, und zwar so, dass der Sinn auch dort klar wird, wo die Lebensgeschichte des Apostels keine konkrete Schilderung erfährt. Aus diesem Grund konnte auch sein Martyrium nicht ausdrücklich vorkommen, da es im Neuen Testament nicht bezeugt ist. Die christliche Überlieferung lässt den weit gereisten Paulus in Rom durch das Schwert sterben: Als römischem Bürger sei ihm, im Gegensatz zu Petrus, die schändliche Todesart der Kreuzigung erspart geblieben.

Mendelssohn, so fasst Georg-Albrecht Eckle die narrative Struktur des Oratoriums zusammen, «lässt die poetischen Gattungen episch (= erzählend), lyrisch (= subjektiv erinnernd) und dramatisch (= handelnd) ‹ineinander umschlagen›, wie es Hegel in seinen Vorlesungen zur Ästhetik formuliert, die Mendelssohn als Berliner Student gehört hat. Und von Goethe, in dessen Aura er aufwuchs, war ihm freilich bewusst, was dieser im Nachwort zum ‹West-östlichen Divan› (1819) schreibt: ‹Diese drei Dichtweisen . . . bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor.›» Tatsächlich beschrieb Mendelssohn selbst die Herausforderung bei der Komposition des «Paulus» als «die Aufgabe der Verbindung alten Sinns mit neuen Mitteln». Das betrifft nicht zuletzt die mit ariosen Phrasen angereicherten Rezitative, die durchgehend als Accompagnati gestaltet sind, also mit Orchesterbegleitung. Die Monumentalität Händels atmen dagegen eher die Rahmenchöre der beiden Teile des Oratoriums, die in ihren Steigerungen jedoch gleichfalls niemals schematisch, sondern hoch differenziert gestaltet sind — bis hin zu großartigen Doppelfugen. Mit dem Riesenerfolg des «Paulus» begründete Mendelssohn seinen internationalen Ruhm. Binnen kaum anderthalb Jahren wurde das Oratorium in mehr als 50 Aufführungen in diversen europäischen Musikzentren bejubelt. Für einen kam der Erfolg freilich zu spät: Felix’ Vater Abraham Mendelssohn, der an der Werkentstehung lebhaft Anteil genommen hatte, war im November 1835 gestorben. «Mir ist», schrieb der Sohn betrübt an Schubring, «als müßte ich nun alles anwenden, um den Paulus so gut als möglich zu vollenden, und mir dann denken, er nähme Teil daran». Es wäre ein Triumph für Abraham Mendelssohn gewesen, das Oratorium über die Wandlung des jüdischen Saulus zum christlichen Paulus als künstlerische Besiegelung der völligen Assimilation seiner Familie begreifen zu können. Wie die finsterste Geschichte des 20. Jahrhunderts dann lehren sollte, hätte er sich damit auf jeden Fall getäuscht.

© Grafenegg Kulturbetriebsgesellschaft m.b.H. | Walter Weidringer