Archiv: Pierre-Laurent Aimard und Brad Lubman

Grafenegg Wolkenturm Wolkenturm

Interpreten

  • Pierre-Laurent Aimard, Klavier
  • Brad Lubman, Dirigent

Programm

Philippe Manoury
«Anticipations»
- Pause -

Wenn der erstklassige französische Pianist Pierre-Laurent Aimard am Wolkenturm den Solopart in Béla Bartóks drittem Klavierkonzert spielt oder das Tonkünstler-Orchester unter Brad Lubmans Leitung Claude Debussys «La Mer» anstimmt, dann sind die «Anticipations» von Composer in Residence Philippe Manoury bereits verklungen. Das neue Werk des französischen Komponisten nimmt auf die musikalische Tradition der beiden Meisterwerke Bezug und sie somit zu Beginn des Konzerts gewissermaßen vorweg. Ergänzt wird das Programm durch György Ligetis legendäres Klanggemälde «Atmosphères», das durch Stanley Kubricks Science-Fiction-Film «2001: Odyssee im Weltraum» berühmt wurde.

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Béla Bartók

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 3

Sätze

  • Allegretto

  • Adagio religioso

  • Allegro vivace

Dauer

23 Min.
György Ligeti

«Atmosphères» für Orchester

Dauer

9 Min.

György Ligeti, 1923 in Siebenbürgen geboren, wollte eigentlich Physik und Mathematik studieren; da ihm aber 1941 aufgrund seiner jüdischen Herkunft der Zugang zur Universität verwehrt wurde, verlegte er sich auf die Musik. Nach dem Ende des Krieges wollte Ligeti seine Studien bei Béla Bartók fortsetzen, doch starb dieser, bevor er aus seinem amerikanischen Exil nach Ungarn zurückkehren konnte. Sándor Veress und Ferenc Farkas wurden daraufhin seine wichtigsten Lehrer. Von 1950 bis 1956 unterrichtete Ligeti an der Budapester Musikhochschule, wobei ihn die Enge des kommunistischen Regimes immer stärker belastete. «In der stalinistischen Diktatur war selbst Folklore nur in politisch korrekter Form erlaubt, zurechtgebogen gemäß den Normen des sozialistischen Realismus.» ­(György Ligeti) Die leise Öffnung nach Westen im Frühjahr 1956 beflügelte ihn dann ungemein, konnte er doch erstmals vergleichsweise ungehindert seiner Leidenschaft frönen, neue und vor allem neueste musikalische Entwicklungen zu studieren. Die brutale Niederschlagung der Freiheitsbewegung im November 1956 durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen und neuerlich zu erwartende Repressionen in weit größerem Ausmaße ließen Ligeti keine Wahl: Wie viele andere floh auch er, gemeinsam mit seiner Frau Vera, in den Westen und kam im Dezember 1956 nach Wien. Sein Weg führte ihn wenig später weiter nach Köln, wo er sich intensiv mit allen neuen musikalischen Strömungen auseinandersetzte. Mit den beiden Orchesterwerken «Apparitions» (das 1960 als Sensation gefeiert wurde) und vor allem «Atmosphères» (am 22. Oktober 1961 in Donaueschingen uraufgeführt) war Ligeti schlagartig international beachtet. Allerdings blieb er bei der damaligen Entwicklung keineswegs stehen sondern forschte weiter, suchte und fand neue Ausdruckswelten. Davon zeugen Werke wie etwa «Poème Symphonique» für 100 Metronome, die «Aventures» für drei Sänger und sieben Instrumentalisten, «Lux aeterna» für 16stimmigen gemischten Chor a cappella, die Oper «Le Grand Macabre», weitere Orchesterstücke oder seine Etüden und sonstigen höchst originellen Werke für Klavier. Er lebte später überwiegend in Hamburg (dort unterrichtete er von 1973 bis 1989 an der Musikhochschule) und, seit 1967 österreichischer Staatsbürger, in Wien, wo er auch seine letzten Lebensjahre verbrachte. Ligeti starb im Juni 2006; er erhielt ein Ehrengrab der Gemeinde Wien am Zentralfriedhof.

Ligeti selbst erläutert die «Atmosphères» folgendermaßen: «Ich nahm mir vor, in meinem nächsten Werk [nach den «Apparitions»] die Dualität von klaren Einzelgestalten und dichten Verschlingungen auszuschalten und die musikalische Form nur aus dem klanglichen ‚Hintergrund’ hervorgehen zu lassen, wobei dieser ‚Hintergrund’ nicht mehr als solcher bezeichnet werden kann, da kein ‚Vordergrund’ mehr vorhanden ist. Es handelt sich nun um ein den ganzen musikalischen Raum gleichmäßig ausfüllendes feinfasriges Gewebe, dessen interne Bewegungen und Veränderungen die Artikulation der Form bestimmen. (…) Es gibt in der auf diese Weise entstandenen Form keine gegensätzlichen Elemente und keine Wechselwirkungen mehr; die verschiedenen Zustände des musikalischen Materials lösen einander ab, oder es wandelt sich einer fast unmerkbar in den andern um, ohne dass es zu kausalen Zusammenhängen innerhalb des Formverlaufs käme.» In dieser Erläuterung des schon Anfang der Fünfziger Jahre erdachten, aber erst 1961 ausgeführten Werkes sind vor allem zwei Dinge wesentlich: Einerseits verweist Ligeti auf die quasi unmerkliche Entwicklung des Stückes von einem Abschnitt zum nächsten. «Atmosphères» besteht aus 22 Teilen unterschiedlicher Länge, die allesamt individuell gegliedert sind und aus dichten chromatischen Clustern (Klangtrauben) bestehen. Andererseits heißt das «den ganzen musikalischen Raum gleichmäßig ausfüllende feinfasrige Gewebe» für den Dirigenten, die Töne einzelner Instrumente unter Hintanstellung jeglicher Individualität nur im Zusammenklang der Textur hörbar zu machen. Ligeti bringt das anderenorts nochmals auf den Punkt: «Es fehlt darin jede Art von Figur oder rhythmische Gestalt. Die Form besteht ausschließlich aus Transformationen der Klangfarbe und Lautstärke.» Ganze 73 Systeme umfasst die Partitur, im Laufe derer erstens lange Liegetöne, die untereinander Schwebungen erzeugen, zweitens irisierende Bewegungen im kleinsten Tonraum sowie als dritte Variante mosaikartige Klangflächen hinter- und übereinander geschichtet werden – wobei sich hinter all dem auch noch, freilich unhörbar, komplexe kontrapunktische Techniken verbergen. An der dramatischsten Stelle der Komposition, am Schnittpunkt des siebenten und achten Teils, schweben nur mehr wenige Bläser in höchsten Höhen, als schroff mit größter Heftigkeit acht Kontrabässe dreinfahren: Ein wahrer Sturz in den Orkus! Andreas E. Beurmann und Albrecht Schneider beschrieben den Gesamtverlauf der «Atmosphères» vielleicht am Treffendsten: «Ein zartes Einschwingen, ein Kommen aus dem Nichts, fünf Bereiche eines äußerst langsamen dynamischen An- und Abschwellens und das Verschwinden im Nichts, Symbol des Titels dieser  Musik, Atmosphären, Lufthüllen.»

© Grafenegg Kulturbetriebsgesellschaft m.b.H. | Markus Hennerfeind

Claude Debussy

«La Mer» Drei symphonische Skizzen für Orchester

Sätze

  • De l'aube à midi sur la mer (Von der Morgenröte bis zum Mittag auf dem Meer)

  • Jeux de vagues (Spiel der Wellen)

  • Dialogue du vent et de la mer (Zwiegespräch von Wind und Meer)

Dauer

22 Min.

Entstehung

1903-05

Claude Debussy hatte zu Anfang des 20. Jahrhunderts aus finanzieller Notwendigkeit begonnen, sich als Musikkritiker zu verdingen und zu diesem Zweck einen scharfzüngigen, Zigarre rauchenden Gesprächspartner namens Monsieur Croche erfunden. Doch auch später noch, als längst etablierter Komponist, war Debussy für seine spitze Feder bekannt, seinen betonten französischen Nationalismus und für so manches gehässige Bonmot auf Kosten berühmter Kollegen und Vorgänger. «Kein Mensch ist verpflichtet, nur Meisterwerke zu schreiben, und wenn man die Pastoral-Symphonie als solches behandelte, würde diese Bezeichnung an Kraft einbüßen», ätzte er einmal in Richtung Ludwig van Beethovens. – Eine so rigorose Ablehnung also ausgerechnet jenes symphonischen Werks, in dem Beethoven das Leben auf dem Lande in Töne übersetzt, wo doch Debussy selbst die musikalische Schilderung der Natur, gerade etwa in «La Mer», keinesfalls verschmäht hat? Um den offensichtlichen Widerspruch aufzulösen, muss man bedenken, dass Debussy, obwohl anfangs auch er der in Frankreich grassierenden Begeisterung für Richard Wagner erlegen war, sich später mit Vehemenz von dieser gelöst und seine Vorbilder anderswo gefunden hat: weit abseits der sich selbst allzu wichtig nehmenden deutsch-österreichischen Musikgeschichte, beim urwüchsig-ungezügelten Russen Modest Mussorgsky, bei der javanischen Gamelan-Musik und ihrer Pentatonik, in der Klarheit der französischen Clavecinisten des Barock, in den Synkopen des aufkommenden Ragtime. Das jeweilige Verhältnis sowohl zu Beethoven als auch zu Wagner war zwar für die nachfolgenden Komponistengenerationen in Deutschland und Österreich die zentrale Frage, an der sich alle messen lassen mussten – für Frankreich hingegen leugnete Debussy deren Bedeutung, weil dies für ihn die Fixierung auf einen überholten ästhetischen Standpunkt darstellte: «Es schien mir bewiesen, dass die Symphonie seit Beethoven überflüssig geworden war. Bei Schumann und Mendelssohn ist sie ohnehin nur eine respektvolle Wiederholung der gleichen Formen, mit bereits geringerer schöpferischer Kraft. Die Neunte war allerdings ein genialer Fingerzeig, ein großartiges Verlangen nach Erweiterung der Formen», schrieb Claude Debussy in einem Aufsatz zur Symphonie, um sodann den Schluss zu ziehen: «Beethovens wirkliche Lehre bedeutete also nicht die Bewahrung der alten Form, noch weniger die Verpflichtung, in die Fußstapfen seiner ersten Versuche zu treten.»

Debussy wollte jedoch sowohl das Erbe Beethovens als auch jenes Wagners überwinden: Hatte er auch in seiner Oper «Pelléas et Mélisande» (1893–98) noch unweigerlich Wagner bis zu einem gewissen Grad seine Reverenz erweisen müssen, ließ er das frühere Vorbild nun ebenso hinter sich wie die Gebote der konservativen Instrumentalmusik – schließlich mochte er sich seine musikalische Erfindung genauso wenig von der in der Wiener Klassik entwickelten und von Brahms noch weiter getriebenen Durchführungstechnik mit ihrer motivisch-thematischen Arbeit einschränken lassen. Mit Bedacht nannte der Komponist sein «La Mer» im Untertitel «trois esquisses symphoniques», also «drei symphonische Skizzen»: Skizzen, weil in dieser Musik die formalen Kriterien ebenso wie die inhaltlichen Prinzipien althergebrachter Orchestersprache suspendiert sind; symphonisch, weil sich die Themen dieses großangelegten Werkes doch entwickeln, in den Ecksätzen am Ende gar zu hymnischer Apotheose sich bündeln. Aber ebenso wenig, wie man «La Mer» im technischen Sinn eine für Debussy überkommene traditionelle Durchführungstechnik ablauschen kann, erschöpft sich das Werk klanglich in konkret deskriptiver, sozusagen naturalistischer Tonmalerei: Höchst selten, am ehesten noch im scherzoartigen Mittelsatz, in dem man etwa sich kräuselnde Gischt vernehmen mag, ließen sich konkrete programm-musikalische Ausdeutungen dingfest machen. Das reale Meer platterdings abzubilden, war jedoch gar nicht Debussys Absicht, selbst wenn dieses ihn zeitlebens gefesselt hatte. Seinem Freund André Messager, der 1902 die Uraufführung des «Pelléas» dirigiert hatte, vertraute er im September des darauffolgenden Jahres brieflich an: «Sie wissen vielleicht nicht, dass ich für die schöne Laufbahn eines Seemanns bestimmt war und nur die Zufälle des Lebens mich davon abgebracht haben. Trotzdem habe ich [dem Meer] eine wahre Leidenschaft bewahrt.» Eine Leidenschaft freilich, die keine örtliche Nähe brauchte, um inspirierend zu wirken: Ausgerechnet auf dem Land begann er die Komposition, «in der dörflichen Abgeschiedenheit Burgunds im Sommer 1903, den er mit seiner Frau in Bichain (Département Yonne), dem Sommersitz seiner Schwiegereltern, verbrachte» (Peter Jost). Und im erwähnten Brief an Messager gibt Debussy nicht nur die erste Fassung der Satztitel preis, sondern betont auch gewissermaßen die Autonomie seiner inneren Vorstellungen und ihre Dominanz über jede bloße Deskription: «Ich arbeite an drei symphonischen Skizzen mit den Überschriften: 1. Mer belle aux îles sanguinaires [Ruhige See vor den Îles Sanguinaires]. 2. Jeu de vagues [Spiel der Wellen]. 3. Le vent fait danser la mer [Der Wind lässt das Meer tanzen] unter dem Gesamttitel La Mer. […] Nun werden Sie sagen, dass die Weinberge Burgunds nicht gerade vom Ozean umspült werden! Und dass das Ganze wohl den im Atelier gemalten Landschaften gleichen könnte! Aber ich habe unzählige Erinnerungen; das ist meiner Meinung nach besser als eine Realität, deren Charme im Allgemeinen die Gedanken zu sehr belastet.»

Stattdessen gelang ihm in diesem Werk mit den musikalischen Äquivalenten von Farbwert und Pinselstrich eine tönende Repräsentation des Meeres – in «geheimnisvoller Übereinstimmung von Natur und Imagination», wie der Komponist den Sachverhalt selbst formuliert hat. Diesen Unterschied zu begreifen und «La Mer» eben nicht daran zu messen, wie deutlich es seinen Titel als vermeintliche Programmmusik einlösen könne, war freilich viel verlangt vom Publikum der nicht sonderlich erfolgreichen Uraufführung, die am 15. Oktober 1905 in Paris mit dem Orchestre Lamoureux unter Camille Chevillard stattfand. (Abgesehen von einer ungünstigen Probensituation war noch dazu die öffentliche Meinung gegen Debussy eingestellt, weil er sich kurz zuvor zugunsten der Bankiersgattin und Sängerin Emma Bardac von seiner Frau getrennt hatte; während eines kurzen Urlaubes des neuen Paares Ende Juli 1905 in Eastbourne an der englischen Kanalküste, knapp nach Emmas Scheidung, war «La Mer» vollendet worden.)

Es bedurfte eines feinfühligen Kollegen wie Paul Dukas, ein zentrales Charakteristikum des Werkes zu benennen, das längst zu den beliebtesten Kompositionen Debussys und des 20. Jahrhunderts überhaupt zählt: Hier wird nicht etwa eine Geschichte erzählt, sondern eine sozusagen nüchtern-naturwissenschaftliche, «anonyme» Bestandsaufnahme der Elemente vollzogen, die «alles Anthropomorphe, alle Beziehung zu einem Sujet ausschließt». Anders als in unzähligen See- und Sturmmusiken vor und nach «La Mer» bleibt also der Mensch hier als bedrohtes oder die Gefahren doch meisterndes Subjekt konsequent ausgespart: Nicht die Auswirkungen des Meeres auf uns stehen im Zentrum, sondern dessen gleichsam objektive Charakteristik.

Der erste Satz von «La Mer», «Von der Morgendämmerung bis zum Mittag auf dem Meer», beginnt «sozusagen als die Geburt der Musik aus dem Geiste des Klangs, genauer: ihrer einzelnen, nacheinander eintretenden Elemente und Dimensionen (Einzelton, Klangfarbe, Taktart, Motiv, Tonalität, Thema, Entwicklung, Form), und das alles ohne ‚symphonische‘ Kompositionstechnik. Die Apotheose, die als ‚springender Punkt‘ in der Coda eintritt, ist eine der Musik selber» (Dietmar Holland). Nach den leicht und locker gefügten, giocosen Elementen des Mittelsatzes, «Spiel der Wellen», schlägt der letzte, «Zwiegespräch von Wind und Meer», dramatisch-ernste Töne an: Der Dialog zwischen chromatischen Wind-Themen und aus dem ersten Satz übernommenen, diatonischen Meeres-Themen gipfelt in einer grandiosen, geradezu mystisch wirkenden Vereinigung der beiden Sphären.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Walter Weidringer