Archiv: Rachmaninow & Sibelius

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Interpreten

  • Kyohei Sorita, Klavier
  • Yutaka Sado, Dirigent

Programm

Große Gesten sind hier Programm! Das zweite Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow ist für viele Menschen der Inbegriff schwärmerischen musikalischen Empfindens. Und welcher Interpret wäre dafür besser geeignet als der junge Japaner Kyohei Sorita? Er wurde Pianist, weil er den Menschen Träume schenken wollte, und ließ sich am Moskauer Konservatorium ausbilden. Der erste Konzertteil steht im Zeichen des epischen musikalischen Erzählens und wird gekrönt von Jean Sibelius´ siebter Symphonie, seiner letzten. Zehn Jahre brauchte der Komponist, um diese Orchesterfantasie in einem Satz zu vollenden.

Aufgrund der geltenden Verordnungen zur Covid-19-Prävention sind auch unsere Konzertprogramme Änderungen unterworfen. Die für diesen Abend ursprünglich ebenfalls vorgesehene Tondichtung «Don Juan» von Richard Strauss muss leider entfallen. Die Zusammenarbeit mit dem japanischen Pianisten Nobuyuki Tsujii wird zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt.

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Jean Sibelius

«Finlandia» op. 26

Sätze

  • Andante sostenuto - Allegro moderato - Allegro

Dauer

8 Min.

Entstehung

1899

Jean Sibelius’ Nachname vervollständigt ein viel zitiertes Lebensrezept der Finnen, das sich aus drei prägnanten Wörtern zusammensetzt: Sauna – Sisu – Sibelius. Das zweite Wort «Sisu» hat viele Bedeutungen: Am ehesten könnte es mit Beharrlichkeit, Kampfgeist oder Standfestigkeit übersetzt werden. Den regelmäßigen Saunagang, die Beharrlichkeit und die Musik von Jean Sibelius sollte man also verinnerlicht haben, um das Leben im waldreichsten Land Europas zu verstehen. Und gerade mit «Sisu» und Jean Sibelius sollte man die berühmte Tondichtung «Finlandia» auch in Verbindung bringen.

Als eine der erfolgreichsten Kompositionen Sibelius’ hat das Stück einen besonderen Stellenwert im musikalischen Bewusstsein der Finnen erlangt. «Finlandia» ist der kraftstrotzende Urschrei nach Unabhängigkeit. Dieser unbändig starke Wille nach Freiheit ist durch einen Blick in die finnische Geschichte leicht zu erklären: Finnland war über Jahrhunderte hinweg ein Spielball zwischen dem schwedischen Königreich und dem zaristischen Russland. Militärische Auseinandersetzungen auf finnischem Boden verschoben Grenzen; alte Gouverneure gingen, neue kamen. Die scheinbar endgültige Entscheidung über Finnland fiel im Schwedisch-Russischen Krieg 1808/09, als das Gebiet an Russland fiel. Zar Alexander I. er-kannte, dass sich die Finnen nicht ohne Weiteres in sein Reich eingliedern würden und erhob das Land zum Großfürstentum mit einer selbständigen Regierung und Gesetzgebung. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts pflegte man in Finnland einen Weg des Kompromisses: Prosperität und innerer Friede im Tausch gegen Selbst-bestimmung – das Großherzogtum Finnland blieb aber weiter-hin Teil Russlands. Unter Zar Alexander II. (1855 – 1881), der die Zügel lockerer ließ als seine Vorgänger, nahm der politische Schwung zu. Unter Nikolaus II. (1894 – 1917) verschlechterten sich die Dinge für die Finnen aber merklich. Ein wesentlicher Grund war die Installation des Generals Nikolai Bobrikow als Gouverneur in Finnland im Jahr 1898. Bobrikows Auftrag war es, die Russifizierung Finnlands voranzutreiben und jegliche separatistischen Ansätze zu unterbinden. Im Jahr 1900 verfügte er, dass die Korrespondenz zwischen den Behörden in russischer Sprache zu führen sei. Der Russisch-Unterricht sollte in den Schulen verstärkt werden. 1901 wurde die eigenständige finnische Armee abgeschafft. Finnische Wehrpflichtige waren von nun an gezwungen, in russischen Einheiten im ganzen zaristischen Reich Dienst zu tun. 1903 gab Zar Nikolaus II. General Bobrikow weitere Sondervollmachten. Er hatte künftig das Recht, direkt finnische Staatsbeamte zu entlassen. Außerdem erhielt er weitgehende Zensurrechte gegenüber den finnischen Zeitungen und schränkte die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ein. Bobrikow schrieb: «Russlands Würde fordert es […], dass Finnland, mit harter Hand regiert, schrittweise so umgebildet wird, dass es auch äußerlich als eine russische Grenzprovinz erkennbar ist, und während dieser Erneuerungsarbeit unvermeidlich zu Tage tretende Ausbrüche von Bosheit und Widerstandswillen sind um jeden Preis zu zerschlagen.» Finnland wurde zum Pulverfass; wenige Jahre später wurde Bobrikow von einem fanatischen Nationalisten in Helsinki erschossen, was die Stimmung weiter aufheizte.

Die Entstehung von «Finlandia» fällt in jene Zeit, in der Bobrikow gerade einmal ein Jahr im Amt war. In weiten Teilen Finnlands war man sich einig, dass die Situation nicht länger hinnehmbar war; Jean Sibelius war derselben Meinung. Allerdings zog er es vor, sich künstlerisch auszudrücken, die politische Betätigung überließ er anderen. Sein «Gesang der Athener», komponiert im Frühjahr 1899, wurde in Windeseile zum musikalischen Symbol für die Auflehnung gegen den Zaren. Sibelius war nolens volens zu einer der führenden künstlerischen Figuren des Widerstands geworden. Obwohl das offizielle Finnland unter eiserner russischer Hand war und man die Presse sukzessive durch Stilllegungen von Druckereien und weitere Re-pressalien in die Enge trieb, lief der Musikbetrieb einigermaßen unberührt weiter. Die Reaktion darauf waren die «Pressetage» vom 3. bis 5. November 1899, die offiziell zu Gunsten der Rentenkasse für Journalisten abgehalten wurden. Tatsächlich war die Veranstaltung aber als moralische Unterstützung für Finnlands kämpfende Presse gedacht. Für die Galavorstellung am 4. November hatte sich der Leiter des Finnischen Theaters in Helsinki eine Reihe historischer Tableaus ausgedacht, die mit Texten namhafter Dichter und Musik von Jean Sibelius untermalt werden sollte. Das letzte dieser Tableaus hieß «Finnland erwache» und erinnerte an Schlüsselmomente der finnischen Geschichte, darunter auch die erste Eisenbahnlokomotive, die im Land fuhr, und die Sibelius so trefflich am Ende des Tableaus vertonte.

Der Komponist zeigte sich in diesem vergleichsweise kurzen Stück als glühender Patriot; die Musik wurde zu einem spontanen Erfolg, Sibelius hatte die Sorgen und Sehnsüchte seiner Landsleute so gut eingefangen wie niemand zuvor. Das Grollen der Blechbläser war von ihm eigentlich dazu gedacht, das Gemurmel im Saal bei der Aufführung zum Verstummen zu verbringen, stellt gleichzeitig aber den verbissenen Grimm der zaristischen Umklammerung dar. Zaghaftes Flehen und Weinen wird mehr und mehr durchsetzt von wütenden Einwürfen – Finnland beginnt zu erwachen. Am Ende dieses Prozesses steht ein markiges Thema aus fünf Tönen, es eilt vorwärts und verströmt Kraft und Zuversicht. Festlich und freudig eilt die Musik ihrem hymnischen Finale entgegen.

Als man im Frühjahr 1900 das Gastspiel des Philharmonischen Orchesters Helsinki bei der Pariser Weltausstellung vorbereitete, wurde Sibelius eingeladen, aus diesem Anlass eine Ouvertüre zu komponieren. Anstelle eines neuen Stücks offerierte er seinen Sensationserfolg aus der Tableaumusik und gab die Komposition unter dem Titel «Finlandia» heraus. Als Beitrag zur – letztlich erfolgreichen – Unabhängigkeitsbewegung darf «Finlandia» seinen fixen Platz in der (Musik-)Geschichte beanspruchen. Nach weiteren Jahren des Ringens erklärte Finnland in den Nachwehen der Oktober-revolution am 6. Dezember 1917 seine Unabhängigkeit, die von Lenin umgehend akzeptiert wurde. «Finlandia» war aber nicht nur bei den Finnen enorm populär, sondern erfreute sich schon bald in weiten Teilen der Welt großer Beliebtheit. «Finlandia» verkörpert das allgemeingültige Wesen der Bedrohung, der Revolte, des Gebets, der Glaubensgewissheit und der Zuversicht.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore

Jean Sibelius

Symphonie Nr. 7 op. 105

Dauer

21 Min.

Entstehung

1924

Die Lebensjahre von Jean Sibelius fallen in eine Zeit, als sich die Welt ständig selbst neu erfand. In Sibelius' Geburtsjahr 1865 wurde Wagners «Tristan und Isolde» uraufgeführt, wenige Tage nach seinem Tod 1957 sandte die Raumsonde Sputnik 1 ihre ersten Radiosignale zur Erde. Dazwischen lagen zwei Weltkriege, der Zerfall des alten und die Anfänge des modernen Europas. Auch in der Musik war kaum ein Stein auf dem anderen geblieben: Während seines Wiener Studienjahres 1890/91 brannte der junge Sibelius für Anton Bruckner und stand Johannes Brahms skeptisch gegenüber - als er rund 40 Jahre später die Komponistenfeder endgültig weglegte, war die Zweite Wiener Schule längst begründet worden, Igor Strawinski hatte die Musikwelt gehörig durchgewirbelt, und der junge Olivier Messiaen hatte sich mit ersten Werken vorgestellt.

Dass Sibelius seinen Ruhestand rund 30 Jahre lang auskosten konnte und damit auch Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und John Cage erlebte, machte ihn zur «lebenden Legende». Freilich war Sibelius da nur mehr ein schweigender Beobachter und hatte sich aus dem internationalen Musikbetrieb schon längst zurückgezogen. Er gehört zur letzten Generation der großen Romantiker und den ersten Mitgestaltern der Moderne - nur um von der Zeit selbst eingeholt zu werden, als «eine Erscheinung aus den Wäldern», wie er grüblerisch mutmaßte. Dabei provozierte seine Musik Beurteilungen, die kaum gegensätzlicher hätten ausfallen können und gar nicht notwendigerweise ihm selbst galten, sondern unterschiedlichen Standpunkten in einem sich zuspitzenden Prozess geschuldet waren. Während manche seine Musik als hoffnungslos rückständig ansahen, begeisterten sich Vertreter der sogenannten Spektralmusik in den 1980er- und 1990er-Jahren für seine ausgeklügelten und noch unerforschten Klangkonstellationen. Die welt- und musikhistorische Kulisse sowie sein überreiches OEuvre machen Jean Sibelius jedenfalls zu einer der interessantesten Musikerpersönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts.

Insgesamt komponierte Sibelius acht Symphonien; und doch ist die Symphonie Nr. 7 seine letzte. Ihr Nachfolgewerk gab er nie heraus und verbrannte es in den frühen 1940er-Jahren. Damit sind die symphonische Dichtung «Tapiola» (Uraufführung 1926) und die Siebente (Uraufführung 1924) die beiden letzten großen Orchesterwerke des Komponisten, der seine Heimat Finnland endgültig auf die große Weltkarte der Musik gesetzt hatte. Von der ersten bis zur sechsten Symphonie spannt sich ein großer Bogen, in dem sich Sibelius auf vielfache Weise verwirklichte. Waren die ersten beiden temperamentvolle Geniestreiche, zeigte sich Sibelius mit seiner dritten Symphonie als humorvoller Klassizist - um mit der Vierten «per aspera ad astra» («durch das Dunkel zu den Sternen») zu gehen. Die fünfte Symphonie wurde ein sonnengereiftes Freudenfest, die sechste ein geheimnisvolles, liebliches Idyll.

Über den Symphonien lässt sich ein großes gedankliches Thema ausmachen, nämlich Sibelius' intensive Beschäftigung mit der äußeren Form und dem inneren Gehalt - diese beiden Dinge waren für ihn eng verbunden, ja sie bedingten einander. Die Musik von Sibelius weist so gut wie immer einen organischen und nachvollziehbaren Wachstumsprozess auf: Es ist ein Keimen und Sprießen, in der sich das Neue aus dem Vorangegangenen ergibt. Und weil nicht jedes Wachstum auf gleiche Weise verläuft, war es für Sibelius nur naheliegend, nicht immer die gleichen Mittel zu wählen, um sich seiner selbstgestellten Aufgabe zu nähern. So finden sich bei ihm auch zwei dreisätzige Symphonien unter seinen sonst viersätzigen Werken dieser Gattung. Mit dem Bestreben, die Musik ständig entstehen und keimen zu lassen, steht Sibelius in einer symphonischen Tradition, zu deren Vertretern in mancher Hinsicht unter anderem Franz Schubert und Anton Bruckner zählen.

Schon entlang des Entstehungsprozesses der Symphonie Nr. 7 C-Dur op. 105 kann man das Denken von Sibelius gut nachvollziehen. Die ersten Ideen reichen zurück in die Jahre 1913/14, was die Symphonie zum ungleichen Schwesterwerk der Sechsten macht. Dann ist 1918 in einem Brief von Sibelius zu lesen: «Meine neuen Werke - zum Teil schon skizziert und im Plan fertig [...] Die Siebente Sinfonie: Freude des Lebens und Vitalität, mit appassionato Passagen.» Nach Abschluss der Sechsten konzentrierte er sich auf seine neue Symphonie - doch die Stimmung hatte sich dramatisch verdüstert: «... Wie unendlich tragisch ist doch das Schicksal eines alternden Tonsetzers! Es geht nicht mehr mit der gleichen Geschwindigkeit wie früher, und die Selbstkritik wächst ins Unmögliche.» Mehr als einmal in seinem Leben gelang es ihm, sich wieder einzufangen und aufzurichten - so auch hier. Anfang der 1920er-Jahre existierte die Symphonie Nr. 7 in einer viersätzigen Fassung; doch ab Sommer 1923 ging Sibelius den radikalen Schritt und konstruierte seine Symphonie als einsätzigen Monolith.

Bis heute herrscht keine Einigkeit darüber, wie das innere Wesen des Werks beschaffen ist. Sind es drei, vier oder doch mehr Teile? Gehen sie ineinander über oder überlagern sie sich? Ist das Thema die aufsteigende Skala zu Beginn, die pastorale Melodie danach oder letztlich doch das wiederkehrende, majestätische Motiv der Blechbläser? Jeder dieser Ansätze hat Verfechter und Kritiker. Letztlich bewegt man sich beim Versuch, diesem Werk mit herkömmlichen Begriffen und tradierten Systemen beizukommen, auf unsicherem Terrain. Diese Symphonie entzieht sich all dem - sie ist eine Welt für sich. Am ehesten noch könnte man sich so etwas wie «tektonische Verschiebungen» vorstellen, die sich unter den vielfältigen Musikphänomenen im Orchester abspielen: die aufsteigende Skala in einer alten Kirchentonart (Modus) zu Beginn führt am Ziel schon zum ersten von vielen harmonischen Flüssen. Kreiselnde Melodiestücke verdichten sich in schillernden Farben, um wieder in den Humus einzusickern, aus dem ständig neue Gedanken keimen. Alles ist so faszinierend verwoben, dass man sich dem Sog unmöglich entziehen kann. Man spürt, dass hier eine große, ja riesige Idee beschworen wird, die ihre geheime Ordnung nicht preisgibt. Sibelius sagte über seine Siebente: «Der Fluss entsteht aus zahllosen Zuflüssen, die alle ihren Weg suchen... die den Fluss bilden, bevor er breit und majestätisch dem Meer entgegenflutet. Der Strom des Wassers formt den Fluss: Er gleicht dem Strom der musikalischen Ideen, und das Flussbett, das er bildet, wäre der symphonischen Form gleichzusetzen.»

Die unglaubliche Schönheit der Symphonie Nr. 7 liegt in ihrer kunstvollen Wandelbarkeit. Alles findet seinen Platz, für alles ist Zeit - am Ende hat man die Erde umkreist und sie dabei gleichzeitig umarmt.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H.| Alexander Moore

Sergej Rachmaninow

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 c-Moll op. 18

Sätze

  • Moderato

  • Adagio sostenuto

  • Finale. Allegro scherzando

Dauer

33 Min.

Entstehung

1901

Sergej Rachmaninow vertraute ungebrochen der Melodie. Der Zeitgenosse von Debussy, Ravel, Richard Strauss, Sibelius und seinem Studienkollegen Skrjabin entwickelte eine Tonsprache, die die Melodik Tschaikowskis und die Harmonik der Nach-Wagner-Zeit in faszinierende Klangbilder tauchte. Der Komponist blieb dabei auch in den Jahrzehnten seines Exilantenlebens in den USA und im westlichen Europa durch und durch Russe. So gab ihm die byzantinisch-russische Kirchenmusik Halt in harmonischer und motivischer Hinsicht. Darüber hinaus wurde aber auch das gregorianische «Dies irae»-Motiv zu einem regelrechten Leitthema, das sich als Zitat durch einige seiner Werke zieht und um das auch viele andere seiner Themen in ihrer Anlage kreisen.

Für die Gestaltung seiner Kompositionen beschäftigte sich Rachmaninow stark mit so genannten intuitiven Konstruktionen: «Jedes Stück ist um einen Höhepunkt herum aufgebaut: Die ganze Flut von Tönen muss so bemessen sein, Inhalt und Kraft jedes Klanges müssen so deutlich abgestuft werden, dass der Höhepunkt mit dem Anschein der größten Natürlichkeit erreicht wird – dieser Moment muss die letzte Schranke zwischen der Wahrheit und ihrer Formulierung überwinden.»

Die verschiedenen musikalischen Faktoren brachte Rachmaninow in seinen Orchesterwerken und Klavierkonzerten auf den Stand modernster Instrumentationstechnik. Der überaus sensible und zur Melancholie neigende Künstler, den Zeitgenossen und Freunde als nobel und zurückhaltend in seiner Art und seinem Gehabe schilderten, ließ in seinen Kompositionen den Gefühlen freien Lauf. Dunkle Klangfarben und die überwiegende Verwendung von Moll-Tonarten und modifizierten Kirchentonarten geben der Musik in vielen Phasen einen tragisch umflorten Tonfall, aus dem sehnsuchtsvolle Melodien hervorquellen. Dramatische Aufwallungen, durchsetzt von rhythmisch akzentuierten Tutti-Schlägen des ganzen Orchesters, fallen entweder wieder in sich zusammen oder führen in Steigerungen auf wenige triumphale Höhepunkte hin. Die ausdrucksstarke Tonsprache gerät Rachmaninow aber nie außer Kontrolle, vielmehr ist sie in einen konsequenten formalen Ablauf gegossen. Sonatenhauptsatzform, Liedform und Rondoform erfüllt Rachmaninow in einer Epoche, in der andere Komponisten nach neuen kompositionstechnischen Mitteln suchten, noch einmal mit interessanten Inhalten. Seine Neigung zu ständigen thematischen Transformationen und motivischen Metamorphosen ergeben immer neue Varianten formaler Gestaltung. In der raffinierten rhythmischen Gestaltung bilden nicht selten Marsch- und Tanzformen die Grundlage.

Manche Kritiker rückten die Musik Rachmaninows in die Nähe von Filmmusik, was ein Missverständnis darstellt. Denn es waren umgekehrt die Filmmusikkomponisten Hollywoods ab den Dreißigerjahren, die auf Rachmaninows Musik als Vorbild zurückgriffen und sich einer ähnlichen, wenn auch nicht so tiefgründigen Klangsprache befleißigten. Aber das Etikett des schwelgerischen Hollywood-Komponisten blieb lange an Rachmaninow, der keinen einzigen Takt Filmmusik komponiert hat, haften. In den Fünfzigerjahren wurde dann in dem Film «Das verflixte siebte Jahr» für eine herzergreifende Szene Marilyn Monroes sogar Originalmusik Rachmaninows – aus dem Mittelsatz des Zweiten Klavierkonzerts – verwendet, was den zweifelhaften Ruf des inzwischen verstorbenen Komponisten noch nährte.

Rachmaninow, der in einer musikalischen Familie aufwuchs, hatte auf Empfehlung seines Cousins Alexander Siloti, einem Vertrauten Tschaikowskis, im Alter von zwölf Jahren in Moskau mit dem Musikstudium begonnen und absolvierte die Ausbildung zum Konzertpianisten und in der Kompositionsklasse bei Sergej Tanejew und Anton Arenskij mit bestechenden Leistungen. Das Klavier stand zwar im Zentrum des musikalischen Denkens und Handelns Rachmaninows, der einer der bedeutendsten Pianisten der Musikgeschichte war, in einer Linie mit Chopin und Liszt genannt werden darf und sein Leben lang erfolgreich als Klaviersolist konzertierte. So wie Liszt repräsentierte aber auch Rachmaninow den Typus des Universalmusikers, der nicht nur Instrumentalvirtuose, sondern zudem Dirigent und Komponist war. Neben einer Fülle  von Klavier-solowerken, den vier Klavierkonzerten und den konzertanten «Paganini-Variationen» komponierte Rachmaninow drei Symphonien, mehrere Tondichtungen, Chor-Orchesterwerke und Sakralmusik. Rachmaninows kompositorisches Schaffen ist nicht besonders groß, denn die Karriere als ausübender Musiker, die ihn jahrzehntelang durch die gesamte Musikwelt führte, ließ nicht allzu viel Zeit übrig.

Das zweite Klavierkonzert brachte dem jungen Komponisten internationale Berühmtheit ein. Neben dem ebenfalls früh komponierten cis-moll-Prelude op. 3 erlangte dieses Konzert die größte Popularität von Rachmaninows Werken. Es entstand in einer sehr schwierigen persönlichen Zeit Rachmaninows, den der Misserfolg seiner ersten Symphonie in eine schwere psychische Krise gestürzt hatte, die auch zu einer schöpferischen Lethargie führte. Erst Dank einer Therapie durch den bekannten Moskauer Neurologen Nikolaus Dahl fand er nach langen Monaten aus der Depression heraus und konzipierte das Klavierkonzert c-moll, welches er anlässlich seines ersten England-Gastspieles für seinen nächsten Besuch auf der britischen Insel versprochen hatte. Nach einer Aufführung der Sätze zwei und drei, die Rachmaninow zunächst komponiert hatte, erlebte das komplette Konzert im Dezember 1901 dennoch in Moskau seine Uraufführung mit dem Komponisten am Klavier und Siloti als Dirigenten. Widmungsträger war der Nervenarzt Dahl.

Die einleitende, markante Akkordfolge im ersten Satz (Moderato) des Konzertes, mit der das Klavier von f-moll ausgehend in acht Takten allmählich zur Grundtonart c-moll vordringt, ließe sich als harmonische und motivische Zelle des gesamten Werkes betrachten, kehrt sie doch in modifizierter Weise mehrmals an Schlüsselstellen wieder: in den aufsteigenden Schlusstakten des ersten Satzes, verschleiert in der Einleitung des langsamen Satzes und in einer motorischen Passage direkt vor dem Eintritt des Hauptthemas im Finale. In Kenntnis des Entstehungsprozesses des ­Werkes, in dem zunächst die Sätze zwei und drei und dann erst der Kopfsatz komponiert wurden, muss man aber feststellen, dass ­Rachmaninow nicht von dieser Einleitung ausging, sondern umgekehrt im Verlauf der Komposition erst zu diesem Motivkeim hinfand. Das Hauptthema des ersten Satzes wird dann vom Orchester ausgebreitet, während sich das Klavier mit umspielenden Arpeggien einfügt. Dafür trägt das Soloinstrument das herrlich lyrische zweite Thema vor. Eine weitere, zunächst etwas rätselhaft anmutende Themensequenz bekommt in der Durchführung eine dominierende Rolle in Form eines mächtigen Marsches. Der gesamte Satz erscheint als ständig das thematische Material verdichtende Energie; Themenreprisen im traditionellen Sinn komponierte Rachmaninow nicht mehr, er formte immer neue dynamische Bewegungen – einzig die Harmonik stellt Bezüge zu den ursprünglichen Themengestalten her. Auffällig ist die permanente Verflechtung von Klavier und Orchester, durch die die herkömmliche Aufteilung in Solo und Begleitung aufgelöst wird. Es gibt kein Wechselspiel von virtuosen Einzelphrasen des Klaviers und statuarischen Tutti-Passagen des Orchesters mehr, vielmehr strebt Rachmaninow einen durchgängigen symphonischen Komplex an.

Der berühmt gewordene Mittelsatz (Adagio sostenuto) hebt mit verträumten Arpeggien des Klaviers an. Die Soloflöte deutet einen konkreteren melodischen Verlauf an, aus dem dann ein sehnsuchtsvolles Thema in der Klarinette hervorgeht. Auch in diesem Satz ­wendet Rachmaninow das Prinzip ständiger Verdichtung an. So ­nehmen Dynamik, Tempo und thematische Intensität kontinuierlich zu und führen zu einem regelrecht bewegten Mittelteil. Erst allmählich glätten sich die Wogen und die träumerische Stimmung des ersten Satzteils kehrt in Erinnerungsschwaden zurück.

Im Finale (Allegro scherzando) vermischt Rachmaninow nicht nur Elemente des Sonatenhauptsatzes und des Rondos, sondern auch verschiedene Stimmungen: Auf eine Scherzando-Episode folgt eine gespenstische Passage, in der nur mehr skeletthafte Klänge zu erkennen sind, dann tritt ein schwärmerisches Thema hervor, das in weiterer Folge des Satzes apotheotisch wiederkehrt. Dazwischen entstehen bizarre Situationen durch rhapsodische Ausflüge aus dem angestammten thematischen Revier und durch nervöse Themen-Imitationen. Auch die Skelettklänge tauchen noch einmal auf. Hier erweist sich Rachmaninow als hervorragender Dramaturg: Die schemenhafte Passage ohne jeden melodischen Ansatz lässt dann das darauf folgende Hauptthema in seiner greifbaren und breit ausge­sungenen Gestalt umso willkommener erscheinen – so klingt Glück, könnte man sagen.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Rainer Lepuschitz