Archiv: Schostakowitsch & Martucci

Wien Musikverein Großer Saal Musikverein | Großer Saal

Interpreten

  • Sergei Dogadin, Violine
  • Riccardo Frizza, Dirigent

Programm

In jüdischer Volksmusik fand Dmitri Schostakowitsch einst seelenverwandte Klänge: Deren Lächeln unter Tränen und in Heiterkeit verwandelter Schmerz passten genau zum Leben im Stalinismus. Das führt auch sein kapitales erstes Violinkonzert aus – mit funkelnder Virtuosität, kapriziösen Grotesken und verordnetem Frohsinn. Sergei Dogadin tritt dabei in die Fußstapfen des Widmungsträgers David Oistrach. Den Anfang aber macht Volksfestjubel nach Noten von Michail Glinka – und zuletzt bricht Dirigent Riccardo Frizza eine Lanze für Giuseppe Martucci und dessen 1895 entstandene, erste Symphonie: eine betörend südländisch gefärbte Variante deutscher Romantik.

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Michail Glinka

Ouvertüre zur Oper «Ruslan und Ludmilla»

Sätze

  • Presto

Dauer

5 Min.

Entstehung

1842

Michail Glinka wuchs die ersten Jahre seines eher knapp bemessenen Lebens in der Obhut seiner Großmutter auf, einer gestrengen, herrischen Dame, deren Wille den Eltern Glinkas Gesetz war. Sie behütete den kränklichen Knaben von allen Seiten, und erst nach ihrem Tod 1810 sollte er langsam mit der Welt der Musik außerhalb von Kirchenglocken und den Melodien der Natur in Berührung kommen. Bald lernte Glinka Geige und Klavier, 1817 schließlich kam er aufs Adelsinstitut nach St. Petersburg. Später trat er in den Staatsdienst ein, in einer möglichst unauffälligen Position; nur so konnte er seiner eigentlichen Passion, der Musik, in ausreichendem Maße nachgehen. Obendrein unternahm er Reisen, und zwar sowohl in die äußeren Regionen des Zarenreiches, als auch in west- und mitteleuropäische Länder, um Musik anderer Kulturen zu studieren, Komponisten kennenzulernen und sich zu bilden. In Italien traf er unter anderem auf Bellini und Donizetti, in Berlin nahm er Unterricht beim bekannten Kontrapunktlehrer Siegfried Wilhelm Dehn.

Zurück in Russland und um unzählige musikalische Eindrücke reicher, brachte er im Jahr 1836 in St. Petersburg seinen Opernerstling «Ein Leben für den Zaren» auf die Bühne. Die Besonderheit dabei: Es war die erste in russischer Sprache geschriebene Oper. Ermutigt vom großen Erfolg begann Glinka bald, sich mit einem weiteren Opernstoff auseinanderzusetzen, der auf Alexander Puschkins phantastisches Versepos «Ruslan und Ludmilla» basieren sollte. Glinka berichtete in seinen Memoiren: «An einem der Abende bei Shukwoski erklärte Puschkin, als er von seinem Poem ‚Ruslan und Ludmilla’ sprach, dass er vieles ändern würde. Ich hätte gern gewusst, welche Änderungen er beabsichtigte, doch sein frühzeitiger Tod (bei einem Duell) verhinderte, dass ich es erfuhr.» Dadurch war der Opernstoff in andere dichterische Hände gelangt, wobei auch der Librettist Valerian Shirkov zwar den Großteil, nicht jedoch die ganze Oper verfasste. Aber nicht nur textlich, auch musikalisch blieb «Ruslan und Ludmilla» lange Zeit Stückwerk: Aufgrund der Länge der Oper kam sie bereits bei der Uraufführung nur mit großen Strichen heraus. Erst zehn Jahre nach Glinkas Tod erklang unter der Leitung Mili Balakirevs das Werk in Prag erstmals komplett. Während Glinka sich bei der Komposition seiner ersten Oper in persönlich gesicherter Position befand, plagten ihn während des «Ruslan» große private Sorgen (Glinka lag im Scheidungskrieg mit seiner Frau), die sich auch auf seine Arbeitsweise auswirkten. Unklare Wohnverhältnisse und fehlende Ruhe machten ein konzentriertes Tagwerk schwierig und so zog sich die Arbeit an der Oper lange dahin: Begonnen 1837, dauerte es bis ins Frühjahr 1842, als Glinka endlich die zu unterschiedlichen Zeiten komponierten Einzelteile zu einem Ganzen verschmelzen konnte. «Im Herbst 1842 begannen die Proben, zuerst in den Sälen und dann auf der Bühne. Es stellte sich heraus, dass man zahlreiche Nummern meiner Oper kürzen musste…» schrieb Glinka in seinen Memoiren. Begonnen hatte er bei der Komposition mit den großen Arien, der eigentliche Beginn der Oper kam erst ganz zuletzt dran: «Ich schrieb die Ouvertüre direkt für das Orchester, oft während der Proben im Zimmer des Regisseurs.» Das hat selbstredend einen gewichtigen Grund: Da er Themen aus der Oper in seiner Ouvertüre verarbeitete, hätte eine umgekehrte Kompositions-Reihenfolge kaum Sinn gehabt. Nun, der Beginn der Oper verlief bei den ersten Aufführungen durchaus positiv: Gerade die Ouvertüre sorgte regelmäßig für Begeisterung; doch schon bei der Uraufführung verließ die Zarenfamilie das Theater frühzeitig. Dass im Finale der Beginn der Ouvertüre wiederkehrt, blieb den hohen Herrschaften damit verborgen; im Hochadel kursierte auch bald die böse Bemerkung des Großfürsten Michail Pawlowitsch, der meinte, straffällig gewordene Offiziere würden anstatt Gefängnis mit einer Vorstellung vom Glinkas neuer Oper bestraft. Nun, wie so oft überdauerte auch dieses Kunstwerk Schelte und Unverständnis seiner Entstehungszeit; Franz Liszt etwa hörte «Ruslan» im Frühjahr 1843 und verarbeitete seine spontane Begeisterung sogleich am Klavier. Die mitreißende Ouvertüre wurde zu einem der populärsten Stücke Glinkas, wenn nicht der ganzen russischen Musik überhaupt.

Darf man der Musik glauben, so ist bereits nach den viereinhalb Minuten klar, dass die Geschichte gut ausgehen wird: Gedrängt und mit einfachen Kunstgriffen versehen, ist die Ouvertüre schlicht aufgebaut. Aus dem unverblümten Aufbrausen des Hauptthemas (D-Dur), Presto und Alla breve, leitet Glinka ebenso rasch in das zweite, lyrische, in Bratschen, Celli und Fagotten (F-Dur) über. Die dramatischen Wendungen der Geschichte zeichnen sich im Mittelteil der Ouvertüre ab. Die Wiederholung der Themen bringt das zweite dann in D-Dur (Glinka kannte die Regeln der «westlichen» Sonatensatzform genau) und streift den Mittelteil nur mehr leicht. Wahrlich bombastisch enden diese knapp fünf Minuten Musik mit einer letzten Bekräftigung des Hauptthemas, dessen Bedeutung erst am Ende der Oper aufgelöst wird, wenn es als Schlusschor wieder erscheint: «Es leben unsere großen Götter! Es lebe unser Vaterland! Es leben Ruslan und seine Prinzessin!»

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Markus Hennerfeind

Dmitri Schostakowitsch

Konzert für Violine und Orchester Nr. 1 a-Moll op. 77

Sätze

  • Nocturno. Moderato

  • Scherzo. Allegro - Poco più mosso

  • Passacaglia. Andante - Cadenza

  • Burlesque. Allegro con brio

Dauer

34 Min.

Entstehung

1947/48

Dmitri Schostakowitsch nimmt in der Musikge­schich­te des 20.Jahrhunderts eine Solitärstellung ein, nicht zuletzt durch seine von ­politischen und kulturpolitischen Repressalien gezeichnete Lebensgeschichte. Sein unsagbar großes Œuvre, stets von allerhöchster ­Qualität und reich an Inspiration, dokumentiert ein­drucks­voll we­sentliche musikgeschichtliche Aspekte der Vor- und Nachkriegszeit. Mit seinen Symphonien und seinen Streich­quartetten schuf er ­Meisterwerke, die klar widerlegen, dass die «al­ten» Formen überholt waren; gleichzeitig sprengte er in ebendiesen Werken praktisch jede bis dahin gültige Norm. Mit seiner Person, seinem Weg als Mensch und Künstler, ist gleichzeitig auch die Geschichte mehrerer kultur­politischer Strömungen der UdSSR verknüpft, die ein Licht auf ­widersprüchliche, irritierende und oft geradezu schockierende ­Sachverhalte werfen und Zeugnis eines er­schreckenden Bei­spiels­ ideologisch erstarrter Willkür abgeben.

Die noch junge Sowjetunion war auf der Suche nach einem künstlerischen Profil – etwas, das eben nicht auf dem Reißbrett konstruiert werden kann. Die Forderung, dass die Kunst volksnah, verständlich und unkompliziert zu sein hatte, führte dazu, dass man zwischen den Gewollten und den Ungewollten scharf trennte und Komponis­ten wie Schostakowitsch öffentlich diffamiert wurden: «Chaos statt Musik» war der Titel eines Artikels in der «Prawda», zu deutsch «Wahrheit», der am 28. Jänner 1936 erschien und mit einigen Komponisten hart ins Gericht ging. Schostakowitsch musste sich neben anderen Kollegen vor den politisch Verantwortlichen rechtfertigen und war damit dem Urteil derer ausgesetzt, die kaum kompetent genug waren, um über den Wert seiner Arbeit befinden zu können. Mit einem öffentlich vorgetragenen Lippenbekenntnis des Komponisten wurde wieder Ruhe hergestellt.

Schon wenige Jahre später war er als Symbolfigur der sowjetischen Widerstandskraft mehr als gern gesehen, als er 1942 in der Uniform eines Feuerwehr­manns für die Propagandafotografen posierte und mit dem Wasserschlauch in der Hand seine brennende Heimatstadt Leningrad rettete, die von deutschen Truppen belagert wurde. Das Sujet des behelmten Dmitri Schostakowitsch schaffte es im Juli 1942 sogar auf die Titelseite des US-amerikanischen «Time» Magazins. Doch die nächste große Welle kulturpolitischer Repres­salien ließ nicht lange auf sich warten. Nach dem Ende des «großen vaterländischen Kriegs» konzentrierte man sich in der UdSSR ­wieder auf die inneren Werte und versuchte im Zuge dieser ­Bestre­bungen, die unliebsamen Irrwege mancher Künstler auf die rechte Bahn zu bringen. 1948 musste Dmitri Schostakowitsch wiederum vor die selbst ernannten Richter treten, um im Anschluss an die Abkanzelung seiner Musik als «volksfremd und formalistisch» erneut ein öffentliches Schuldbekenntnis nebst einem Gelöbnis zur Besserung abzulegen – dass es sich hier um echte Reue handelte, darf bezweifelt werden.

In ebendiese Zeit fällt die Arbeit an seinem ersten Violin­kon­zert, die er im Juli 1947 aufnahm und am 24. März 1948 vollendete. Und auch an der Auffüh­rungs­geschichte des Werkes lassen sich die politischen Drangsalie­run­gen nachzeichnen, unter denen Schosta­kowitsch zu leiden hatte. Der staatliche Musikverlag Moskau, der die Partitur des ersten Violin­kon­zerts 1957 herausgab, verpasste dem Werk die Opuszahl 99, um den Eindruck zu erwecken, dass es sich um eine soeben fertig gestellte Komposition handle. Dass das Konzert bereits neun Jahre zuvor fertig gestellt worden war und die korrekte Opuszahl 77 darüber auch keinen Zweifel lässt, wurde schlicht ignoriert. In einem einleitenden Text, welcher der Partitur vorangestellt ist, heißt es über den Komponisten: «Der Komponist schrieb seine Fehler überwindend [sic!] viele hervorragende inhaltsreiche und ausdrucksvolle Werke.» Anhand dieses Zitates lässt sich mehr als erahnen, womit Schostakowitsch zu kämpfen hatte – ein Kampf, der ihn in unterschiedlicher Härte sein ganzes Leben begleitete.

Sein erstes Violinkonzert widmete er dem Jahrhundert­geiger David Oistrach, der es am 29. Oktober 1955 zum ersten Mal in der Heimat­stadt des Komponisten aufführte. Dabei wurde er von der Leningrader Philharmonie unter Jewgeni Mrawinski begleitet. Zwei Monate danach spielte Oistrach das Konzert erneut, diesmal bei der «westlichen Uraufführung» in der New Yorker Carnegie Hall, wo Dmitri Mitropoulos das New York Philharmonic dirigierte.

Der erste Satz (Nocturne. Moderato) wird von einem Fluss dunkler und subtiler Orchesterfarben getragen und leitet das Werk mit düs­teren Schattierungen ein. Die Solovioline hebt sich mit einem weit ausholenden Thema darüber und vermittelt unmittelbar das Gefühl von Einsamkeit und Beklemmung. Als Kontur sticht mitten im Satz eine dramatische Entwicklung hervor, die sich als Auf­be­geh­ren deuten lässt, jedoch sehr bald wieder der elegisch-traurigen Grund­stimmung weicht. Die Vio­line stellt in dieser Einleitung musikalisches Material vor, das wie aus einer anderen Welt klingt. Und tatsächlich bedient sich Schostakowitsch auch «fremder» musikalischer Elemente, die ihm während der Entstehungszeit durch seinen Schüler Benjamin Fleischmann nahe gebracht worden waren: Die jüdische Volksmusik wurde in diesem ­Le­bens­abschnitt zu einer wertvollen In­spi­­ra­tionsquelle, aus der der Komponist un­zäh­lige Ideen für Themen, rhythmische Strukt­uren und Skalenbildungen schöpfte. Unter dem Einfluss der «antizionistischen» Kampagnen der Staats­­len­kung war an eine Uraufführung in diesen Jahren somit nicht zu denken – hierin liegt auch ein Grund für die sieben­jährige Zeitspanne zwischen Fertig­­stel­lung und Uraufführung.

Im zweiten Satz (Scherzo. Allegro) kommen die neuen musikalischen Ein­flüsse aus der jüdischen Musik besonders stark zum Tragen: scharfkantige Themensplitter durchbohren keck den morbid-tänzerischen Orchesterpart. Insbe­sondere die Blä­ser spielen diese Ideenfetzen oft wieder an das Solo­in­stru­ment zurück; fast gewinnt man den Eindruck, dass die Violine musikalischen Geschossen ausweichen muss. Die wendige Ra­se­rei des Scherzos gewinnt durch aufwändige Doppel­griffe und gehetzte Glissando-Figuren noch mehr an Lebendig­keit. Die Violine wird zeitweise auch vom Gejagten zum Jäger und spielt so manchen musikalischen Streich, dreht dem Or­ches­ter sogar hörbar eine lange Nase – und doch kann der temperamentvolle Satz nicht den Eindruck abschütteln, ein Leiden zu verbergen, das sich nur flüchtig die Maske der Heiterkeit vorhält.

Dem tragisch witzigen Scherzo folgt im dritten Satz eine Passa­caglia (Andante – Cadenza), die die klassische Satztechnik dieser Form heranzieht um auf eigene Art und Weise erweitert und durch­brochen zu werden. Das ständige Fortspinnen einer Idee über einem gleich bleibenden Bass, das wesentliche Merk­mal der Passacaglia, gibt Schostakowitsch Gelegenheit, das weitschweifige Thema des ersten Satzes zu zitieren und das Material zu entwickeln. Die Violine bringt hier Teile des Originalthemas zur Vollblüte und lässt einzelne musikalische Gedanken zu Phantasiegewächsen heranwachsen, die sich schließlich zu einem großen Gemälde einer gequälten Seele zusammenfinden. Diesem Gesamtbild entsteigt dann organisch die Kadenz, in der die Violine noch einmal das gesamte Spektrum des bisher erklungenen Materials auslotet: Dunkelheit und Licht, Aufbe­geh­ren und Unterdrückung, Spott und Häme – sämtliche Gefil­de der bisher erlebten Seelenwanderung werden noch einmal in virtuoser Abgeschiedenheit vorgeführt, bevor die Violine eine Eruption einleitet, die den Beginn des Finales markiert.

Der vierte Satz (Burlesque. Allegro con brio) erinnert sofort an das Scherzo, ist jedoch spürbar weniger verzweifelt. Der Sym­pho­­niker Schostakowitsch bricht hier durch und überträgt dem gesamten Instrumentarium auf der Bühne die Aufgabe, das Werk im großen Stil zu finalisieren. Was vorher manchmal wie ein Gegen­einan­der von Violine und Orchester geklungen hatte, ist hier ein eilig drängendes Miteinander. Der Solopart gibt dabei stets die Richtung vor und scheint einem sichtbaren Ziel zuzustreben. Mit rhythmischen Konturierungen, komplex geführten Orchester­stim­men und  straffer, fast martialischer Organisation spannt der Komponist dabei noch einmal den Bogen über die wichtigsten thematischen Elemente, bis die Violine das Tempo abermals drastisch steigert und das Konzert mit gepeitschten Repetitionen den Schluss­takten zutreibt.

© Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore

Giuseppe Martucci

Symphonie Nr. 1 d-Moll op. 75

Dauer

40 Min.

Giuseppe Verdi war sauer. «Aber in Dreiteufels Namen», schrieb er 1878 an seinen Verleger, «wenn wir in Italien leben, warum machen wir deutsche Kunst?» Er sah Schlimmes kommen: den «Verfall der Oper», den «Untergang unseres Theaters», und den Anstoß dazu hätten «eigentlich die italienischen Konzertgesellschaften» gegeben. Der grassierende Fimmel für die Instrumentalmusik, fand Verdi, bedeute das Ende der italienischen Musik. «Wir können, ich sage sogar wir dürfen nicht wie die Deutschen schreiben und die Deutschen nicht wie wir.»

Giuseppe Martucci hielt dagegen. Der 1856 in Capua geborene Komponist entschied sich klar für die Instrumentalmusik und damit gegen Verdi. Martucci schrieb keine Oper. Und so angesehen er auch war als Dirigent – Opern dirigierte er nicht. Nur bei Richard Wagner machte er eine Ausnahme. 1888 leitete Martucci in Bologna die italienische Erstaufführung von «Tristan und Isolde». Im selben Jahr kam es in Bologna zu einer denkwürdigen Begegnung. Johannes Brahms, der begeisterte Italien-Reisende, war in der Stadt. Giuseppe Martucci bat darum, ihn im Hotel aufsuchen zu dürfen. «Bei seinem Eintritt», so hielt Brahms’ Reisegefährte Josef Viktor Widmann die Szene fest, «tat der junge italienische Musiker vor dem deutschen Meister beinahe einen Fußfall und küßte ihm die Hand, wie sehr sich Brahms auch dagegen wehrte.» Die Peinlichkeit legte sich, als Martucci «in den lebhaftesten Worten» schilderte, «wie er vor einiger Zeit in Neapel die zweite Symphonie von Brahms aufgeführt habe» und dann auf Kammermusikwerke zu sprechen kam, «die er alle auswendig zu kennen schien, indem er einzelne Themen vorsang». Brahms war hingerissen.

Wagner und Brahms als Fixsterne: In Deutschland und Österreich wäre es damals kaum denkbar gewesen, sie gleichermaßen zu verehren – die aufgestachelte musikästhetische Debatte verlangte eine Parteinahme, die in Italien nicht notwendig war, gehörten doch aus der Sicht des gesangsverliebten Südens beide zum «Sinfonismo», einer stilistischen Strömung, die auf inhaltliche Aussagen im Instrumentalen, Symphonischen fokussiert ist. Martucci suchte als Komponist die Bewährung in genau diesem Feld. Hochmotiviert, mit großer Könnerschaft und Konsequenz verfolgte er seinen Weg gegen alle klischeehaften Widerstände. In Italien wurde er so zu einem Pionier der arrivierten Symphonik, der Schriftsteller und Komponist Arrigo Boito pries ihn als «sommo sinfonista italiano», den «obersten italienischen Symphoniker». Seine erste Symphonie, die 1895 fertig und uraufgeführt wurde, nannte Martucci selbst das Resultat von «sieben Jahren Schufterei». Ähnlich ging es bekanntlich Johannes Brahms, der seine erste Symphonie nach einer Inkubationszeit von 14 Jahren vorlegte. Hier wie dort zeigte sich der Anspruch, der mit der «Symphonie nach Beethoven» verbunden war: Gipfel und Summe einer dialektisch-sinnreichen und zugleich sinnlichen Kunst zu sein.

Den Weg zur Symphonie hatte sich Martucci als Komponist anspruchsvoller Klavier- und Kammermusikwerke gebahnt. Das Klavier war überhaupt sein Instrument. Schon in jungen Jahren startete er, von Größen wie Franz Liszt gepriesen, eine internationale Pianistenkarriere – und das mit einem beachtlich weiten Repertoire, das er dann auch als Dirigent anstrebte. Vor diesem Hintergrund sollte man auch den Symphoniker Martucci betrachten. Verfehlt wäre es jedenfalls, ihn bloß im Bann von Brahms oder im Dunstkreis Wagners zu suchen. Wenn schon, dann wären die Koordinaten, ihn zu orten, noch viel reicher anzusetzen – mit Namen wie Robert Schumann, Antonín Dvorák, Pjotr Iljitsch Tschaikowski … Doch halt! Wäre nicht genau das wieder ein Ausdruck des Vorurteils? Die Unterstellung, ein Italiener könne eine Symphonie eben nur dann schreiben, wenn sie klinge wie X, Y oder Z …? Martuccis Musik ist zweifellos stark genug, um ohne lauschendes Lauern auf Reminiszenzen gehört und erlebt zu werden.

Die dramatisch-dunkle Sphäre von d-Moll bereitet den Raum für einen unmittelbar packenden, stürmischen Beginn. Auch wenn die Stimmen dann lyrisch zu singen beginnen, bleibt der nervöse Puls spürbar. Ein fesselnder Drive prägt diesen ersten Satz: Musik aus einem Guss, denn auch die Themen sind eng aufeinander bezogen. Souverän versagt sich Martucci den naheliegenden Effekt, den Satz in ein affirmatives Finale zu jagen – er endet spannungsvoll im Piano. Aus ihm hebt sich das Andante als feines poetisches Tableau, beginnend mit einem kantablen, fast konzertanten Cello-Solo, das vom Orchester zart weitergeführt wird. In großem Bogen, gleichsam auf einem Atem, durchläuft der Satz auch dunklere Gefilde, um sich zum Schluss hin wieder sanft aufzuhellen. Elegante Gestik dann im Allegretto – doch ist der Nonchalance zu trauen? Für Momente schieben sich dunkle Wolken vor die bukolische Szenerie. Und dann bricht wie mit einem Gewitterschlag der Finalsatz an. Der zu erwartende Sturm aber bleibt aus – die Spannung steigert sich weiter im enggeführten Stimmgefüge, bevor Hörner und Trompeten schmetternd zum finalen Brio blasen. Festlich-fester Ton, durchwirkt von filigranem, drängendem Figurenspiel – doch statt aus dieser Bewegung direkt den Schwung für einen applaustreibenden Schluss zu holen, überrascht Martucci mit einem weiteren Coup: Nochmals lenkt er in lyrische Regionen und erreicht eine Insel der Intimität. Geradezu keck, mit einem Augenzwinkern, steuert er von dort aus die Stretta an.

Ein bemerkenswertes Werk, das viel zu wenig bekannt geworden ist, obwohl sich einst Arturo Toscanini für Martucci einsetzte. In Wien waren es nur Victor de Sabata und Riccardo Muti, die im Musikverein Orchesterwerke von Giuseppe Martucci ins Programm nahmen – nie aber die erste Symphonie. Wenn nicht alles täuscht, handelt es sich hier und heute um eine längst fällige Erstaufführung. Große italienische Musik, abseits von Verdi.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Joachim Reiber