Benjamin Britten

Konzert für Violine und Orchester d-Moll op. 15

Sätze

  • Moderato con moto -

  • Vivace -

  • Passacaglia. Andante lento

Dauer

31 Min.

Entstehung

1939, rev. 1954/65

Benjamin Britten war 25 Jahre alt, als der spanische Bürgerkrieg im April 1939 mit einem Sieg des faschistisch unterstützten Franco endete. Dieser Ausgang – und der gesamte vorangegangene Krieg – war eine Katastrophe für die politische Kultur in Europa und lediglich ein Vorbote auf den großen Weltkrieg, der wenige Monate später losbrechen sollte. Viele Intellektuelle zogen es vor, sich nach einer neuen Heimat umzusehen. Der englische Schriftsteller Wystan Hugh Auden, ein enger Freund Brittens, hatte in England die Vorreiterrolle übernommen und war 1938 nach China gereist, wo er den chinesisch-japanischen Konflikt hautnah mitbekam. 1939 reiste Auden nach Amerika und entschloss sich zu bleiben. Die Distanz zum tobenden Krieg einerseits, die Anonymität und die Loslösung von der «europäischen Literaturfamilie» andererseits, waren die Hauptgründe für diese Entscheidung. Benjamin Britten und Peter Pears folgten im selben Jahr nach und reisten über Kanada in die USA, wo sie im Juni eintrafen. Im Gepäck befand sich auch die Partitur des bereits 1938 begonnenen Violinkonzerts, das somit zum ersten Werk wurde, an dem Britten im amerikanischen Exil arbeitete. Den Sommer 1939 verbrachte er in der Gesellschaft von Aaron Copland, mit dem ihn später eine Freundschaft verband. Nach einigen Monaten im New Yorker Stadtteil Brooklyn zogen Benjamin Britten und Peter Pears nach Amityville auf Long Island. Dort, in der gastfreundlichen Obhut des aus Deutschland ausgewanderten Ehepaars Mayer, konnte Britten in aller Ruhe arbeiten. Die Partitur des Violinkonzerts stellte er am 29. September während eines Besuchs in St. Jovite (Quebec) fertig.

Das Violinkonzert op. 15 ist kein ausuferndes Violinsolo mit Orchesterbegleitung, sondern vielmehr eine formvollendete Zusammenführung zweier musikalischer Entitäten. Dabei wird der virtuose Aspekt des Soloparts aber keineswegs ausgespart. Innerhalb der dreiteiligen Struktur wird der kämpferisch getriebene Mittelsatz von zwei lyrisch gehaltenen Ecksätzen umfasst. Die Grundstimmung des Konzerts ist entschlossen und expressiv.

Der erste Satz (Moderato con moto) eröffnet mit einem Quartenmotiv der Pauke, das von den Becken beantwortet wird. Die Solovioline gewinnt mit einem lyrischen Thema bald die Oberhand, das markante Quartmotiv im Bass bleibt jedoch lange bestehen; eine Beharrlichkeit, die auf die Passacaglia des dritten Satzes vorgreift. Das sangliche erste Thema wird bald von einem rhythmisch prägnanten Motiv konterkariert, das über dem bekannten Quartenbass zu einem rhapsodischen Teil überleitet. Unverwechselbar spanisches Kolorit blitzt hier durch – zweifellos ein Kunstgriff, den Britten dem Spanier Antonio Brosa zueignete, der das Werk uraufführte. Gegen Ende des Kopfsatzes erklingt schließlich wieder das beruhigende erste Thema, das über einem leisen Donnergrollen der Pauke und Pizzicato-Reminiszenzen der Streicher im Flageolett der Solovioline verhallt.

Der zweite Satz (Vivace) ist der virtuose Brennpunkt des Violinkonzerts. In einem übermütigen Totentanz fetzen Irrlichter herum, inmitten derer die Solovioline in Kaskaden von chromatischen Skalen und aberwitzigen Läufen taumelt. Das Trio entspannt die Situation in kirchenmusikalischer Abgeschiedenheit nur ganz wenig, die wahnsinnige Jagd wird durch zwei irr trillernde Piccoloflöten, eine bedrohliche Tuba und tremolierende Streicher fortgesetzt. Schließlich verbeißen sich Orchester und Solopart in einer einzelnen Phrase, einer Umspielung eines Tons, der eine Feder aufzieht. Die freigesetzte Kadenz jagt abermals durch schaurige Bilder in den höchsten Lagen des Soloparts und bleibt schließlich auf einem Ton stehen, den das Orchester mit zögerlichen Schritten aufgreift.

Das schleppende Ende des Mittelsatzes stellt gleichzeitig den Anfang des Finales (Passacaglia. Andante lento) dar. Die tappende Unbeholfenheit der Bässe entpuppt sich als Passacaglia, der sich Benjamin Britten hier erstmals in einer Komposition bedient. Die Passacaglia, ursprünglich ein spanischer Tanz in Variations­form über einer festen Basslinie, wurde von einigen Komponisten des 20. Jahrhunderts (u. a. Schostakowitsch) benützt, um Druck aufzubauen und das Paradoxon zwischen Stillstand und Fortbewegung darzustellen. Der besondere Reiz liegt im insistierenden Fortspinnen einer Idee. Für Britten wurde die Passacaglia ein häufig benütztes Stilmittel, um eine musikalische Idee zu entwickeln, ohne sie ihrer Grundsubstanz zu berauben – somit wurde diese alte Form in ihrer bloßen Definition eine Beschreibung von Brittens Kompositionsstil. Die Posau­nen stellen ein Thema vor, das neun­mal von der Solovioline variiert wird. Daran schließt sich eine pathetische Coda an, die der Solist mit einer Flut von versöhnlichen, klagenden, schmachtenden und gleichzeitig wieder aufreibenden Passagen beantwortet. Das Orchester untermalt mit zarten Akkorden die letzten Takte des Konzerts, das mit einer leeren Quinte der Orchesterstimmen verhallt. Darüber trillert die Solovioline einen im Nichts verhallenden Wechsel zwischen Dur- oder Moll. Der Komponist behält die erweiterte und letztlich nicht feststellbare Tonalität bis zur letzten Note bei.

Benjamin Britten fand, sein Violinkonzert sei «zweifellos mein bestes Stück. Es ist recht ernst geworden, fürchte ich.» Die Uraufführung fand in New York am 28. März 1940 mit dem New York Philharmonic Orchestra unter Sir John Barbirolli statt, Solist war der bereits erwähnte Antonio Brosa. Das von Jascha Heifetz für «unspielbar» erklärte Konzert arbeitete Benjamin Britten 1950 um. Für viele Virtuosen gehört es zu den größten und schönsten Herausforderungen im gesamten Repertoire für Violine. Es ist ganz zweifellos eines der beeindruckendsten Instrumentalwerke aus Brittens Feder, das seinen Weg viel zu selten in den Konzertsaal findet.

© NÖ Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Alexander Moore

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