Johannes Brahms

Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73

Sätze

  • Allegro non troppo

  • Adagio non troppo

  • Allegretto grazioso (Quasi Andantino)

  • Allegro con spirito

Dauer

42 Min.

Entstehung

1877

Johannes Brahms hatte sich über einen Zeitraum von nicht weniger als fünfzehn Jahren mit seiner Symphonie Nr. 1 c-moll beschäftigt und wohl auch buchstäblich mit ihr gequält. Das hing nicht zuletzt mit der enthusiastischen Fürsprache zusammen, die dem jungen Komponisten von Robert Schumann zuteil geworden war. «Ich dachte», schrieb Schumann in seinem berühmten Aufsatz «Neue Bahnen» in der Neuen Zeitschrift für Musik vom 28. Oktober 1853, «es würde und müsse […] einmal plötzlich einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion entspränge. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazie und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms». Dadurch stand der erst zwanzigjährige Jüngling gleichsam über Nacht im Rampenlicht, fühlte enormen Druck auf sich lasten, wurde von Versagensängsten geplagt, vernichtete etliche Werke und blieb zeit seines Lebens extrem selbstkritisch – die Schattenseiten dieses frühen Ruhmes.

Gerade die Symphonie nach Beethoven empfand Brahms als eine der denkbar größten Herausforderungen, wie die langwierige Entstehungsgeschichte der eingangs erwähnten Ersten belegt, die seine kompositorischen Kräfte (mit Unterbrechungen) von 1862 bis 1876 in Anspruch nehmen sollte, also bis hinein in sein 44. Lebensjahr. Deshalb mag es erstaunen, dass die Symphonie Nr. 2 bereits 1877 und innerhalb weniger Monate zu Papier gebracht werden konnte. Doch hatte Brahms den Sommer in Pörtschach am Wörth­ersee verbracht, wodurch seine musikalische Phantasie offenbar in besonderem Maße angeregt worden war. «Hier – ja hier ist es allerliebst, See, Wald, drüber blauer Berge Bogen, schimmernd weiß in reinem Schnee’», schrieb er seinem Freund Theodor Billroth, ein Gedicht von Karl Simrock zitierend, das er vier Jahre zuvor im Rahmen der Acht Lieder und Gesänge op. 59 vertont hatte. Und nachdem die gedankliche Arbeit an dem neuen Werk rasche Fortschritte gemacht hatte, verriet Brahms dem befreundeten Kritiker Eduard Hanslick: «Ich bin Dir von Herzen verbunden, und zum Dank soll’s auch, wenn ich Dir etwa den Winter einer Symphonie vorspielen lasse, so heiter und lieblich klingen, daß Du glaubst, ich habe sie extra für Dich oder gar Deine junge Frau geschrieben! Das ist kein Kunststück, wirst Du sagen, Brahms ist pfiffig, der Wörther See ist ein jungfräulicher Boden, da fliegen die Melodien, daß man [sich] hüten muß, keine zu treten.» Der aus Westpreußen stammende junge Komponist Iwan Knorr, der Brahms damals in der Sommerfrische besuchte, liefert einen anschaulichen Bericht von der heiteren Stimmung des verehrten Kollegen, dem er sich, da er ihm ein Werk zur Ansicht geschickt hatte, mit bangem Respekt näherte: «Ich kam Ende August 1877 gegen sieben Uhr morgens an einem prachtvollen Tage in Pörtschach an. Brahms hatte mir geschrieben, er habe für mich ein Zimmer im Gasthaus Werzer bestellt, er selber wohne im ‚Schloß’, ein Dienstmädchen fragte mich, ob ich der ‚Herr von Knorr’ sei, den der ‚Herr von Brahms’ schon seit einigen Tagen erwarte, und hieß mich dann bei ihm eintreten. Als ich meinte, daß ein Viertel vor acht Uhr morgens doch keine Visitenzeit wäre, erwiderte sie, das mache nichts, ‚Er’ habe längst im See gebadet und Kaffee getrunken, jetzt schreibe er was und pfeife immer dabei. Mir war es zumute, wie bei einem Besuch beim Zahnarzt. Auf einmal stand ich in einem Zimmer einem untersetzten, bartlosen Manne gegenüber, dessen volles Haar an den Schläfen leicht ergraut war. Er gab mir nicht nur die Hand, sondern schlang einen Arm um mich und steckte mir eine Zigarre mit einem kategorischen ‚Rauchen!’ in den Mund. [...] Am andern Tage machten wir uns selbdritt [gemeinsam mit Brahms’ Freund, dem Komponisten und Dirigenten Franz Wüllner, Anm.] auf, um den Dobratsch zu besteigen. Brahms war froh wie ein Kind, trieb die ausgelassensten Späße und neckte mich, den er immer seinen Benjamin nannte, wo er nur konnte, in liebenswürdigster Weise.»

Die Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 73 ist gewiss die lyrischste unter den Brahms-Symphonien. Der Brahms-Biograph Siegfried Kross konstatiert für alle in den drei Pörtschacher Sommern entstandenen Kompositionen, darunter auch das Violinkonzert D-Dur, «ein eigenartiges Flair des Hellen, Lichten, Melodiösen, das man anderswo in seinem Werk sonst nicht wiederfindet» und bekräftigt die oft geäußerte Ansicht, bei der D-Dur-Symphonie handle es sich gleichsam um Brahmsens «Pastorale». Diese Ansicht scheint auch bestens zu den von Knorr geschilderten heiteren Szenen zu passen. Und die Kritiken der höchst erfolgreichen Uraufführung am 30. Dezember 1877 mit den Wiener Philharmonikern unter Hans Richter schlugen in die selbe Kerbe, rühmten die «sonnige Klarheit», den «lieblichen, heiteren Pastoralton» und die «freundliche, liebenswürdige Idylle» des Werks, zu dem der Meister nun gefunden habe und sich, wie Hanslick schrieb, nach dem «Pathos faustischer Seelenkämpfe» in der vorangegangenen Symphonie nun der «frühlingsblühenden Erde wieder zuwandte». Dennoch kennt die hier ausgebreitete Idylle auch dunkle Schatten, die jedoch anders als in Beethovens «Pastorale» nicht in einem einzelnen Gewitter-Satz kulminieren, sondern sich über das ganze Werk ausbreiten, die sonnige Heiterkeit immer wieder relativieren und umdüstern. Freilich war es stets Brahmsens Gewohnheit, in selbstironischer Manier von seinen gerade entstehenden Werken zu sprechen und die Erwartungen der Freunde in die Irre zu führen. Aber mit welcher Beharrlichkeit er die an der Oberfläche doch so unbeschwert-heitere Zweite in Briefen als Zeugnis trüber Bekümmernis ankündigt, ist doch auffällig. «Die neue Sinfonie ist so melancholisch, daß Sie es nicht aushalten. Ich habe noch nie so etwas Trauriges, Molliges geschrieben: die Partitur muß mit Trauerrand erscheinen», schrieb er an seinen Verleger Simrock und gab gegenüber Clara Schumann vor, die Musik sei «ganz elegischen Charakters». Vor diesem Hintergrund wirkt die Symphonie eher wie ein «In-Frage-Stellen der pastoralen Welt» (Reinhold Brinkmann), die da so entzückend ausgebreitet scheint.

Das dreiklangsselige Hauptthema der Hörner im Stirnsatz wird bei näherem Hinhören durch den unregelmäßig darin verzahnten Bass zu einer Komplexität geführt, die alle ländliche Einfachheit weit hinter sich lässt. Der Skeptizismus des Komponisten wird auch im gleichsam dumpfen Grollen von Posaunen und Pauken spürbar, und immer wieder verdeutlichen Eintrübungen und harsche Rhythmen, dass hinter der lieblichen Fassade sich Kämpfe zutragen. Elegisch tönt da jedenfalls auch das fis-moll-Seitenthema, welches an Brahms’ Lied «Guten Abend, gut’ Nacht» erinnert. Nominell ist die Zweite die einzige Brahms-Symphonie, in der alle Sätze in Dur stehen – doch auf Schritt und Tritt biegt Brahms das Geschehen in Moll-Gefilde ab, sodass Constantin Floros von einem «nahezu exzessiven Gebrauch des Durmoll» spricht. Das gilt zumal auch für den komplexesten Satz, das Adagio non troppo in Sonatenhauptsatzform mit verknappter Reprise, mit seinen nicht weniger als vier zum Teil kontrapunktisch ineinandergreifenden Themen: Den Tonfall tiefer Wehmut unterbrechen immer wieder dramatische Konflikte, nicht zuletzt in Gestalt erregter Tremoli, scharfer Akzente und fugierter Episoden. Ein Gegengewicht dazu bildet der schon bei der Uraufführung da capo verlangte dritte Satz, Allegretto grazioso (Quasi Andantino), ein gleichsam inverses, fünfteiliges Scherzo mit lieblichen Rahmenteilen im gemächlichen 3/4-Takt und zwei rhythmisch akzentuierten Presto-«Trios» (2/4- und 3/8-Takt) – eine «Art Suite aus verschiedenen Tanzcharakteren» (Siegfried Kross). Das Finale schließlich überhöht mit seinem aus dem ersten Satz abgeleiteten, zunächst leise raunenden Hauptthema klassische Satztypen von Mozart und Haydn mit romantischen Mitteln, die bei Brahms stets auch barocke kontrapunktische Finessen mit einschließen – und steigert sich in der brillanten Coda zu einem der mitreißendsten Höhepunkte der Symphonik seit Beethoven.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Walter Weidringer

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