Dmitri Schostakowitsch

Symphonie Nr. 9 Es-Dur op. 70

Sätze

  • Allegro

  • Moderato

  • Presto

  • Largo

  • Allegretto - Allegro

Dauer

22 Min.

Entstehung

1945

Dmitri Schostakowitsch hinterließ ein weitverzweigtes Œuvre, das an Qualität und Größe zu den herausragenden künstlerischen Schätzen des gesamten 20. Jahrhunderts zählt. Die vielleicht wichtigste Lebensleistung des russischen Komponisten ist aber die gelungene Selbstfindung als Künstler und vor allem in Folge die konsequente Treue zu sich selbst auch unter den widrigsten Umständen – Schostakowitsch machte den Widerstand in verschiedenen Gesichtern zu seinem Alter Ego. Nötig wurde das durch die anfänglich aufreibende und in ihren schlimmsten Ausformungen existenziell bedrohliche Behandlung durch den von Stalin eingesetzten Machtapparat, der auch in künstlerischen Belangen das Sagen hatte. Die ästhetischen Kriterien waren streng, ein Abweichen wurde schnell in ein Liebäugeln mit dem dekadenten Westen uminterpretiert. So mancher Künstler ließ es lieber bleiben oder bezahlte seine «Vergehen» teuer. Und Dmitri Schostakowitsch war da keine Ausnahme: In seinem Fall war es ein, über weite Strecken gesehen, ständiger Wechsel von Gunst und Ungnade, die über dem seinem Haupt ausgegossen wurden.

«Chaos statt Musik» titelte die Tageszeitung «Prawda» im Jänner 1936 und geißelte in einem polemischen Hertzartikel die Oper «Lady Macbeth von Mzensk». Alle Aufführungen wurden abgesagt, Schostakowitsch erfuhr davon auf einer Konzertreise. Die Kritiker stolperten reihenweise über ihre vorher lobenden Rezensionen. In den nächsten Monaten schlief der Komponist nur in Straßenkleidern, unter dem Bett ein gepackter Koffer – er rechnete damit, plötzlich von der Geheimpolizei abgeholt zu werden. Depressionen und Suizidgedanken sollten ihn noch viele Jahre begleiten. Mehrfach zitierte man ihn in die Geheimdienstzentrale Ljubjanka, wo man ihn verhörte und zu angeblichen «Volksfeinden» befragte.

Nur wenige Jahre später sah alles wiederum ganz anders aus, als Schostakowitsch mit seiner Familie im von der deutschen Wehrmacht belagerten Leningrad lebte. Als Künstler und Held des Volkes prangte sein Konterfei in der Uniform eines Feuerwehrmanns auf dem Titelblatt des US-amerikanischen «Time»-Magazins. Mit Stolz verwies die sowjetische Führung auf den unzerstörbaren Siegeswillen der Bürger von Leningrad – die im Entstehen befindliche Symphonie Nr. 7 des Genossen Schostakowitsch war der lebendige Beweis für die Überlegenheit … Auch so konnte es zugehen im Leben des damals 35-jährigen Komponisten. Nach einer dramatischen Rettungsaktion, in der die Familie Schostakowitsch mitsamt der fast fertigen Partitur aus Leningrad ausgeflogen wurden, wurde die «Leningrader» Symphonie als musikalische Gallionsfigur des alliierten Kampfes gegen Hitler gefeiert und auf beiden Seiten des Atlantiks im Rundfunk übertragen.

Es folgte dann die achte Symphonie als insgesamt zweite der drei Kriegssymphonien: ein melancholisches Werk mit düsterem Grundcharakter, einem Gedenken an die zahllosen Opfer des Kriegs. So etwas wollte Stalin in seinem Reich nicht hören, die Symphonie fiel bald der Zensur zum Opfer und wurde nicht mehr aufgeführt. Im Jahr 1945, als der Sieg über das deutsche Reich mit Jubel gefeiert wurde, erwartete man vom großen Komponisten Schostakowitsch eine triumphale Musik, die dem Anlass entsprechend auch das Heldentum der Sowjetunion zum Thema haben sollte. Obendrein war bekannt, dass es im Gesamtwerk von Schostakowitsch die neunte Symphonie werden musste – in Hinblick auf Beethoven standen die Sterne also mehr als günstig, ein großes Werk mit Chor aus der Feder des Komponisten zu erhalten.

Im Sommer 1945 zog sich Dmitri Schostakowitsch nach Iwanowo in der Nähe von Moskau zurück. Der sowjetische Komponistenverband stellte hier in der ruhigen Abgeschiedenheit ein Künstlerheim zur Verfügung, wo die Mitglieder in Ruhe und in angenehmer Umgebung arbeiten konnten. Das Kriegsende war das zentrale Thema dieser Monate. Doch während etwa Sergej Prokofjew und Reinhold Glière Oden und Ouvertüren auf den Sieg schrieben, arbeitete Schostakowitsch in aller Ruhe an etwas ganz Anderem. An einem kleinen Tischchen, wie ein Zeuge zu berichten wusste, setzte sich der Komponist Tag für Tag in der Früh für wenige Stunden nieder – und in nur kurzer Zeit entstand die Symphonie Nr. 9. Eine Huldigungsmusik, wie sich alle erwartet hatten, wurde das Werk allerdings nicht, eher im Gegenteil: Das fünfsätzige Werk stellte sowohl in seiner Anlage, seiner relativ kleinen Besetzung und den ganz und gar unheroischen Themen in wenig schmeichelhaften Klanggewändern eher eine Antithese zur Huldigungsmusik dar, wie sie sich Genosse Stalin gewünscht hatte. Obendrein fehlte der erwartete Chor und damit auch die Möglichkeit, in pathetischen Worten von der Größe des Vaterlandes und seiner Führer zu singen. Schostakowitsch legte es (wieder) darauf an, den Mächtigen eine lange Nase zu drehen ...

Die Symphonie Nr. 9 in Es-Dur wurde vom Musikwissenschaftler Frank Reinisch im Jahr 1988 im Vorwort der Partiturausgabe als «eine ‹Symphonie classique› mit Widerhaken» bezeichnet – womit in wenigen Worten das gesamte Werk charakterisiert ist. Obwohl in der heroischen Tonart Es-Dur stehend, verstrahlt das Werk keinen Heldenglanz, sondern vielmehr kecken Übermut, leichten Witz und mitunter beißende Schärfe. Schostakowitsch bediente sich der strengen klassizistischen Form, wie er sie in den frühen dreißiger Jahren gepflegt hatte.

Das eröffnende Allegro ist in der überlieferten Sonatensatzform angelegt, die hier zur Gänze dem Formideal verpflichtet ist – sogar die Exposition wird gemäß der klassischen Schulmeinung wiederholt. Und gerade vor diesem Hintergrund ist die Verwendung mancher Instrumente an prominenter Stelle, wie etwa der derb gespielten Piccoloflöte als Anführerin des Seiten-themas, ein kaum verhohlener Schlag gegen hoch gesteckte Erwartungen. Ironie lässt sich kaum deutlicher darstellen als durch das klassische Ideal im Clownskostüm. Schostakowitsch legt die Durchführung mit der konsequenten Verwendung von Quartenmotiven als Militärmarsch an, dessen groteske Züge unüberhörbar sind. Der Komponist selbst soll während der Proben zur Uraufführung von einer «Zirkusmusik» gesprochen haben.

Der wiegende Dreivierteltakt des zweiten Satzes (Moderato) zeigt sich, trotz weniger dramatischer Einsprengsel, insgesamt verhalten und mysteriös. Schostakowitsch entwickelt zwei klagende Motive in den Holzbläsern, zu denen sich später ein drittes gesellt. Im Gestus einer barocken Sarabande wird eine Trauermusik für die Toten des Kriegs vorgestellt, ein stärkerer Kontrast zur exaltierten Welt der Eröffnung ist kaum vorstellbar.

Der Depression folgt wiederum die Ausgelassenheit: Inmitten des dreiteiligen Scherzo (Presto) wartet Schostakowitsch mit einem gepfefferten Marsch auf, der mit der Todestonart fis-Moll eindeutig erkennen lässt, welch grausige Ereignisse die Symphonie zum Anlass hat. Der Satz geht in düsterer Stimmung nahtlos in das Largo über, das eine kriegerische Fanfare einem berührenden Thema im Solofagott gegenüberstellt. Ein Dialog entwickelt sich, von Anfang an im dynamischen Ungleichgewicht gehalten: Während die Fanfare einheitlich im Fortissimo daherkommt, kann das Fagott mit einer breiteren Palette die Stimmungen ausloten.

Attacca beginnt das Finale (Allegretto), eingeleitet von der Fagottstimme des vorangegangenen Largo. In der Ausgangstonart Es-Dur werden drei Themen vorgestellt, der prominente Marschcharakter der Symphonie ist auch hier vorherrschend. Gegen Ende hin steigert Schostakowitsch die Spannung und greift wieder auf den «zirkushaften» Ton zurück, dem Es-Dur gar nicht zu Gesicht stehen will. In koboldhafter Raserei treibt das musikalische Geschehen einem Ende entgegen, das alles ist – nur kein Sieg.

Mit gerade 25 Minuten Spieldauer insgesamt unterbot Schostakowitsch mit seiner gesamten Neunten den ersten Satz seiner eigenen «Leningrader» Symphonie. Wen mochte es wundern, dass Stalin schäumte und das halbe Land vor den Kopf gestoßen war? Für die Kritik war klar: Der Komponist hatte nicht begriffen, in welch glorreicher Stimmung sich das Land im Augenblick zu befinden hatte! Ein Könner von diesem Rang durfte im Moment des Triumphs nicht als Spötter dastehen. Schostakowitsch kommentierte angeblich später lakonisch: «Ich konnte keine Apotheose auf Stalin schreiben, konnte es einfach nicht.» Und er prophezeite seinem Werk: «Die Musiker werden sie mit Vergnügen spielen, aber die Kritiker werden sie vernichten.»

Am 3. November dirigierte Jewgeni Mrawinski die Leningrader Philharmoniker, die die neunte Symphonie im Rahmen der Saisoneröffnung uraufführten. Das Werk stieß auf Kopfschütteln und Unverständnis, die Kritik sparte nicht mit den von Schostakowitsch selbst vorausgesagten vernichtenden Pamphleten. Am 14. Februar 1948 landete die Symphonie gemeinsam mit weiteren Werken auf der Liste der Stücke mit Aufführungsverbot: Die zweite große Propagandawelle gegen Schostakowitsch hatte begonnen. Er schrieb bis nach dem Tod Stalins 1953 keine weitere Symphonie mehr – die zehnte wurde dann allerdings die große Abrechnung mit dem Diktator.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore

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