Archiv: Japan-Tournee 2018: Sendai

Sendai Electron Hall Miyagi Electron Hall Miyagi

Interpreten

  • Valery Afanassiev, Klavier
  • Yutaka Sado, Dirigent

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Leonard Bernstein

Ouvertüre zur Operette «Candide»

Sätze

  • Allegro molto con brio

Dauer

4 Min.

Entstehung

1956

Leonard Bernsteins Operette «Candide» wurde 1956 uraufgeführt und gehört seither zu den populärsten Bühnenwerken der USA. So wie jede Bühnenproduktion immer Teamwork ist, war auch «Candide» das Ergebnis einer großen Kollaboration – vielleicht sogar der größten des 20. Jahrhunderts. Die Liste der Beitragenden zum Libretto und der Partitur ist nicht enden wollend – eine endgültige Fassung gibt es nicht. Trotz aller Veränderungen und Umstellungen: Bereits die der Suite vorausgehende Ouvertüre zeigt Bernstein «at his best»: Das ungeheure Repertoire des Dirigenten schlägt sich in kleinsten Andeutungen und Beinahe-Zitaten nieder. Wir sehen Tschaikowski Arm in Arm mit Rossini, Brahms, Johann Strauß, Strawinski und  natürlich  George Gershwin. Die hohe Originalität des Komponisten Bernstein lässt aber nicht den leisesten Hauch von Nachahmung zu: Die fanfarenartigen, rhythmisch komplexen Bläserriffs zu Beginn oder die Melodie im schwerelosen 7er-Rhythmus sind unvergleichlich.

Bernstein hatte – wie viele andere Künstler im Laufe der Geschichte – Assistenten, Herausgeber und Archivare, die ihm hilfreich zur Seite standen. Seit den 1980er Jahren  begleitete ihn in diesen Funktionen Charlie Harmon, der sich nach Bernsteins Tod an die Herausgabe einer kritischen Gesamtausgabe machte. Als Bernstein 1989 für die Aufführung von «Candide» Vorbereitungen traf, destillierte Harmon unter den wachsamen Augen des Komponisten eine Suite aus der Operette. Die Uraufführung dieses Arrangements fand dann erst 1999 statt.

Die Geschichte um die Entstehung von «Candide» ist mindestens so interessant wie das Werk selbst: Um 1760 rief Voltaires Roman «Candide ou l´Optimisme» Europas Zensoren von Paris bis zum Vatikan auf den Plan. Voltaires Satire erfuhr im Libretto von Lilian Hellman gewaltige Richtungsänderungen, die Operette selbst wurde nach dem Misserfolg der ersten Serie 1956 immer wieder umgearbeitet, bis letztlich ein einaktiges Musical mit neuen Gesangstexten und neuer Orchestrierung vorlag, das 1973 im Chelsea Theatre in Brooklyn und dann am Broadway lief. Ähnlich wie Bennetts «Gershwin in Hollywood» ist auch Charlie Harmons Suite zu «Candide» eine Folge von Bernstein-Melodien, die mit großem handwerklichen Geschick zusammengefügt wurden.

© NÖ Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Albert Hosp

Ludwig van Beethoven

Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 68 «Pastorale»

Sätze

  • Angenehme, heitere Empfindungen, welche bei der Ankunft auf dem Lande im Menschen erwachen. Allegro ma non troppo

  • Szene am Bach. Andante molto moto

  • Lustiges Zusammensein der Landleute. Allegro -

  • Donner. Sturm. Allegro -

  • Hirtengesang. Wohltätige, mit Dank an die Gottheit verbundene Gefühle nach dem Sturm. Allegretto

Dauer

43 Min.

Entstehung

1807/08

Ludwig van Beethoven suchte und fand bei öffentlichen Auseinandersetzungen wie privaten Problemen immer Zuflucht in der Natur. In der Zurückgezogenheit und Abgeschiedenheit, fern von der Gesellschaft und den Menschen, machte ihm zudem die zunehmende Erkrankung des Gehörs nicht so zu schaffen. «Wie froh bin ich, einmal in Gebüschen, Wäldern, unter Bäumen, Kräutern, Felsen wandeln zu können, kein Mensch kann das Land so lieben wie ich. Geben doch Wälder, Bäume, Felsen den Widerhall, den der Mensch wünscht!» ... «Mein Dekret: nur im Lande bleiben. Mein unglückseliges Gehör plagt mich hier nicht. Ist es doch, als ob jeder Baum zu mir spräche auf dem Lande: heilig, heilig!» Die Bäume, die Blumen, die Farben, die Sonnenstrahlen – sie schienen Beethoven, wie er in Aufzeichnungen und Briefen vermerkte, zu verstehen. Und wie gut er sie verstand, davon legt nicht zuletzt seine «Pastorale» ein wunderschönes Zeugnis ab.

Die Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 68 ist keineswegs eine Beschreibung der Natur – sie ist eine Besprechung mit der Natur, ein Dialog des Menschen mit ihr. «Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei» hatte Beethoven ausdrücklich zu diesem Werk erklärt. Das emotionale, expressive Element also ist entscheidend, nicht das deskriptive. Es werden musikalisch Stimmungen hervorgerufen, die der Mensch in der Natur und im Leben empfindet. Beethoven dringt als Komponist, so wie als Mensch, ein in die Natur, in den Wald, in die Wiesen, in die Lichtspiele, in die Farbenwelt – und gibt wieder, was er spürt und fühlt.

«Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande» steht über dem ersten Satz. Hier streift ein Mensch durch die Natur, einsam, aber erfüllt von den Eindrücken. Immer wieder klopft der Pulsschlag in der organisch sich wiederholenden, anwachsenden und abebbenden Melodie, irgendwann in der Durchführung ergreift er ganz von ihr Besitz und verwandelt sie in puren Rhythmus. Crescendo poco a poco.Später, im dritten Satz, treten dann mehrere Menschen in Erscheinung. Die Bauern stampfen und drehen sich zu den Klängen eines Deutschen Tanzes, der zur Entstehungszeit der Symphonie als Vergnügung der sozial eher unteren Gesellschaftsschichten galt. Lustiges Zusammensein der Landsleute. Allegro. Und die Spielleut’ (Oboen und Klarinetten) treiben dazu ihre Späße mit Abweichungen von Grundrhythmus und Melodie.

Dazwischen aber, in der «Szene am Bach» im zweiten Satz, und danach, im «Gewitter» des vierten Satzes, tanzt die Natur selbst: Der Bach sprudelt, die Vögel tirilieren, der Donner stampft, der Regen prasselt, die Blitze zucken. Da ist der Mensch Beobachter der Idylle und später der Kapriolen der Natur. Das Staunen über deren Wunder und Erschütterungen kommt in diesen beiden Sätzen zum Ausdruck. Im zweiten Satz klingt in den Violinen die berühmt gewordene Kadenz der Vögel (Nachtigall, Wachtel und Kuckuck, wie in der Partitur ausdrücklich vermerkt) noch einmal nach – der Mensch nimmt den Gesang der Tiere in sich auf und als Stimmung wahr. Im vierten Satz, wenn das Gewitter abklingt, taucht aus den Wolken der Musik ein Choral auf: Der Mensch findet im Glauben Zuversicht. Heilig, heilig.

So wie in ihrer fast zeitgleich entstandenen und mit ihr gemeinsam in einer gigantischen, vierstündigen Akademie Beethovens im Dezember 1808 im Theater an der Wien uraufgeführten c-moll-Symphonie Nr. 5, ist auch die «Pastorale» auf das Finale hin konzipiert. Doch nicht in der Überwindung des Dunklen, nicht im Sieghaften, wie in der Fünften, wird der Schlusssatz zum erfüllenden Ziel des Werkes, sondern im friedlichen, kontemplativen Tonfall. Es ist ein stiller Jubel und inniger Hymnus, in dem der Mensch den Einklang mit der Natur findet. Frohe und dankbare Gefühle.

Auch der Aufbau und die thematische Gestaltung der «Pastorale» erscheinen naturhaft entstanden. Die großen melodischen, harmonischen und rhythmischen Gestalten wachsen aus kleinsten Motivteilen zu einem wundersamen musikalischen Leben zusammen. Durch den gesamten ersten Satz zieht sich ein feines Geflecht von Motivteilen, die alle aufeinander bezogen sind und damit zu einem organischen Ganzen werden. Bereits im zweiten Takt des Hauptthemas ist der Rhythmus verankert, aus dem dann die großen Bewegungen des Satzes entstehen.

Auch wenn die grundlegende Arbeit an der «Pastorale» wohl erst im Jahre 1807 begann, so reichen die ersten Ideen und Entwürfe weiter zurück. In einem Skizzenbuch Beethovens, das er in den Jahren 1802 und 1803 verwendete, kann man die Begleitfigur des langsamen Satzes und dazu die Bemerkung «Murmeln des Baches» finden. Anregungen zu einem «pastoralen» Werk empfing Beethoven zweifellos aus den beiden Oratorien «Die Schöpfung» und «Die Jahreszeiten» von Joseph Haydn, die um die Jahrhundertwende in Wien uraufgeführt worden waren.

Freilich gab sich Beethoven nicht mit einer drastischen Naturschilderung zufrieden, sondern verlagerte das Geschehen eben in den Bereich der «Empfindung» und der absoluten symphonischen Musik. Selbst der einzig wirklich «tonmalerische» Moment mit den Vogelstimmen wird in den Bereich der abstrakten Musik übertragen, wenn der Kuckuck, der in der Natur in der kleinen Terz singt, bei Beethoven von der Klarinette mit der großen Terz stilisiert wird. Im «Gewitter»-Satz verzichtet Beethoven dann überhaupt auf konkrete Themen und bestreitet das dramatische Geschehen mit Motivpartikeln, Tonskalen, Dreiklängen und Klangeffekten wie Tremoli, Paukenwirbel und extrem hohen Einsätzen der Pikkoloflöte. Zu hören sind nicht die Donnerschläge und Sturmböen selbst, sondern die erschreckende Wirkung auf den Menschen. Auch das erleichterte Gefühl, das man verspürt, wenn sich ein Gewitter wieder verzieht, hat Beethoven eindringlich in Töne gesetzt.

Zum ersten und einzigen Mal legte Beethoven in der «Pastorale» eine Symphonie fünfsätzig an, zudem gehen der dritte, vierte und fünfte Satz ohne Unterbrechung ineinander über. Diese direkte Verbindung von Sätzen wandte Beethoven allerdings auch in der zeitgleich entstandenen c-moll-Symphonie an, in der das Finale auch direkt aus dem Scherzo hervorgeht. In der «Pastorale» kommt noch – als Einschub – der «Gewitter»-Satz dazwischen, der aber gleichzeitig auch an die Stelle des Schlussteils des vorangehenden Tanzsatzes tritt. Denn üblicherweise ordnete Beethoven seine Scherzosätze in fünf Teilen an, doch in der «Pastorale» fehlt der fünfte Teil, statt dessen braut sich der Sturm zusammen, ehe sich das Donnerwetter mit aller Gewalt entlädt.Der Wetterbericht für das Finale: Heiter. Der «Hirtengesang» ist ein «Rundgesang», ein Rondo, in dem das beschauliche und gleichermaßen befreiende Hauptthema durch verschiedene Regionen wandert, unterbrochen von volkstümlichen Couplets. Schalmeienklänge und Hornrufe lassen keinen Zweifel an der naturhaften Umgebung.

© NÖ Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Rainer Lepuschitz

Dmitri Schostakowitsch

Symphonie Nr. 5 d-Moll op. 47

Sätze

  • Moderato

  • Allegretto

  • Largo - Largamente

  • Allegro non troppo - Allegro - Più mosso - Poco animato

Dauer

45 Min.

Entstehung

1937

Dmitri Schostakowitschs Symphonie Nr. 5 d-moll op. 47 entstand in einer Zeit und in einem Land, als Komponieren tatsächlich eine Angelegenheit auf Leben und Tod war. Schostakowitsch brachte die Hälfte seines schöpferischen Lebens während der Regentschaft Stalins zu. Das Drama der Künstler in der Sowjetunion bestand damals darin, dass Stalin ein persönliches Interesse an der Kunst hegte. Er las viel Literatur, er hörte gerne klassische Musik, vor allem von Tschaikowski und Rimski-Korsakow, er schaute sich gerne Filme an und er beobachtete kritisch die Bildende Kunst. Kunst diente zur Zeit Stalins in extremem Maße als Werkzeug der Politik. Schostakowitsch schaffte just in jener Zeit den Durchbruch als Komponist und Künstler, in der Stalin sein diktatorisches Regime aufbaute, und als alles im Staate den ideologischen Richtlinien untergeordnet wurde. Der 30jährige Schostakowitsch erlebte landesweite und auch schon internationale Erfolge seiner Musik. Seine Oper «Lady Macbeth von Mzensk» wurde sowohl in Leningrad als auch in Moskau an den beiden großen Opernbühnen erfolgreich gespielt. Auch die offiziellen Medien erkannten Schostakowitschs Werk als großartigste russische Oper seit «Boris Godunow» an. Seine ersten Symphonien wurden begeistert akklamiert, und am Bolschoitheater befand sich außerdem seine volkstümliche Ballettkomödie «Der helle Bach» im Repertoire, die so wie seine Oper stets vor vollem Hause gezeigt wurde.

«Lady Macbeth von Mzensk» befand sich bereits fast zwei Jahre auf den Spielplänen, als Anfang des Jahres 1936 auch Stalin persönlich eine Aufführung besuchte. Sein wichtigstes kulturpolitisches Anliegen war es damals, für die vielen im Rahmen des Industrialisierungsprogramms vom Land in die Städte ziehenden Bauern ein verständliches Kunstleben bereit zu halten, das von «Einfachheit und Volkstümlichkeit» geprägt war. In diesen Slogan ließ sich aber Schostakowitschs Oper nicht einordnen, die das tragische Schicksal einer vom Patriarchat gedemütigten Frau zeigt, die mithilfe ihres Liebhabers ihren despotischen Mann beseitigt und schließlich in ein Straflager nach Sibirien verbannt wird. Sowohl die erotische Komponente als auch sozialkritische Elemente wurden von Schostakowitsch mit einer unverblümten Energie und mit drastischen Mitteln auskomponiert. Satirischer Schwung ist ebenso enthalten in dieser Musik wie schmerzensvolle, ergreifende Kantilenen.

«Chaos statt Musik»Stalin war offenbar entsetzt von der Oper – und nur zwei Tage nach seinem Opernbesuch erschien in der «Prawda», der landesweit wichtigsten Zeitung, eine Aburteilung des Werkes und seines Komponisten unter dem Titel «Chaos statt Musik». Der Artikel erschien ohne Nennung eines Autors, ein untrüglicher Hinweis, dass er auf höchste Order Stalins verfasst wurde und dessen Meinung transportiert. Die Kritik hat eine eindeutige Richtung: «Von der ersten Minute an verblüfft den Hörer in dieser Oper die betont disharmonische, chaotische Flut von Tönen. Bruchstücke, Keime einer musikalischen Phrase versinken, reißen sich los und tauchen erneut unter im Gepolter, Geprassel und Gekreisch. Dieser Musik zu folgen ist schwer, sie sich einzuprägen, unmöglich. Sie ächzt und stöhnt, keucht und gerät außer Atem, um die Liebesszenen so naturalistisch wie möglich darzustellen. Die Fähigkeit guter Musik, die Massen mitzureißen, wird kleinbürgerlichen formalistischen Anstrengungen und Verkrampfungen geopfert. Diese absichtlich verdrehte Musik ist so beschaffen, dass in ihr nichts mehr an die klassische Opernmusik erinnert und sie mit symphonischen Klängen, mit der einfachen, allgemeinverständlichen Sprache der Musik nichts mehr gemein hat. Das ist linksradikale Zügellosigkeit anstelle einer natürlichen, menschlichen Musik. Die Gefahr einer solchen Richtung in der Sowjetmusik liegt klar auf der Hand. Linksradikale Abnormitäten in der Oper haben den gleichen Ursprung wie die linksradikale Entartung in der Malerei, der Dichtung, der Pädagogik und der Wissenschaft.» Besonders auffällig in diesem Artikel ist der Vorwurf des Formalismus und Naturalismus. Das sind jene zwei vernichtenden Wörter, mit der damals in der Sowjetunion von offizieller Seite jede unliebsame Kunst in Misskredit gebracht wurde.

Schostakowitsch bekam diesen Artikel bei einem Gastspiel in Archangelsk zu lesen. Und er wusste sofort, was der Text bedeutete: Er war als Volksfeind abgestempelt. Nur wenige Tage später wurde Schostakowitsch erneut zur Zielscheibe einer massiven Kritik an seiner Musik in der Prawda. Unter dem Titel «Heuchelei als Ballett» wurde auch das im Bolschoi aufgeführte Ballett «Der helle Bach» vernichtend besprochen. Eine Woche später fasste die Prawda ihre Kritik an Schostakowitsch und seinen beiden Werken noch einmal in einem Artikel zum Thema «Eine klare und einfache Sprache in der Kunst» zusammen: «Beide Werke sind gleichweit von der klaren, einfachen und wahren Sprache entfernt, welcher sich die sowjetische Kunst befleißigen muss. Beide Werke behandeln die Volkskunst mit Geringschätzung.»

Bereits einige Tage vor diesem dritten Artikel wurde der Komponist vom Vorsitzenden des Komitees für Kunstangelegenheiten, Platon Kerschenzew, zu ei-nem Gespräch geladen. Kerschenzew hatte dem Künstler mitzuteilen, was Stalin von ihm verlangte. Schostakowitsch bekam in diesem Gespräch, von dem ein Protokoll existiert, zu hören, dass er in Hinkunft, bevor er eine Oper oder ein Ballett komponiere, das Libretto vorlegen müsse und dass einzelne Teile des Werkes vor einem Publikum aus Arbeitern und Bauern erprobt werde. Des Weiteren sollte Schostakowitsch in die Dörfer der Sowjetunion reisen, die Volkslieder aufzeichnen und die besten von ihnen in Bearbeitungen herausgeben. Schließlich wurde Schostakowitsch gefragt, ob er die in den Prawda-Artikeln geäußerte Kritik annehme. Angeblich hat er damals geantwortet, er würde die Kritik in der Prawda akzeptieren, aber nicht alles verstehen. Er hat sich also irgendwo gefügt.

Man muss sich die Situation vergegenwärtigen. Schostakowitsch befand sich in einem Ausnahmezustand. Rund um ihn wurden Künstler, Verwandte und Freunde als Staatsfeinde und Spione deportiert, viele von ihnen hingerichtet. Seine Frau Nina war im sechsten Monat schwanger. Er hatte Angst um sein und seiner Angehörigen Leben.Zwischen Schlager-Musik und Avantgarde Schostakowitsch blieb von Stalins Säuberungswelle und Vernichtungsmaschinerie verschont. Was den Ausschlag dafür gab, kann man nur vermuten. Stalin wusste um die außergewöhnliche Begabung des jungen Komponisten, den man zu Propagandazwecken gut gebrauchen konnte (was dann Jahre später während des Krieges gegen Nazi-Deutschland auch geschah). Schostakowitsch hatte den Diktator offenbar vor allem mit seinen Filmmusiken, die er nicht zuletzt zu einigen offiziell abgesegneten und anerkannten Filmen verfasst hatte, überzeugt. Bei einer Filmvorführung wenige Tage nach Erscheinen des Prawda-Artikels «Chaos statt Musik» wurde Stalin laut dem Protokoll eines Mitarbeiters darauf hingewiesen, dass Schostakowitsch auch der Komponist des Liedes «Dem kühlen Morgen entgegen» in dem Film «Der Gegenplan» sei. Dieses Lied war damals ein echter Schlager in der Sowjetunion, den jeder auf der Straße pfeifen konnte – und den auch Stalin selbst gern hatte.

In seinem Komponierzimmer war Schostakowitsch damals allerdings nicht mit einem weiteren Schlagerlied beschäftigt, sondern mit dem Revolutionärsten, Kühnsten und Modernsten, was man sich nur denken kann: der vierten Symphonie. Eine gigantische, tragische dreisätzige Symphonie, die an die Grenzen der Tonalität stößt und eine eindeutige Botschaft in sich trägt: Auflehnung gegen diktatorische Unterdrückung. Sie in dieser kritischen Phase zu veröffentlichen und uraufführen zu lassen, wäre wohl einem Todesurteil gleichgekommen. Nach einer ersten, chaotisch verlaufenden Durchspielprobe zog Schostakowitsch die Symphonie zurück; sie wurde erst drei Jahrzehnte später, Anfang der Sechzigerjahre, uraufgeführt.

Im Frühjahr 1937 arbeitete er während eines Komponieraufenthaltes auf der Insel Krim aber bereits an seiner nächsten Symphonie, der fünften. Er wusste: Er durfte die politische Führung nicht mehr reizen, man erwartete von ihm eine verständliche Musik mit einer eindeutigen Botschaft: Durch die Kämpfe des Lebens zum Sieg!Verriet er mit der neuen, der fünften Symphonie seine künstlerischen Ideale, stellte er seine kompositorischen Ansprüche hintan und verfasste eine eingängige Musik im Propagandastil der Zeit?

Keineswegs. Er hat sich in der Fünften nur für eine relativ überschaubare Konzeption entschieden, mit vier Sätzen im klassischen Sinn und klar fassbaren Themen, und sich gegenüber den vorangegangenen Werken in den harmonischen Ausreizungen zurückgehalten. Die sowjetischen Kritiker reagierten nach Wunsch auf dieses Konzept und schilderten die Dramaturgie des Werkes nach den ersten Aufführungen in Leningrad und Moskau mit einem übereinstimmenden Programm:

Erster Satz: Heroische Tragödie. Zweiter Satz: Scherzo: Ausdruck gesunder Lebensfreude. Dritter Satz: Meditation. Vierter Satz: Erringen des Sieges.Der sowjetische Dichter Alexej Tolstoi, der für sein Naheverhältnis zu Stalin bekannt war, begrüßte die neue Symphonie als «ein Beispiel der realistischen Kunst unserer Ära. Ruhm unserer Ära, dass sie solche Majestät der Klänge und Gedanken mit beiden Händen über die Welt ausschüttet. Ruhm unserem Volk, das solche Künstler hervorbringt.»

Offizielle Lesart und Verborgene Botschaften Schostakowitsch selbst hatte diese offizielle Deutung publizistisch unterstützt, indem er vor der Moskauer Erstaufführung in der Zeitung der Parteileitung, «Wetschernaja Moskwa», einen Artikel veröffentlichte, in dem er die fünfte Symphonie als die «schöpferische Antwort eines sowjetischen Künstlers auf gerechte Kritik» bezeichnete. Und weiter schrieb er: «Thema meiner Symphonie ist das Werden der Persönlichkeit. Gerade den Menschen mit seinem ganzen Erleben sehe ich im Mittelpunkt der Idee dieses Werkes, das seinem Charakter nach vom Anfang bis zum Schluss lyrisch ist.»

Er kommt in diesem Artikel aber auch auf das damals als Kunstform vieldiskutierte Genre der «sowjetischen Tragödie» zu sprechen. Sie habe, so Schostakowitsch, «jedes Recht, zu existieren». Mit einer solchen Aussage konnte auch die politische Führung leben, denn Stalin selbst anerkannte angesichts von einigen seiner Lieblingsfilme wie etwa Sergej Eisensteins «Panzerkreuzer Potemkin» den Begriff der «sowjetischen Tragödie». Für Kunstwerke und Inhalte dieser Art wurde sogar der paradoxe Begriff der «optimistischen Tragödie» geprägt. Damit waren dramatische Stoffe gemeint, in denen Revolutionäre, also Helden der Sowjetunion, tragische Schicksale erleiden, im Kampf für die revolutionäre Idee sterben. Ihr Opfertod wurde als Happy End umgedeutet.

In diesem ideologischen Vakuum konnte Schostakowitsch einen doch ziemlich großen gestalterischen Bogen in seiner Musik spannen. So ist auch seine fünfte Symphonie von starkem expressivem Gehalt und tiefer und tragischer musikalischer Durchdringung geprägt. All das hat Schostakowitsch allein durch seine Musik ausgedrückt und in keiner publizistischen Begleit-Stellungnahme kommentiert. Er konnte sich auch sicher sein, dass die Menschen, die in jener Zeit aus Selbstschutz zur offiziellen Politik schwiegen, die wahren Hintergründe seiner Musik wahrnehmen würden. Der Komponistenkollege Wladimir Schtscherbatschew etwa notierte in privaten Aufzeichnungen, dass die fünfte Symphonie von Schostakowitsch «auf schmerzliche Weise erbittert» sei. Von dem Schriftsteller Alexander Fadejew ist eine Äußerung über das Finale dokumentiert: «Das Ende klingt nicht wie ein Kehraus (und ganz sicher nicht wie ein Triumph oder Sieg), sondern wie eine Strafe oder Rache an jemandem.»

Das Werk enthält einige verborgene und doppeldeutige Botschaften. Ein Beispiel dafür findet sich bereits im ersten Satz. So mündet das dritte Thema in einer aus der Begleitung gewonnenen Flöten-Floskel, die zunächst ganz verspielt und friedlich klingt. Doch im Durchführungsteil des Satzes münzt Schostakowitsch ausgerechnet diese Floskel in eine militante, vom Klavier angestimmte und von der Blech-Schlagwerk-Batterie gestützte Figur um, über der sich dann die Musik in martialischer Wucht ausbreitet. So als wollte der Komponist mit diesen motivischen Umwandlungen sagen: Traue einem friedlich geäußerten Wort nicht, es kann sich sehr schnell in einen Befehl verwandeln. In diesem Befehl, diesen abstoßend-aggressiven Einsätzen der Blechbläser und des Schlagwerks, erkennen wir heute ein musikalisches Thema wieder, das die Hörer der ersten Aufführungen noch nicht kennen konnten: Schostakowitsch hat hier das Triothema aus seiner damals zurückgezogenen vierten Symphonie wieder aufgegriffen. Damit klingt die Verzweiflung über den ungleichen Kampf der Menschen gegen das Totalitäre auch in dieser fünften Symphonie deutlich wieder an.

Im zweiten Satz, dem Scherzo, hören wir Österreicher sofort eine Verwandtschaft zu den Scherzo-Sätzen Gustav Mahlers heraus. Tatsächlich hatte sich Schostakowitsch in jenen Jahren zusammen mit einem Freund, dem Musikwissenschaftler Iwan Sollertinski, intensiv mit der Symphonik Mahlers auseinandergesetzt. Schostakowitschs volkstümlich polternder Ländler, der oft ins Verzerrte und Fratzenhafte umschlägt, erinnert sehr stark an vergleichbare Sätze und Gestaltungsweisen Mahlers, wenngleich der Slawe Schostakowitsch das tänzerische Element im Tonfall und in der Instrumentierung «russisch» färbte. Auch hier sandte Schostakowitsch eine eindeutige Botschaft an seine Mitmenschen in der Sowjetunion aus. Wenn der tänzerische Dreivierteltakt immer wieder in einen unerbittlichen Marschton umkippt, so wird damit zum Ausdruck gebracht, dass sofort eine kontrollierende Macht einschreitet, sobald eine unterhaltsame Stimmung aufkommt.

Der dritte Satz, ein Largo, ist persönliche Bekenntnismusik. Hier  legt Schostakowitsch seinen Gemütszustand offen. Die Agitatoren der vorangegangenen Sätze, Blechbläser und Schlagwerk, schweigen in diesem Satz. Melodien der Violinen und einzelner Holzblasinstrumente ziehen einsame Kreise über einem kargen Klangboden der Begleitung. Ein Streicherchor führt zu einem erschütternden Ausbruch. Verzweiflung spricht aus diesen vom Xylophon unterstützten Aufschreien. Thematische Verwandtschaften zum ersten Satz und zur «offiziellen» Darstellung der Maifeiern in der dritten Symphonie sind wohl kein Zufall. Hier reflektiert Schostakowitsch – also eine Person des öffentlichen Lebens, mit der sich sogar das Staatsoberhaupt befasst – den Zwiespalt zwischen eigener Meinung und verordneter Ideologie. Die dritte Symphonie war in einer Zeit entstanden, in der unter den Künstlern noch eine gewisse Euphorie über den politischen Aufbruch in der jungen Sowjetunion herrschte. Ein paar Jahre später war Schostakowitsch bereits desillusioniert und schrieb diesen tief tragischen, traurigen, persönlichen Satz.

Als Schostakowitsch im August 1975 starb, weilte Leonard Bernstein bei den Salzburger Festspielen und probte mit dem London Symphony Orchestra. Am Abend des Konzerts führten Bernstein und das Orchester in Gedächtnis an Schostakowitsch das Largo aus der fünften Symphonie auf, das in dieser Situation seine Züge eines Requiems offenbarte. Schostakowitsch gedachte wohl mit dieser Musik den vielen Freunden, die Opfer des Stalin-Regimes wurden.

Nach dieser Trauermusik bricht in der Symphonie das Finale los, das nach der offiziellen Lesart den Durchbruch zum Licht und den Sieg bringt (welchen Sieg auch immer). Doch aus einer anderen Komposition, die Schostakowitsch einige Jahre später schuf, kann man ableiten, was es mit diesem Finalsatz der fünften Symphonie wirklich auf sich hat. 1942, während des Weltkriegs, als Schostakowitsch mit seiner Familie aus der von den Deutschen belagerten Stadt Leningrad nach Kujbyschew weitab vom Kriegsgeschehen evakuiert wurde, beschäftigte er sich dort neben der Fertigstellung seiner siebten Symphonie mit englischen Dichtungen, etwa von dem Schiller-Zeit-genossen Robert Burns, von dem er unter anderem das Gedicht «MacPhersons Abschied» vertonte und in seinen Liederzyklus op. 62 einfließen ließ. In diesem Gedicht wird geschildert, wie der schottische Freibeuter MacPherson seiner Hinrichtung entgegengeht:

«So furchtlos, so trotzig, schritt er dem Galgen entgegen.» Unter  dem Galgen hat MacPherson angeblich noch ein selbstverfasstes Abschiedslied vorgetragen und dann seine Fiedel über dem Knie zerbrochen. Eine makabre Analogie: Der Schwanengesang vor der Hinrichtung. Schostakowitsch widmete MacPherson ein von persönlicher Betroffenheit gezeichnetes, makabres Scherzo. Die Hauptmelodie dieses Liedes ähnelt sehr stark dem Hauptthema des Finales der fünften Symphonie. In dem vermeintlich festlichen Finalmarsch marschieren also offenbar auch verurteilte Freigeister zum Richtplatz.

Unter diesem Gesichtspunkt klingt die triumphierende Trompetenmelodie des Finales, von Jubelgesten der Violinen und anderen Blechbläsern unterstützt, schaurig. Man kann das auch so deuten: Hier applaudieren Ahnungslose der Massenvernichtungsmaschi-nerie, die ein Diktator in Gang gesetzt hat.

Eigentlich zwangsläufig mündet dieser erste Teil des Finales in einen Zusammenbruch und im martialischen Rhythmus aus dem  ersten Satz. Das Finale versinkt daraufhin in einen ruhigen Mittelteil, zieht sich schockstarr zurück. Das Horn spielt das zuvor triumphal von der Trompete geblasene Thema wie einen Bittgesang. Mit Harfenklängen geht diese stille Episode zu Ende. Dann erklingt die Trommel. Vorwärts zum Sieg, zur Apotheose!

Aber man spürt es ganz deutlich: Das ist verordnet. Ein Befehl zum Jubel. Die Schritte des nun einsetzenden Marsches klingen schleppend und erzwungen. Mechanisch wird dann eine hymnische Motivfloskel an die andere gereiht. Man muss unwillkürlich an die Eröffnungsszene aus Modest Mussorgskis Oper «Boris Godunow» denken, wenn das Volk zum Bittgebet und zum Bejubeln der Herrschenden gezwungen wird. Das ist die russische Tragödie, wie sie auch schon aus so manchen symphonischen Sätzen Tschaikowskis herauszuhören ist: Der triumphierende Marsch im dritten Satz der «Symphonie Pathétique» stürzt plötzlich über vier Oktaven abwärts ins Bodenlose; und das Volksfest im Finale der vierten Symphonie dreht sich immer schneller und schneller bis zur blinden Ohnmacht. Im Finale von Schostakowitschs fünfter Symphonie wird es eine symphonische Fahrt durch ein Potemkinsches Dorf. Der Glanz ist nur eine dünne Fassade, dahinter tun sich Abgründe auf. – Wie mit Schlägen von Galeerentrommeln wird die Musik in einem hohlen Triumphzug vorangepeitscht. In diesem vermeintlichen Jubel erklingt die Tragödie.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Rainer Lepuschitz