Modest Mussorgski

«Bilder einer Ausstellung» (Instrumentierung: Maurice Ravel)

Sätze

  • Promenade. Allegro giusto, nel modo russico, senza allegrezza, ma poco sostenuto

  • 1. Gnomus. Vivo

  • Promenade. Moderato commodo assai e con delicatezza

  • 2. Il vecchio castello. Andante

  • Promenade. Moderato non tanto, pesante

  • 3. Tuileries. Allegretto non troppo, capriccioso

  • 4. Bydlo. Sempre moderato pesante

  • Promenade. Tranquillo

  • 5. Ballet des poussins dans leurs coques. Scherzino. Vivo, leggiero

  • 6. «Samuel» Goldenberg und «Schmuyle». Andante

  • 7. Limoges - Le Marché. Allegretto vivo, sempre scherzando

  • 8. Catacombae (Sepulcrum romanum). Largo - Cum mortuis in lingua mortua. Andante non troppo, con lamento

  • 9. La cabane sur des pattes de poule (Baba-Yaga). Allegro con brio, feroce

  • 10. La grande porte de Kiev. Allegro alla breve - Maestoso - Con grandezza

Dauer

29 Min.

Entstehung

1874/ 1922

«Warum nur leben Hunde und Katzen ? und Geschöpfe wie Hartmann müssen sterben?», klagte Modest Mussorgski 1873 bitterlich über den Tod seines Freundes «Witjuschka», des noch nicht einmal 40-jährigen Malers und Architekten Viktor Hartmann, der ihm nicht nur persönlich, sondern auch ästhetisch sehr nahe stand: Beide hatten sich eine Rückbesinnung auf die nationalen Wurzeln der russischen (Volks-)Kunst auf ihre Fahnen geschrieben. «Uns Dummköpfe trösten in solchen Fällen die Weisen: «Er» ist nicht mehr, aber was er geschaffen hat, lebt und wird leben, ja und - ja, und es sei nicht vielen Menschen das Glück beschieden, nicht vergessen zu werden. Das ist wieder solch ein Schmarren aus menschlicher Eigenliebe (mit wenig Zwiebeln, der Tränen wegen). Ja, hol dich der Teufel mit deiner Weisheit!» Dieser Verlust und der beginnende Zerfall der «Novatoren» machten Mussorgski schwer zu schaffen - und nach dem Höhepunkt seines künstlerischen Lebens, dem triumphalen Publikumserfolg des «Boris Godunow» 1874, begann der gesundheitliche Abstieg.

Aus Leid und Verzweiflung sollte jedoch schließlich doch nochmals die musikalische Schöpferkraft den Ausweg weisen. Anlass dazu gab eine Hartmann gewidmete Gedächtnisausstellung, die Vladimir Stassow in St. Petersburg organisierte, zufällig in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu den «Boris»-Aufführungen, und zu deren 400 Exponaten (architektonische Entwürfe, Bühnenbilder, Aquarelle, Buchillustrationen u. a.) auch zwei Bleistiftzeichnungen aus dem Besitz des Komponisten zählten. Die Ausstellung und die mit den Bildern verbundenen Erinnerungen an Hartmann, all das muss auf Mussorgski ungeheuren Eindruck gemacht haben. Er fasste den Entschluss, dem verstorbenen Freund ein musikalisches Denkmal zu setzen. Schon ganz im Schaffensrausch schrieb er «an irgendeinem Datum im Juni 1874» an Stassow: «Ich arbeite mit Volldampf am Hartmann, wie ich seinerzeit mit Volldampf am Boris gearbeitet habe. Klänge und Gedanken hängen in der Luft. Ich schlucke sie und esse mich daran voll, kaum schaffe ich es, alles aufs Papier zu kritzeln. Ich schreibe an der vierten Nummer, die Verbindungen sind geglückt (dank der Promenade). Ich möchte das Ganze möglichst bald und sicher zustande bringen. Meine Physiognomie ist in den Zwischenspielen zu sehen. Bis jetzt halte ich es für gelungen. Ich schließe Sie in meine Arme und verstehe, dass Sie mich dafür segnen - also geben Sie mir Ihren Segen!»

Der Zyklus geriet zu einem der originärsten und eigenwilligsten Werke der gesamten Klavierliteratur. Mit kühner, archaisch modal gefärbter Harmonik, typisch russischer Metrik mit wechselnd Mussorgskiunregelmäßigen 5/4-, 6/4- und 7/4-Takten, außerhalb jeden Kadenzgefälles stehenden Einzelklängen, blockhaft-massiven, dissonanzgeschärften Klaviereffekten neben ätherisch-impressionistischen Anklängen nimmt Mussorgski dabei viele Elemente der bevorstehenden Moderne vorweg. Die Präzision, plastische Eindringlichkeit und der schillernde Farbenreichtum, den er hier dem Klavier abverlangt und der über das Instrument hinausweist, haben nicht nur sehr früh zu verschiedenen Orchesterfassungen des Werkes geführt (neben jener von Maurice Ravel existieren u. a. noch solche von Leo Fintek, Leonidas Leonardis, Henry Wood und Leopold Stokowski, aber auch von Emerson, Lake & Palmer), sondern suggerieren auch ganz andere Bilder als Vorlage, als sie Hartmann geschaffen hat: Mit der Musik im Ohr mag man beim Betrachten der wenigen heute noch erhaltenen Werke enttäuscht sein.

Mussorgskis Leistung liegt demnach auch in der künstlerischen Überhöhung der Fähigkeiten seines Freundes, mit dem er überdies hier noch einmal in direkte Beziehung tritt: Die Promenade, also das verbindende Intermezzo, das den Komponisten beim Flanieren durch die Ausstellung verkörpert, wird durch den Eindruck der Bilder nicht nur verändert, sondern schließlich in deren musikalische Schilderung völlig integriert und von ihr aufgesogen. Gnomus evoziert einen krummbeinig daherhumpelnden, grotesken Zwerg; in Il vecchio castello scheint ein Troubadour einen melancholischen Gesang anzustimmen, während Tuileries den Trubel spielender Pariser Kinder schildert. In Bydlo zieht ein schwer beladener polnischer Ochsenkarren vorüber, bevor der Hühnernachwuchs, großteils in seinen Eierschalen steckend, das Ballet des poussins dans leurs coques («Ballett der noch nicht ausgeschlüpften Küchlein») tanzt. «Samuel» Goldenberg und «Schmuÿle» basiert auf zwei verschiedenen Bildern gleichzeitig: Die aufgeplustert-großtuerische Attitüde des erfolgreichen Geschäftsmanns mit Pelzmütze wird kontrapunktiert vom Zittern des armen Schluckers. In das turbulente Treiben auf dem Marktplatz von Limoges (Limoges - Le Marché) fahren plötzlich die ehern-harschen Klänge von Catacombae. Zu der Gruppe im blassen Laternenschein in den Gängen der Pariser Unterwelt hat sich (Cum mortuis in lingua mortua, «Mit den Toten in der Sprache der Toten») Mussorgski selbst gesellt: «Der schöpferische Geist des verstorbenen Hartmann führt mich zu den Schädeln und ruft sie an; die Schädel leuchten sanft auf», schrieb er in die Partitur. La cabane sur des pattes de poule («Die Hütte auf Hühnerfüßen») gehört der menschenfressenden russischen Hexe Baba-Jaga, die auf einem Mörser durch die Luft reitet. La grande porte de Kiev («Das große Tor von Kiew») schließlich, das Hartmann in Form eines Helmes entworfen hat, ist ein grandioses musikalisches Doppel-Monument mit Glockengeläut und liturgischem Choralgesang, das Maler und Komponist (Promenade) hymnisch vereint ertönen lässt.

Das Interesse Maurice Ravels an den «Bildern einer Ausstellung» war nicht nur jenes zufällige eines genialen Instrumentators an einem beliebigen Klavierwerk, das geradezu nach Orchesterfarben zu schreien schien. Denn Mussorgskis Musik, 1874 in Gestalt des Klavierauszugs von «Boris Godunow» erstmals nach Paris gelangt, hatte sich zu Ravels Lebzeiten immer mehr als willkommener Wegweiser aus dem allgemeinen «Wagnérisme » erwiesen, dem die französische Musikwelt wie einem Fieber erlegen war. «Nie werde ich den schon so lange zurückliegenden Tag vergessen, an dem Sie und Ihr Mann uns das Werk von Mussorgski offenbart haben» schrieb Ravel noch im April 1922 an die in Paris lebende russische Sängerin Marie Olénine. Ab 1896 hatte diese gemeinsam mit ihrem Mann, dem Mussorgski Biografen Pierre d'Alheim, und dem Pianisten Charles Foerster die Franzosen in «Konzert-Vorlesungen» mit dem OEuvre des Russen bekannt gemacht; unter den beeindruckten anwesenden Komponisten war auch der junge Ravel. Wenige Tage nach der zitierten brieflichen Reminiszenz begann Ravel seine Instrumentierung des Zyklus, bei der er übrigens eine Wiederkehr der Promenade strich (zwischen 6. und 7. Bild), ansonsten aber nur minimal ins Original eingriff. Auftraggeber war der Dirigent Serge Koussevitzky, der auch am 19. Oktober 1922 in der Pariser Opéra die glanzvolle Uraufführung dieser zweiten Geburt der «Bilder einer Ausstellung» leitete.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebgesellschaft m.b.H. | Walter Weidringer

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