Gustav Mahler

Symphonie Nr. 1 D-Dur

Sätze

  • Langsam. Schleppend - Immer sehr gemächlich

  • Kräftig bewegt, doch nicht zu schnell

  • Feierlich und gemessen, ohne zu schleppen

  • Stürmisch bewegt

Dauer

50 Min.

Entstehung

1888

Gustav Mahler begann mit den Vorarbeiten an seiner ersten Symphonie 1884 oder 1885. Er war damals Kapellmeister am Hoftheater in Kassel und verliebte sich in die Sängerin Johanna Richter. Frucht dieser Beziehung waren Dichtung und Komposition der Lieder eines fahrenden Gesellen (die im 1. und 3. Symphoniesatz    zitiert werden). Auch die Begleitmusik zu «lebenden Bildern» nach Victor von Scheffels «Der Trompeter von Säkkingen» floss teilweise in die Erste ein, in ein Andante mit dem Namen «Blumine», das ­ursprüng­­lich den 2. Satz bildete. Wann genau der Prozess einsetzte, bei dem diese vorgeformten Materialien zu einem symphoni­schen Werk verschmolzen wurden, ist heute nicht mehr feststellbar.

Während die Anfänge der Komposition der ersten Sym­­phonie also im Dunkeln liegen, kennen wir genau ihren Abschluss: «So! Mein Werk ist fertig!» schrieb Mahler im März 1888 an seinen Jugendfreund Friedrich Löhr. Am Beginn dieses Jahres komponierte Mahler in nur sechs stürmischen Wochen den größten Teil des Werkes, in engem Zusammenhang mit der Liebe zu Marion von Weber, die er in Leipzig bei der Ver­voll­ständigung von Webers Opernfragment «Die drei Pintos» kennengelernt hatte. Der Zeitpunkt der Vollendung der Symphonie ist jedoch nur der Anfang der Geschichte ihrer Fassungen, denn bis kurz vor seinem Tod hat Mahler dieses Werk ständig überarbeitet. Wir müssen die folgenden Versionen unterscheiden:

1.    Die Fassung, die bei der Uraufführung in Budapest am 20. November 1889 gespielt wurde. Sie hatte fünf Sätze, ihr Titel lautete «Symphonische Dichtung in zwei Teilen». Sie ist im Ganzen nicht aufführbar, da die einzige erhaltene Quelle (eine Abschrift in der Rosé-Collection, London, Ontario, Kanada) nicht vollständig ist. Diese Fassung unterscheidet sich von den späteren Ver­sio­nen vor allem durch Teile mit anderem Ablauf: so ist das Ende des Werkes etwa ganz anders.

2.    Die Hamburger Fassung, die erstmals am 27. Oktober 1893 in Hambug zur Aufführung kam. Sie hatte auch noch fünf Sätze, ihr Titel war «Titan, eine Tondichtung in Symphonieform». Das Autograph ist erhalten (Osborn Collection, New Haven, Connecticut, USA). Diese Frühfassung wird gelegentlich aufgeführt; nur sie darf «Titan» genannt werden. Der Haupt­un­ter­schied zu späteren Versionen ist die Instrumentierung, die praktisch vom ersten Takt an unterschiedlich ist.

3.    Die Fassung der Erstausgabe, welche 1899 beim Verlag Josef Weinberger (Wien–Leipzig–Paris) erschien. Sie hatte nur noch vier Sätze, der Titel lautete von da an «Symphonie Nr. 1 in D-Dur». Der frühere 2. Satz («Blumine») war bereits 1896 bei einer Aufführung in Berlin entfernt worden. Der Erstausgabe liegt als Stichvorlage eine Abschrift durch Mahlers Hamburger Kopisten Ferdinand Weidig zugrunde (Österreichische National­bi­blio­thek, Wien).

4.    Die Fassung einer umfassenden Revision, die zu einem veränderten Nachdruck zuerst der Studienpartitur, danach auch der Dirigierpartitur durch den Wiener Verlag Universal Edition im Som­mer 1906 führte. Der auffälligste Unterschied ist der Weg­fall von Wiederholungen.

5.  Die letzte Revision anlässlich der Aufführung des Werkes am 16. und 17. Jänner 1909 mit dem New York Philharmonic in der Carnegie Hall. Das dabei verwendete Stimmenmaterial mit handschriftlichen Korrekturen und Veränderungen ist erhalten. In diesem Zusammenhang legte Mahler eine Dirigierpartitur an, die er im Sommer 1910 als «corrigirt und für den Neudruck richtig befunden» bei der Universal Edition deponierte (Österreichische Nationalbibliothek, Wien), welche im November 1910 eine Neuausgabe vorlegte. Diese Fassung ist die Grundlage für alle weiteren Editionen.

Die mehrfachen Wechsel der Titeleien sind ein Indikator für Mahlers Unsicherheit und Scheu, in die Fußstapfen Beethovens zu treten. Fast alle Komponisten des späten 19. Jahrhunderts zögerten, den Begriff «Symphonie» zu verwenden – auch Brahms –, so übermächtig war die Nachwirkung der Sym­pho­nien Beethovens. Da sich Mahler nach einem jahrelangen Streit darüber, ob er Programmmusik schreibe oder nicht, immer mehr von jener musikalischen Schilderung außermusikalischer Abläufe distanzierte, wie sie etwa in den symphonischen Dich­tun­gen von Richard Strauss zu finden ist, entschied er sich dazu, sein Werk als «Symphonie Nr. 1» zu bezeichnen und alle programmatischen Angaben zurück­zuziehen. In der kritischen Gesamtausgabe wurde die erste Symphonie zuletzt am Beginn der 1990er-Jahre überarbeitet (Herausgeber: Sander Wilkens), wobei eine «Fassung letzter Hand» angestrebt wurde: Ziel war es, das Werk in der zuletzt unter Mahler gespielten Version vorzulegen. Diese Fassung ist heute Abend zu hören.

Obwohl Mahler also später von der Veröffentlichung program­matischer Gedanken zu seinen Werken Abstand nahm, geben die Hinweise, wie sie 1893 anlässlich der Hamburger «Titan»-Aufführung gedruckt wurden, Aufschluss über seine Vorstellungen und erleichtern das Verständnis des Werkes. Mahler wollte ja mit seinen Symphonien Welten erschaffen, die immer mit poetischen Ideen verknüpft sind, ob wir sie kennen oder nicht. Eine Briefstelle verdeutlicht Mahlers Ansicht von der Entwicklung der sinfonischen Kompoisition: «[…] der Komponist fing an, immer tiefere und kompliziertere Seiten seines Gefühlslebens in das Gebiet seines Schaffens einzubeziehen – bis mit Beethoven die neue Ära der Musik begann: Von nun an sind nicht mehr die Grundtöne der Stimmung – also z. B. bloße Freudigkeit oder Traurigkeit etc. – sondern auch der Übergang von einem zum anderen – Konflikte – die äußere Natur und ihre Wirkung auf uns – Humor und poetische Ideen die Gegenstände der musikalischen Nachbildung.» (7. 2. 1893 an Gisela Tolnay-Witt). Hier erwähnt Mahler bereits konkrete Komponenten seiner ersten Symphonie. Deren 1. Satz ist 1893 in Hamburg mit «Frühling und kein Ende» betitelt, mit dem Zusatz: «Die Ein­lei­tung stellt das Erwachen der Natur nach langem Winter­schlaf dar.» Nach dieser Einleitung verarbeitet Mahler das marschartige Gesellenlied «Ging heut morgen übers Feld». Der 2. Satz, das Scherzo, heißt «Mit vollen Segeln». Dieses Scherzo zeigt in aller Deutlichkeit den großen Einfluss, den die österreichische Volksmusik auf Mahler hatte (vielleicht durch Schubert vermittelt, den Mahler in seiner Wiener Conservatoriums-Zeit am Klavier gründlich studiert hatte). Zum 3. Satz «Gestrandet» («ein Todtenmarsch in ‹Callot’s Manier›» schreibt Mahler: «Die äussere Anregung zu diesem Musikstück erhielt der Autor durch das in Österreich allen Kindern wohlbekannte parodistische Bild: ‹Des Jägers Leichen­begängniss›, aus einem alten Kinder­mär­chenbuch: ‹Die Thiere des Waldes geleiten den Sarg des gestorbenen Jägers zu Grabe, Hasen tragen das Fähnlein, voran eine Capelle von böhmischen Musikanten, begleitet von musicierenden Katzen, Unken, Krä­hen etc., und Hirsche, Rehe, Füchse und andere vierbeinige und gefiederte Thiere des Waldes geleiten in possirlichen Stellungen den Zug. An dieser Stelle ist dieses Stück als Ausdruck einer bald ironischen, bald unheimlich brütenden Stimmung gedacht.›» Dieses Bild war in einer Fassung des Wiener Malers und Schubertfreundes Moritz von Schwind (1850) weit verbreitet.

Jacques Callot (1592 – 1635) schuf Kupferstichzyklen wie beispiels­weise «Les Petites Misères» und «Les Grandes Misères», in denen die Schrecken des beginnenden dreißigjährigen Krieges in ihrer grausamen Narrheit gezeigt werden. Mahler, der immer unter den Ungerechtigkeiten des Lebens litt, war von Callots Stichen sehr angetan. Als Konduktmusik für des Jägers Be­gräb­nis diente Mahler dabei die Melodie des Kanons «Frères Jacques», der ursprünglich ein Lied für die Wallfahrt nach Santiago war, in Österreich aber mit dem Text «Bruder Martin, komm, steh auf» weit verbreitet und wohlbekannt war. Für den Mittelteil zieht Mahler abermals ein Gesellenlied zu, nämlich die tröstliche Episode «Auf der Straße steht ein Linden­baum». Es folgt der 4. Satz «dann sogleich ‹Dall’ Inferno› (Allegro furioso), als der plötzliche Ausbruch der Verzweiflung eines im Tiefsten verwundeten Herzens.» Der Titel ist die erste Dante-Anspielung in einer Reihe von Bezügen auf «La divina commedia», deren letzte wohl das «Purgatorio» der zehnten Symphonie ist. Der Held der Sym­phonie ist eine Gestalt, die wesentlich von Jean Paul (1764 – 1825) bestimmt wurde, einem Lieblingsdichter Mahlers, von dem auch der Ausdruck «Titan» stammt. Der Held stirbt nach einem verzweifelten Kampf (übrigens: um in der zweiten Symphonie zu Grabe getragen zu werden); im Tod erringt er dennoch den Sieg, denn in einem «herrlichen Siegeschoral» taucht das Jugend­thema aus dem 1. Satz erneut auf.

Die Uraufführung war ein geradezu katastrophaler Misserfolg. Mahlers Musik wurde überhaupt nicht verstanden. Eine Karikatur, die in der Zeitung Bolond Istók am 24. November 1889 erschien, macht sich über Mahlers Naturliebe lustig und bezeichnet sie als effektvolle (Hatás = Effekt) Katzenmusik, für die lediglich unverhältnismäßig viel Reklame gemacht wurde.

Die Reaktionen auf die erste Symphonie blieben zu Mahlers Lebzeiten bestenfalls unterschiedlich. So wurde sie z. B. von Richard Strauss (der 1894 eine Aufführung in Weimar leitete) geschätzt, von Schönberg aber abgelehnt (noch 1905 sagte er, Alma Mahler zufolge: «Wie kann Mahler bei der IV. etwas können, wo er doch schon bei der I. nichts gekonnt hat.»). Noch die letzte Aufführung in New York ist nach Mahlers eigener Aussage «hier ziemlich durchgefallen».

Mahler gab dabei seiner fehlenden Erfahrung in der Kunst des Instrumentierens Schuld, wobei er unter «Instrumentieren» nicht das Erfinden von ausgesuchten Klangeffekten, sondern die Fähigkeit verstand, mit klanglichen Mitteln Form und Sinn der musikalischen Strukturen zu verdeutlichen: «Wo ich anfangs in mangelndem Wissen und Können mit weniger Sorgfalt und Kunst gearbeitet habe, wie bei meiner Ersten Symphonie, da hat sich das bitter gerächt. Es kam eben nicht heraus, was ich wollte, und was zu Gehör kam, war bei weitem nicht so durchsichtig und schön, wie es hätte sein können, so daß ich später uminstrumentieren mußte.» Ganz können wir diese Aussage des Perfektionisten nicht nachvollziehen, ist für uns heutige doch auch die «nicht verbesserte» Frühfassung von Interesse. Sie bekommt durchaus ein selbständiges historisches und ästhetisches Existenzrecht zugesprochen, was man auch daran sieht, dass die fünfsätzige Hamburger Version («Titan») gelegentlich wieder aufgeführt wird. Die Instrumen­tierung der Frühversion ist von der Klangquelle bestimmt und in gewisser Weise naiv, während die Überarbeitung vom Hör­resultat ausgeht und raffiniert ist. Als Beispiel diene die Horn­fanfare am Beginn des 1. Satzes. In der Frühversion wird sie von gestopften Hörnern gespielt, in der Spätfassung hingegen von leisen Klarinetten, deren undefinierbarer Klang «Hörner in weiter Entfernung» suggeriert. Der Inhalt ändert sich im übrigen durch solche Revisionen nicht, nur die Technik der Vermittlung. Heute zählt Mahlers erste Symphonie zu den meistgespielten Werken des Komponisten und nimmt einen Ehrenplatz im Musik­re­per­toire ein.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Reinhold Kubik

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