Archiv: Tschaikowski & Schostakowitsch

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Interpreten

  • Stephen Hough, Klavier
  • Yutaka Sado, Dirigent

Programm

- Pause -
Dmitri Schostakowitsch

Einen Triumph hatte sich Pjotr Iljitsch Tschaikowski erwartet, als er dem Freund Nikolai Rubinstein sein erstes Klavierkonzert vorspielte, der es uraufführen sollte – aber er bekam eine niederschmetternde Abfuhr erteilt. In einem bombastischen Triumph mit Pauken und Trompeten scheint Dmitri Schostakowitschs Fünfte zu enden, doch ist der Jubel jene Fassade, zu der sich der Komponist von den kommunistischen Apparatschiks genötigt sah und hinter der er seine wahren Gefühle versteckte. Längst zählen beide Werke zum beliebtesten russischen Repertoire überhaupt: Chefsache für Yutaka Sado am Pult und den britischen Klaviervirtuosen Stephen Hough.

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Pjotr Iljitsch Tschaikowski

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23

Sätze

  • Allegro non troppo e molto maestoso

  • Andantino semplice

  • Finale. Allegro con fuoco

Dauer

32 Min.

Entstehung

1874/75

Pjotr Iljitsch Tschaikowskis erstes Klavierkonzert ist eine der gelungensten Kompositionen dieser Gattung und zweifellos das berühmteste Instrumentalkonzert des 19. Jahrhunderts. Fast so berühmt wie der legendäre Anfang des Konzerts ist seine Entstehungsgeschichte. Denn die selbstverständliche Regelmäßigkeit, mit der es in heutigen Spielplänen zu finden ist, war dem Konzert nicht in die Wiege gelegt. Im Gegenteil: Tschaikowskis allererste Präsentation des Werks im privaten Rahmen für seinen Förderer und Gönner Nikolai Rubinstein war Anlass für eine der kapitalsten Fehleinschätzungen, die einem Musiker je widerfahren ist.

Doch der Reihe nach: Tschaikowski begann im Winter 1874/75 mit der Arbeit an seinem Klavierkonzert und war zu dieser Zeit noch wenig erfahren im Umgang mit dem Klavier. Schriftliche Notizen und Pläne für das Werk gibt es kaum; erst Jahre später formulierte er seine Vision an seine enge Vertraute Nadeschda von Meck, an die er schrieb: «Das Verhältnis von Klavier und Orchester ist ein Kampf zweier ebenbürtiger Kräfte.» Es gehe um ein «gewaltiges, an Farbenreichtum so unerschöpfliches Orchester, mit dem sich der kleine, unscheinbare, doch geistesstarke Gegner auseinandersetzt und auch siegt, wenn der Pianist begabt ist. In diesem Ringen steckt viel Poesie und eine Unmenge verführerischer Kombinationsmöglichkeiten.» Auch wenn die Ausformulierung dieser Auffassung erst später erfolgte, so komponierte Tschaikowski sein Klavierkonzert doch ganz aus dieser Haltung heraus: als noblen Wettstreit. Seinem Bruder Anatol schrieb er im Dezember 1874: «Ich bin ganz in die Komposition eines Klavierkonzerts versunken. Ich wünsche sehr, dass es Rubinstein in seinem Konzert zum Vortrag bringt. Die Arbeit geht aber nur recht langsam vorwärts und will mir nicht recht gelingen. Ich bleibe aber meinem Prinzip treu und zwinge meinen Kopf, Klavierpassagen auszutüfteln: das Resultat davon ist eine gelinde Nervosität.»

Ursprünglich war das Werk dem Pianisten Nikolai Rubinstein zugedacht, seinem Förderer und Direktor des Moskauer Konservatoriums. Dem Treffen mit dem berühmten Musiker fieberte Tschaikowski entgegen; umso größer war die Bestürzung, dass dieser kaum ein gutes Haar an dem Konzert ließ. Aus einem weiteren Brief an Nadeschda von Meck wissen wir von Tschaikowskis Gefühlen während dieses Treffens: «Im Dezember hatte ich damals mein Klavierkonzert beendet. [Anm.: Tschaikowski irrte sich hier. Das Treffen dürfte frühestens im Jänner 1875 stattgefunden haben.] Da ich kein Pianist bin, wollte ich meine Kompositionen einem Klaviervirtuosen zeigen, damit er mir sage, ob alles aufführbar, effektvoll und dankbar sei. Ich wusste, dass Nikolai Rubinstein nicht verfehlen würde, seine Launen spielen zu lassen. Da er aber der größte Pianist von Moskau ist, entschloss ich mich doch, ihn zu bitten, mein Konzert anzuhören. Er wäre auch sehr beleidigt gewesen, wenn ich einen anderen Pianisten aufgesucht hätte. Ich spielte ihm den ersten Satz vor. Kein Wort, keine Bemerkung! Wenn Sie wüssten, wie dumm man sich vorkommt, wenn der Freund die für ihn zubereitete Speise einfach verzehrt und dann schweigt!

Sag doch, mein Freundchen, irgendetwas! Schimpfe meinetwegen, aber schwei­­ge doch nicht! Ich nahm mich indessen zusammen und spielte bis zum Ende. Abermals Schweigen … Ich stand auf und fragte, was denn? Rubinstein fing an zu reden, zunächst leise, dann immer lauter werdend bis zum Jupiterton. Er sagte mein Konzert sei schlecht, unspielbar, die Läufe abgedroschen und ungeschickt, die Erfindung schwach. Gestohlen hätte ich auch hier und dort. Ich war erstaunt und beleidigt. Schweigend ging ich hinaus. Ich war einfach wütend. Später sagte er mir, er wäre bereit, mein Konzert zu spielen, wenn ich dies und jenes ändern wollte. Ich ändere keine einzige Note, erwiderte ich ihm, das Konzert bleibt so, wie es ist.»

Was immer auch den großen Nikolai Rubinstein zu seiner Meinung veranlasst haben mochte – er blieb glücklicherweise einer der ganz Wenigen, die das Werk ablehnten. Und noch glücklicher dürfen wir uns fühlen, dass der sonst zu Änderungen und Kompromissen durchaus bereitwillige Tschaikowski hier nicht nachgab und an seiner Konzeption des Konzerts festhielt. Die Widmung wurde kurzerhand aus der Partitur ausgestrichen, Tschaikowski bot das Werk dem Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow an, der sich überaus erfreut und dankbar zeigte, das Werk am 25. Oktober 1875 in Boston mit großem Erfolg zur Uraufführung zu bringen. Nach weiteren drei Jahren fand das Klavierkonzert seinen endgültigen Durchbruch in Europa. Es ist das bis heute am meisten auf Tonträger verkaufte Instrumentalkonzert.

Das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-moll zeichnet sich durch seine kraftvolle, unverbrauchte Grundstimmung aus, die häufig ins Träumerische mäandert, aber niemals ihren Optimismus verliert. Tschaikowskis Instrumentationskunst, seine meisterhafte Behandlung des Orchesters und die Verflechtung des Dialogs zwischen dem Solopart und dem ganzen Ensemble zeugen von seinem Genius. In diesem Klavierkonzert gehen das Subjektive und die Konvention ein neues Verhältnis ein; die Proportionen sind ungewöhnlich, die harmonischen Spannungen stark.

Im ersten Satz (Allegro non troppo e molto maestoso) tragen helle Fanfarenklänge eine der berühmtesten Eröffnungen des klassischen Konzertrepertoires vor. In Des-Dur, der großterzverwandten Tonart der Grundtonart b-moll, erklingt schließlich das von Streichern gespielte weltbekannte Thema, das von einem mondänen, weltoffenen Nimbus umgeben ist. Dass die Melodie aus der russischen Provinz stammt, würde man niemals erraten. Tschaikowskis Bruder Modest wusste aber zu berichten, dass Pjotr während eines Sommeraufenthalts in Kamenka einer Gruppe von blinden Bettlern beim Musizieren zuhörte und diese Melodie sofort notierte. Tschaikowski bearbeitete das ursprünglich breit und episch angelegte Volkslied, veränderte es in eine leicht schwebende Melodie, die ihren kapriziösen Reiz im Dialog zwischen Klavier und Holzbläsern entfaltet, ehe sie sich in den Oktavklängen des Soloinstruments verliert.

Das Klavier begleitet mit kraftvollen Akkorden, die den vollen Umfang der Tastatur abdecken, das schwungvolle Thema und greift den musikalischen Gedanken anschließend auf. Der erste Satz ist nach dem klassischen Kontrastprinzip aufgebaut. Die Kombattanten, Solist und Orchester, fallen sich nicht vornehm ins Wort, fechten nicht graziös miteinander, sondern preschen voran, umschlingen sich und aus dem Gegeneinander wird ein ekstatisches, atemloses Miteinander. Obgleich nichts vom Themenmaterial der Einleitung in die weitere Komposition Eingang findet, wird sie doch für den Gesamtgestus des Konzerts bestimmend: Hier wie überall die quasi improvisierenden Monologe des Klaviers, die sprechenden Instrumentalrezitative, das dialogische Miteinander von Soloinstrument und Orchester.

Nach der rhythmisch pointierten Einleitung und dem virtuos-schwungvollen Hauptthema wird ein lyrischer Gedanke voller Melodieseligkeit vorgestellt. Gewaltige Steigerungen charakterisieren die Durchführung, die eingestreuten Solopartien und die Schluss­-kadenz sind zweifellos von Robert Schumann beeinflusst. Der Kopfsatz nimmt in etwa drei Fünftel der gesamten Spieldauer des Konzerts ein und sprengt damit in vielerlei Hinsicht das damals übliche Maß der Dinge. Tschaikowskis Sinn für Dramatik und seiner wortlosen Erzählkunst ist es jedoch zu verdanken, dass jede Sekunde mit größter Spannung erfüllt ist, wie übrigens das gesamte Konzert von einer Stimmung des «Vorwärtsdrängens» getragen wird.

Der zweite Satz (Andantino semplice) hebt mit einer von der Flöte intonierten lyrisch-zarten Weise an, die eine kontemplative Stimmung erzeugt. Violoncello und Oboe nehmen das Thema auf, das vom Klavier mit hellen Arabesken umspielt wird. Im schnellen Scherzo-Mittelteil huscht ein Walzer vorüber, der auf ein französisches Chanson zurückgeht, das von Tschaikowski und seinen Brüdern gern angestimmt wurde: «Il faut s’amuser, danser et rire» («Man muss sich amüsieren, tanzen und lachen»). Dieser sich in einem Fortissimo-Schlag entladende Übermutsausbruch bildet den scherzohaften Kontrapunkt zur anmutigen, kammermusikalisch zarten Gesamtanlage des Satzes, einem gelösten Zusammenspiel von Orchester und Solist, einem einander Zu­singen, Zuhören, Abnehmen und Aufgreifen der musikalischen Gedanken. Es handelt sich um zwei Optionen der Selbstvergessenheit: sich in dialogischer Zweisamkeit zu verlieren oder sich ins Amüsement zu stürzen. Schwärmerisch klingt der Satz aus.

Das Finale (Allegro con fuoco) setzt wild und ungestüm ein. In Rondo-Form präsentieren sich zwei Themen; das erste ein ukrainisches Frühlingslied, das zweite dem Volkston frei nachempfunden. Klavierpart und Orchestertutti verhalten sich wie ein solistischer Vorsänger und der ihm antwortende Chor. Auch im Finale weiß sich das zweite Thema durchzusetzen, führt zu einer hymnischen Steigerung und zu einem die Themen synthetisierenden Finale. Es kündet von der glücklichen Übereinstimmung des Einzelnen mit dem Ganzen.

Hans von Bülow, der das Konzert uraufführte, schrieb: «Die Ideen sind so originell, so edel, so kraftvoll, die Details, welche trotz ihrer großen Menge der Klarheit und Einigkeit des Ganzen durchaus nicht schaden, so interessant. Die Form ist so vollendet, so reif, so stilvoll – in dem Sinne nämlich, dass sich Absicht und Ausführung überall decken. Ich würde ermüden, wollte ich alle Eigenschaften Ihres Werkes aufführen, Eigenschaften, welche mich zwingen, dem Komponisten sowie allen denjenigen, welche das Werk ausführend oder aufnehmend genießen werden, in gleichem Maße meine Gratulation darzubringen.»

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore

Dmitri Schostakowitsch

Symphonie Nr. 5 d-Moll op. 47

Sätze

  • Moderato

  • Allegretto

  • Largo - Largamente

  • Allegro non troppo - Allegro - Più mosso - Poco animato

Dauer

45 Min.

Entstehung

1937

Dmitri Schostakowitschs Symphonie Nr. 5 d-moll op. 47 entstand in einer Zeit und in einem Land, als Komponieren tatsächlich eine Angelegenheit auf Leben und Tod war. Schostakowitsch brachte die Hälfte seines schöpferischen Lebens während der Regentschaft Stalins zu. Das Drama der Künstler in der Sowjetunion bestand damals darin, dass Stalin ein persönliches Interesse an der Kunst hegte. Er las viel Literatur, er hörte gerne klassische Musik, vor allem von Tschaikowski und Rimski-Korsakow, er schaute sich gerne Filme an und er beobachtete kritisch die Bildende Kunst. Kunst diente zur Zeit Stalins in extremem Maße als Werkzeug der Politik. Schostakowitsch schaffte just in jener Zeit den Durchbruch als Komponist und Künstler, in der Stalin sein diktatorisches Regime aufbaute, und als alles im Staate den ideologischen Richtlinien untergeordnet wurde. Der 30jährige Schostakowitsch erlebte landesweite und auch schon internationale Erfolge seiner Musik. Seine Oper «Lady Macbeth von Mzensk» wurde sowohl in Leningrad als auch in Moskau an den beiden großen Opernbühnen erfolgreich gespielt. Auch die offiziellen Medien erkannten Schostakowitschs Werk als großartigste russische Oper seit «Boris Godunow» an. Seine ersten Symphonien wurden begeistert akklamiert, und am Bolschoitheater befand sich außerdem seine volkstümliche Ballettkomödie «Der helle Bach» im Repertoire, die so wie seine Oper stets vor vollem Hause gezeigt wurde.

«Lady Macbeth von Mzensk» befand sich bereits fast zwei Jahre auf den Spielplänen, als Anfang des Jahres 1936 auch Stalin persönlich eine Aufführung besuchte. Sein wichtigstes kulturpolitisches Anliegen war es damals, für die vielen im Rahmen des Industrialisierungsprogramms vom Land in die Städte ziehenden Bauern ein verständliches Kunstleben bereit zu halten, das von «Einfachheit und Volkstümlichkeit» geprägt war. In diesen Slogan ließ sich aber Schostakowitschs Oper nicht einordnen, die das tragische Schicksal einer vom Patriarchat gedemütigten Frau zeigt, die mithilfe ihres Liebhabers ihren despotischen Mann beseitigt und schließlich in ein Straflager nach Sibirien verbannt wird. Sowohl die erotische Komponente als auch sozialkritische Elemente wurden von Schostakowitsch mit einer unverblümten Energie und mit drastischen Mitteln auskomponiert. Satirischer Schwung ist ebenso enthalten in dieser Musik wie schmerzensvolle, ergreifende Kantilenen.

«Chaos statt Musik»Stalin war offenbar entsetzt von der Oper – und nur zwei Tage nach seinem Opernbesuch erschien in der «Prawda», der landesweit wichtigsten Zeitung, eine Aburteilung des Werkes und seines Komponisten unter dem Titel «Chaos statt Musik». Der Artikel erschien ohne Nennung eines Autors, ein untrüglicher Hinweis, dass er auf höchste Order Stalins verfasst wurde und dessen Meinung transportiert. Die Kritik hat eine eindeutige Richtung: «Von der ersten Minute an verblüfft den Hörer in dieser Oper die betont disharmonische, chaotische Flut von Tönen. Bruchstücke, Keime einer musikalischen Phrase versinken, reißen sich los und tauchen erneut unter im Gepolter, Geprassel und Gekreisch. Dieser Musik zu folgen ist schwer, sie sich einzuprägen, unmöglich. Sie ächzt und stöhnt, keucht und gerät außer Atem, um die Liebesszenen so naturalistisch wie möglich darzustellen. Die Fähigkeit guter Musik, die Massen mitzureißen, wird kleinbürgerlichen formalistischen Anstrengungen und Verkrampfungen geopfert. Diese absichtlich verdrehte Musik ist so beschaffen, dass in ihr nichts mehr an die klassische Opernmusik erinnert und sie mit symphonischen Klängen, mit der einfachen, allgemeinverständlichen Sprache der Musik nichts mehr gemein hat. Das ist linksradikale Zügellosigkeit anstelle einer natürlichen, menschlichen Musik. Die Gefahr einer solchen Richtung in der Sowjetmusik liegt klar auf der Hand. Linksradikale Abnormitäten in der Oper haben den gleichen Ursprung wie die linksradikale Entartung in der Malerei, der Dichtung, der Pädagogik und der Wissenschaft.» Besonders auffällig in diesem Artikel ist der Vorwurf des Formalismus und Naturalismus. Das sind jene zwei vernichtenden Wörter, mit der damals in der Sowjetunion von offizieller Seite jede unliebsame Kunst in Misskredit gebracht wurde.

Schostakowitsch bekam diesen Artikel bei einem Gastspiel in Archangelsk zu lesen. Und er wusste sofort, was der Text bedeutete: Er war als Volksfeind abgestempelt. Nur wenige Tage später wurde Schostakowitsch erneut zur Zielscheibe einer massiven Kritik an seiner Musik in der Prawda. Unter dem Titel «Heuchelei als Ballett» wurde auch das im Bolschoi aufgeführte Ballett «Der helle Bach» vernichtend besprochen. Eine Woche später fasste die Prawda ihre Kritik an Schostakowitsch und seinen beiden Werken noch einmal in einem Artikel zum Thema «Eine klare und einfache Sprache in der Kunst» zusammen: «Beide Werke sind gleichweit von der klaren, einfachen und wahren Sprache entfernt, welcher sich die sowjetische Kunst befleißigen muss. Beide Werke behandeln die Volkskunst mit Geringschätzung.»

Bereits einige Tage vor diesem dritten Artikel wurde der Komponist vom Vorsitzenden des Komitees für Kunstangelegenheiten, Platon Kerschenzew, zu ei-nem Gespräch geladen. Kerschenzew hatte dem Künstler mitzuteilen, was Stalin von ihm verlangte. Schostakowitsch bekam in diesem Gespräch, von dem ein Protokoll existiert, zu hören, dass er in Hinkunft, bevor er eine Oper oder ein Ballett komponiere, das Libretto vorlegen müsse und dass einzelne Teile des Werkes vor einem Publikum aus Arbeitern und Bauern erprobt werde. Des Weiteren sollte Schostakowitsch in die Dörfer der Sowjetunion reisen, die Volkslieder aufzeichnen und die besten von ihnen in Bearbeitungen herausgeben. Schließlich wurde Schostakowitsch gefragt, ob er die in den Prawda-Artikeln geäußerte Kritik annehme. Angeblich hat er damals geantwortet, er würde die Kritik in der Prawda akzeptieren, aber nicht alles verstehen. Er hat sich also irgendwo gefügt.

Man muss sich die Situation vergegenwärtigen. Schostakowitsch befand sich in einem Ausnahmezustand. Rund um ihn wurden Künstler, Verwandte und Freunde als Staatsfeinde und Spione deportiert, viele von ihnen hingerichtet. Seine Frau Nina war im sechsten Monat schwanger. Er hatte Angst um sein und seiner Angehörigen Leben.Zwischen Schlager-Musik und Avantgarde Schostakowitsch blieb von Stalins Säuberungswelle und Vernichtungsmaschinerie verschont. Was den Ausschlag dafür gab, kann man nur vermuten. Stalin wusste um die außergewöhnliche Begabung des jungen Komponisten, den man zu Propagandazwecken gut gebrauchen konnte (was dann Jahre später während des Krieges gegen Nazi-Deutschland auch geschah). Schostakowitsch hatte den Diktator offenbar vor allem mit seinen Filmmusiken, die er nicht zuletzt zu einigen offiziell abgesegneten und anerkannten Filmen verfasst hatte, überzeugt. Bei einer Filmvorführung wenige Tage nach Erscheinen des Prawda-Artikels «Chaos statt Musik» wurde Stalin laut dem Protokoll eines Mitarbeiters darauf hingewiesen, dass Schostakowitsch auch der Komponist des Liedes «Dem kühlen Morgen entgegen» in dem Film «Der Gegenplan» sei. Dieses Lied war damals ein echter Schlager in der Sowjetunion, den jeder auf der Straße pfeifen konnte – und den auch Stalin selbst gern hatte.

In seinem Komponierzimmer war Schostakowitsch damals allerdings nicht mit einem weiteren Schlagerlied beschäftigt, sondern mit dem Revolutionärsten, Kühnsten und Modernsten, was man sich nur denken kann: der vierten Symphonie. Eine gigantische, tragische dreisätzige Symphonie, die an die Grenzen der Tonalität stößt und eine eindeutige Botschaft in sich trägt: Auflehnung gegen diktatorische Unterdrückung. Sie in dieser kritischen Phase zu veröffentlichen und uraufführen zu lassen, wäre wohl einem Todesurteil gleichgekommen. Nach einer ersten, chaotisch verlaufenden Durchspielprobe zog Schostakowitsch die Symphonie zurück; sie wurde erst drei Jahrzehnte später, Anfang der Sechzigerjahre, uraufgeführt.

Im Frühjahr 1937 arbeitete er während eines Komponieraufenthaltes auf der Insel Krim aber bereits an seiner nächsten Symphonie, der fünften. Er wusste: Er durfte die politische Führung nicht mehr reizen, man erwartete von ihm eine verständliche Musik mit einer eindeutigen Botschaft: Durch die Kämpfe des Lebens zum Sieg!Verriet er mit der neuen, der fünften Symphonie seine künstlerischen Ideale, stellte er seine kompositorischen Ansprüche hintan und verfasste eine eingängige Musik im Propagandastil der Zeit?

Keineswegs. Er hat sich in der Fünften nur für eine relativ überschaubare Konzeption entschieden, mit vier Sätzen im klassischen Sinn und klar fassbaren Themen, und sich gegenüber den vorangegangenen Werken in den harmonischen Ausreizungen zurückgehalten. Die sowjetischen Kritiker reagierten nach Wunsch auf dieses Konzept und schilderten die Dramaturgie des Werkes nach den ersten Aufführungen in Leningrad und Moskau mit einem übereinstimmenden Programm:

Erster Satz: Heroische Tragödie. Zweiter Satz: Scherzo: Ausdruck gesunder Lebensfreude. Dritter Satz: Meditation. Vierter Satz: Erringen des Sieges.Der sowjetische Dichter Alexej Tolstoi, der für sein Naheverhältnis zu Stalin bekannt war, begrüßte die neue Symphonie als «ein Beispiel der realistischen Kunst unserer Ära. Ruhm unserer Ära, dass sie solche Majestät der Klänge und Gedanken mit beiden Händen über die Welt ausschüttet. Ruhm unserem Volk, das solche Künstler hervorbringt.»

Offizielle Lesart und Verborgene Botschaften Schostakowitsch selbst hatte diese offizielle Deutung publizistisch unterstützt, indem er vor der Moskauer Erstaufführung in der Zeitung der Parteileitung, «Wetschernaja Moskwa», einen Artikel veröffentlichte, in dem er die fünfte Symphonie als die «schöpferische Antwort eines sowjetischen Künstlers auf gerechte Kritik» bezeichnete. Und weiter schrieb er: «Thema meiner Symphonie ist das Werden der Persönlichkeit. Gerade den Menschen mit seinem ganzen Erleben sehe ich im Mittelpunkt der Idee dieses Werkes, das seinem Charakter nach vom Anfang bis zum Schluss lyrisch ist.»

Er kommt in diesem Artikel aber auch auf das damals als Kunstform vieldiskutierte Genre der «sowjetischen Tragödie» zu sprechen. Sie habe, so Schostakowitsch, «jedes Recht, zu existieren». Mit einer solchen Aussage konnte auch die politische Führung leben, denn Stalin selbst anerkannte angesichts von einigen seiner Lieblingsfilme wie etwa Sergej Eisensteins «Panzerkreuzer Potemkin» den Begriff der «sowjetischen Tragödie». Für Kunstwerke und Inhalte dieser Art wurde sogar der paradoxe Begriff der «optimistischen Tragödie» geprägt. Damit waren dramatische Stoffe gemeint, in denen Revolutionäre, also Helden der Sowjetunion, tragische Schicksale erleiden, im Kampf für die revolutionäre Idee sterben. Ihr Opfertod wurde als Happy End umgedeutet.

In diesem ideologischen Vakuum konnte Schostakowitsch einen doch ziemlich großen gestalterischen Bogen in seiner Musik spannen. So ist auch seine fünfte Symphonie von starkem expressivem Gehalt und tiefer und tragischer musikalischer Durchdringung geprägt. All das hat Schostakowitsch allein durch seine Musik ausgedrückt und in keiner publizistischen Begleit-Stellungnahme kommentiert. Er konnte sich auch sicher sein, dass die Menschen, die in jener Zeit aus Selbstschutz zur offiziellen Politik schwiegen, die wahren Hintergründe seiner Musik wahrnehmen würden. Der Komponistenkollege Wladimir Schtscherbatschew etwa notierte in privaten Aufzeichnungen, dass die fünfte Symphonie von Schostakowitsch «auf schmerzliche Weise erbittert» sei. Von dem Schriftsteller Alexander Fadejew ist eine Äußerung über das Finale dokumentiert: «Das Ende klingt nicht wie ein Kehraus (und ganz sicher nicht wie ein Triumph oder Sieg), sondern wie eine Strafe oder Rache an jemandem.»

Das Werk enthält einige verborgene und doppeldeutige Botschaften. Ein Beispiel dafür findet sich bereits im ersten Satz. So mündet das dritte Thema in einer aus der Begleitung gewonnenen Flöten-Floskel, die zunächst ganz verspielt und friedlich klingt. Doch im Durchführungsteil des Satzes münzt Schostakowitsch ausgerechnet diese Floskel in eine militante, vom Klavier angestimmte und von der Blech-Schlagwerk-Batterie gestützte Figur um, über der sich dann die Musik in martialischer Wucht ausbreitet. So als wollte der Komponist mit diesen motivischen Umwandlungen sagen: Traue einem friedlich geäußerten Wort nicht, es kann sich sehr schnell in einen Befehl verwandeln. In diesem Befehl, diesen abstoßend-aggressiven Einsätzen der Blechbläser und des Schlagwerks, erkennen wir heute ein musikalisches Thema wieder, das die Hörer der ersten Aufführungen noch nicht kennen konnten: Schostakowitsch hat hier das Triothema aus seiner damals zurückgezogenen vierten Symphonie wieder aufgegriffen. Damit klingt die Verzweiflung über den ungleichen Kampf der Menschen gegen das Totalitäre auch in dieser fünften Symphonie deutlich wieder an.

Im zweiten Satz, dem Scherzo, hören wir Österreicher sofort eine Verwandtschaft zu den Scherzo-Sätzen Gustav Mahlers heraus. Tatsächlich hatte sich Schostakowitsch in jenen Jahren zusammen mit einem Freund, dem Musikwissenschaftler Iwan Sollertinski, intensiv mit der Symphonik Mahlers auseinandergesetzt. Schostakowitschs volkstümlich polternder Ländler, der oft ins Verzerrte und Fratzenhafte umschlägt, erinnert sehr stark an vergleichbare Sätze und Gestaltungsweisen Mahlers, wenngleich der Slawe Schostakowitsch das tänzerische Element im Tonfall und in der Instrumentierung «russisch» färbte. Auch hier sandte Schostakowitsch eine eindeutige Botschaft an seine Mitmenschen in der Sowjetunion aus. Wenn der tänzerische Dreivierteltakt immer wieder in einen unerbittlichen Marschton umkippt, so wird damit zum Ausdruck gebracht, dass sofort eine kontrollierende Macht einschreitet, sobald eine unterhaltsame Stimmung aufkommt.

Der dritte Satz, ein Largo, ist persönliche Bekenntnismusik. Hier  legt Schostakowitsch seinen Gemütszustand offen. Die Agitatoren der vorangegangenen Sätze, Blechbläser und Schlagwerk, schweigen in diesem Satz. Melodien der Violinen und einzelner Holzblasinstrumente ziehen einsame Kreise über einem kargen Klangboden der Begleitung. Ein Streicherchor führt zu einem erschütternden Ausbruch. Verzweiflung spricht aus diesen vom Xylophon unterstützten Aufschreien. Thematische Verwandtschaften zum ersten Satz und zur «offiziellen» Darstellung der Maifeiern in der dritten Symphonie sind wohl kein Zufall. Hier reflektiert Schostakowitsch – also eine Person des öffentlichen Lebens, mit der sich sogar das Staatsoberhaupt befasst – den Zwiespalt zwischen eigener Meinung und verordneter Ideologie. Die dritte Symphonie war in einer Zeit entstanden, in der unter den Künstlern noch eine gewisse Euphorie über den politischen Aufbruch in der jungen Sowjetunion herrschte. Ein paar Jahre später war Schostakowitsch bereits desillusioniert und schrieb diesen tief tragischen, traurigen, persönlichen Satz.

Als Schostakowitsch im August 1975 starb, weilte Leonard Bernstein bei den Salzburger Festspielen und probte mit dem London Symphony Orchestra. Am Abend des Konzerts führten Bernstein und das Orchester in Gedächtnis an Schostakowitsch das Largo aus der fünften Symphonie auf, das in dieser Situation seine Züge eines Requiems offenbarte. Schostakowitsch gedachte wohl mit dieser Musik den vielen Freunden, die Opfer des Stalin-Regimes wurden.

Nach dieser Trauermusik bricht in der Symphonie das Finale los, das nach der offiziellen Lesart den Durchbruch zum Licht und den Sieg bringt (welchen Sieg auch immer). Doch aus einer anderen Komposition, die Schostakowitsch einige Jahre später schuf, kann man ableiten, was es mit diesem Finalsatz der fünften Symphonie wirklich auf sich hat. 1942, während des Weltkriegs, als Schostakowitsch mit seiner Familie aus der von den Deutschen belagerten Stadt Leningrad nach Kujbyschew weitab vom Kriegsgeschehen evakuiert wurde, beschäftigte er sich dort neben der Fertigstellung seiner siebten Symphonie mit englischen Dichtungen, etwa von dem Schiller-Zeit-genossen Robert Burns, von dem er unter anderem das Gedicht «MacPhersons Abschied» vertonte und in seinen Liederzyklus op. 62 einfließen ließ. In diesem Gedicht wird geschildert, wie der schottische Freibeuter MacPherson seiner Hinrichtung entgegengeht:

«So furchtlos, so trotzig, schritt er dem Galgen entgegen.» Unter  dem Galgen hat MacPherson angeblich noch ein selbstverfasstes Abschiedslied vorgetragen und dann seine Fiedel über dem Knie zerbrochen. Eine makabre Analogie: Der Schwanengesang vor der Hinrichtung. Schostakowitsch widmete MacPherson ein von persönlicher Betroffenheit gezeichnetes, makabres Scherzo. Die Hauptmelodie dieses Liedes ähnelt sehr stark dem Hauptthema des Finales der fünften Symphonie. In dem vermeintlich festlichen Finalmarsch marschieren also offenbar auch verurteilte Freigeister zum Richtplatz.

Unter diesem Gesichtspunkt klingt die triumphierende Trompetenmelodie des Finales, von Jubelgesten der Violinen und anderen Blechbläsern unterstützt, schaurig. Man kann das auch so deuten: Hier applaudieren Ahnungslose der Massenvernichtungsmaschi-nerie, die ein Diktator in Gang gesetzt hat.

Eigentlich zwangsläufig mündet dieser erste Teil des Finales in einen Zusammenbruch und im martialischen Rhythmus aus dem  ersten Satz. Das Finale versinkt daraufhin in einen ruhigen Mittelteil, zieht sich schockstarr zurück. Das Horn spielt das zuvor triumphal von der Trompete geblasene Thema wie einen Bittgesang. Mit Harfenklängen geht diese stille Episode zu Ende. Dann erklingt die Trommel. Vorwärts zum Sieg, zur Apotheose!

Aber man spürt es ganz deutlich: Das ist verordnet. Ein Befehl zum Jubel. Die Schritte des nun einsetzenden Marsches klingen schleppend und erzwungen. Mechanisch wird dann eine hymnische Motivfloskel an die andere gereiht. Man muss unwillkürlich an die Eröffnungsszene aus Modest Mussorgskis Oper «Boris Godunow» denken, wenn das Volk zum Bittgebet und zum Bejubeln der Herrschenden gezwungen wird. Das ist die russische Tragödie, wie sie auch schon aus so manchen symphonischen Sätzen Tschaikowskis herauszuhören ist: Der triumphierende Marsch im dritten Satz der «Symphonie Pathétique» stürzt plötzlich über vier Oktaven abwärts ins Bodenlose; und das Volksfest im Finale der vierten Symphonie dreht sich immer schneller und schneller bis zur blinden Ohnmacht. Im Finale von Schostakowitschs fünfter Symphonie wird es eine symphonische Fahrt durch ein Potemkinsches Dorf. Der Glanz ist nur eine dünne Fassade, dahinter tun sich Abgründe auf. – Wie mit Schlägen von Galeerentrommeln wird die Musik in einem hohlen Triumphzug vorangepeitscht. In diesem vermeintlichen Jubel erklingt die Tragödie.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Rainer Lepuschitz