Pjotr Iljitsch Tschaikowski

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23

Sätze

  • Allegro non troppo e molto maestoso

  • Andantino semplice

  • Finale. Allegro con fuoco

Dauer

32 Min.

Entstehung

1874/75

Pjotr Iljitsch Tschaikowskis erstes Klavierkonzert ist eine der gelungensten Kompositionen dieser Gattung und zweifellos das berühmteste Instrumentalkonzert des 19. Jahrhunderts. Fast so berühmt wie der legendäre Anfang des Konzerts ist seine Entstehungsgeschichte. Denn die selbstverständliche Regelmäßigkeit, mit der es in heutigen Spielplänen zu finden ist, war dem Konzert nicht in die Wiege gelegt. Im Gegenteil: Tschaikowskis allererste Präsentation des Werks im privaten Rahmen für seinen Förderer und Gönner Nikolai Rubinstein war Anlass für eine der kapitalsten Fehleinschätzungen, die einem Musiker je widerfahren ist.

Doch der Reihe nach: Tschaikowski begann im Winter 1874/75 mit der Arbeit an seinem Klavierkonzert und war zu dieser Zeit noch wenig erfahren im Umgang mit dem Klavier. Schriftliche Notizen und Pläne für das Werk gibt es kaum; erst Jahre später formulierte er seine Vision an seine enge Vertraute Nadeschda von Meck, an die er schrieb: «Das Verhältnis von Klavier und Orchester ist ein Kampf zweier ebenbürtiger Kräfte.» Es gehe um ein «gewaltiges, an Farbenreichtum so unerschöpfliches Orchester, mit dem sich der kleine, unscheinbare, doch geistesstarke Gegner auseinandersetzt und auch siegt, wenn der Pianist begabt ist. In diesem Ringen steckt viel Poesie und eine Unmenge verführerischer Kombinationsmöglichkeiten.» Auch wenn die Ausformulierung dieser Auffassung erst später erfolgte, so komponierte Tschaikowski sein Klavierkonzert doch ganz aus dieser Haltung heraus: als noblen Wettstreit. Seinem Bruder Anatol schrieb er im Dezember 1874: «Ich bin ganz in die Komposition eines Klavierkonzerts versunken. Ich wünsche sehr, dass es Rubinstein in seinem Konzert zum Vortrag bringt. Die Arbeit geht aber nur recht langsam vorwärts und will mir nicht recht gelingen. Ich bleibe aber meinem Prinzip treu und zwinge meinen Kopf, Klavierpassagen auszutüfteln: das Resultat davon ist eine gelinde Nervosität.»

Ursprünglich war das Werk dem Pianisten Nikolai Rubinstein zugedacht, seinem Förderer und Direktor des Moskauer Konservatoriums. Dem Treffen mit dem berühmten Musiker fieberte Tschaikowski entgegen; umso größer war die Bestürzung, dass dieser kaum ein gutes Haar an dem Konzert ließ. Aus einem weiteren Brief an Nadeschda von Meck wissen wir von Tschaikowskis Gefühlen während dieses Treffens: «Im Dezember hatte ich damals mein Klavierkonzert beendet. [Anm.: Tschaikowski irrte sich hier. Das Treffen dürfte frühestens im Jänner 1875 stattgefunden haben.] Da ich kein Pianist bin, wollte ich meine Kompositionen einem Klaviervirtuosen zeigen, damit er mir sage, ob alles aufführbar, effektvoll und dankbar sei. Ich wusste, dass Nikolai Rubinstein nicht verfehlen würde, seine Launen spielen zu lassen. Da er aber der größte Pianist von Moskau ist, entschloss ich mich doch, ihn zu bitten, mein Konzert anzuhören. Er wäre auch sehr beleidigt gewesen, wenn ich einen anderen Pianisten aufgesucht hätte. Ich spielte ihm den ersten Satz vor. Kein Wort, keine Bemerkung! Wenn Sie wüssten, wie dumm man sich vorkommt, wenn der Freund die für ihn zubereitete Speise einfach verzehrt und dann schweigt!

Sag doch, mein Freundchen, irgendetwas! Schimpfe meinetwegen, aber schwei­­ge doch nicht! Ich nahm mich indessen zusammen und spielte bis zum Ende. Abermals Schweigen … Ich stand auf und fragte, was denn? Rubinstein fing an zu reden, zunächst leise, dann immer lauter werdend bis zum Jupiterton. Er sagte mein Konzert sei schlecht, unspielbar, die Läufe abgedroschen und ungeschickt, die Erfindung schwach. Gestohlen hätte ich auch hier und dort. Ich war erstaunt und beleidigt. Schweigend ging ich hinaus. Ich war einfach wütend. Später sagte er mir, er wäre bereit, mein Konzert zu spielen, wenn ich dies und jenes ändern wollte. Ich ändere keine einzige Note, erwiderte ich ihm, das Konzert bleibt so, wie es ist.»

Was immer auch den großen Nikolai Rubinstein zu seiner Meinung veranlasst haben mochte – er blieb glücklicherweise einer der ganz Wenigen, die das Werk ablehnten. Und noch glücklicher dürfen wir uns fühlen, dass der sonst zu Änderungen und Kompromissen durchaus bereitwillige Tschaikowski hier nicht nachgab und an seiner Konzeption des Konzerts festhielt. Die Widmung wurde kurzerhand aus der Partitur ausgestrichen, Tschaikowski bot das Werk dem Pianisten und Dirigenten Hans von Bülow an, der sich überaus erfreut und dankbar zeigte, das Werk am 25. Oktober 1875 in Boston mit großem Erfolg zur Uraufführung zu bringen. Nach weiteren drei Jahren fand das Klavierkonzert seinen endgültigen Durchbruch in Europa. Es ist das bis heute am meisten auf Tonträger verkaufte Instrumentalkonzert.

Das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-moll zeichnet sich durch seine kraftvolle, unverbrauchte Grundstimmung aus, die häufig ins Träumerische mäandert, aber niemals ihren Optimismus verliert. Tschaikowskis Instrumentationskunst, seine meisterhafte Behandlung des Orchesters und die Verflechtung des Dialogs zwischen dem Solopart und dem ganzen Ensemble zeugen von seinem Genius. In diesem Klavierkonzert gehen das Subjektive und die Konvention ein neues Verhältnis ein; die Proportionen sind ungewöhnlich, die harmonischen Spannungen stark.

Im ersten Satz (Allegro non troppo e molto maestoso) tragen helle Fanfarenklänge eine der berühmtesten Eröffnungen des klassischen Konzertrepertoires vor. In Des-Dur, der großterzverwandten Tonart der Grundtonart b-moll, erklingt schließlich das von Streichern gespielte weltbekannte Thema, das von einem mondänen, weltoffenen Nimbus umgeben ist. Dass die Melodie aus der russischen Provinz stammt, würde man niemals erraten. Tschaikowskis Bruder Modest wusste aber zu berichten, dass Pjotr während eines Sommeraufenthalts in Kamenka einer Gruppe von blinden Bettlern beim Musizieren zuhörte und diese Melodie sofort notierte. Tschaikowski bearbeitete das ursprünglich breit und episch angelegte Volkslied, veränderte es in eine leicht schwebende Melodie, die ihren kapriziösen Reiz im Dialog zwischen Klavier und Holzbläsern entfaltet, ehe sie sich in den Oktavklängen des Soloinstruments verliert.

Das Klavier begleitet mit kraftvollen Akkorden, die den vollen Umfang der Tastatur abdecken, das schwungvolle Thema und greift den musikalischen Gedanken anschließend auf. Der erste Satz ist nach dem klassischen Kontrastprinzip aufgebaut. Die Kombattanten, Solist und Orchester, fallen sich nicht vornehm ins Wort, fechten nicht graziös miteinander, sondern preschen voran, umschlingen sich und aus dem Gegeneinander wird ein ekstatisches, atemloses Miteinander. Obgleich nichts vom Themenmaterial der Einleitung in die weitere Komposition Eingang findet, wird sie doch für den Gesamtgestus des Konzerts bestimmend: Hier wie überall die quasi improvisierenden Monologe des Klaviers, die sprechenden Instrumentalrezitative, das dialogische Miteinander von Soloinstrument und Orchester.

Nach der rhythmisch pointierten Einleitung und dem virtuos-schwungvollen Hauptthema wird ein lyrischer Gedanke voller Melodieseligkeit vorgestellt. Gewaltige Steigerungen charakterisieren die Durchführung, die eingestreuten Solopartien und die Schluss­-kadenz sind zweifellos von Robert Schumann beeinflusst. Der Kopfsatz nimmt in etwa drei Fünftel der gesamten Spieldauer des Konzerts ein und sprengt damit in vielerlei Hinsicht das damals übliche Maß der Dinge. Tschaikowskis Sinn für Dramatik und seiner wortlosen Erzählkunst ist es jedoch zu verdanken, dass jede Sekunde mit größter Spannung erfüllt ist, wie übrigens das gesamte Konzert von einer Stimmung des «Vorwärtsdrängens» getragen wird.

Der zweite Satz (Andantino semplice) hebt mit einer von der Flöte intonierten lyrisch-zarten Weise an, die eine kontemplative Stimmung erzeugt. Violoncello und Oboe nehmen das Thema auf, das vom Klavier mit hellen Arabesken umspielt wird. Im schnellen Scherzo-Mittelteil huscht ein Walzer vorüber, der auf ein französisches Chanson zurückgeht, das von Tschaikowski und seinen Brüdern gern angestimmt wurde: «Il faut s’amuser, danser et rire» («Man muss sich amüsieren, tanzen und lachen»). Dieser sich in einem Fortissimo-Schlag entladende Übermutsausbruch bildet den scherzohaften Kontrapunkt zur anmutigen, kammermusikalisch zarten Gesamtanlage des Satzes, einem gelösten Zusammenspiel von Orchester und Solist, einem einander Zu­singen, Zuhören, Abnehmen und Aufgreifen der musikalischen Gedanken. Es handelt sich um zwei Optionen der Selbstvergessenheit: sich in dialogischer Zweisamkeit zu verlieren oder sich ins Amüsement zu stürzen. Schwärmerisch klingt der Satz aus.

Das Finale (Allegro con fuoco) setzt wild und ungestüm ein. In Rondo-Form präsentieren sich zwei Themen; das erste ein ukrainisches Frühlingslied, das zweite dem Volkston frei nachempfunden. Klavierpart und Orchestertutti verhalten sich wie ein solistischer Vorsänger und der ihm antwortende Chor. Auch im Finale weiß sich das zweite Thema durchzusetzen, führt zu einer hymnischen Steigerung und zu einem die Themen synthetisierenden Finale. Es kündet von der glücklichen Übereinstimmung des Einzelnen mit dem Ganzen.

Hans von Bülow, der das Konzert uraufführte, schrieb: «Die Ideen sind so originell, so edel, so kraftvoll, die Details, welche trotz ihrer großen Menge der Klarheit und Einigkeit des Ganzen durchaus nicht schaden, so interessant. Die Form ist so vollendet, so reif, so stilvoll – in dem Sinne nämlich, dass sich Absicht und Ausführung überall decken. Ich würde ermüden, wollte ich alle Eigenschaften Ihres Werkes aufführen, Eigenschaften, welche mich zwingen, dem Komponisten sowie allen denjenigen, welche das Werk ausführend oder aufnehmend genießen werden, in gleichem Maße meine Gratulation darzubringen.»

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore

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