Thomas Larcher

Konzert für Violine und Orchester

Sätze

  • Slow. Very fast

  • Flowing. Slow, static. Double Tempo

Dauer

24 Min.

Entstehung

2008

Komponiert hat Thomas Larcher schon als Kind. Doch erst mit Anfang vierzig begann er, seine musikalischen Formate zu vergrößern und sich eingehender mit Orchesterwerken zu beschäftigen. Inzwischen ist das Genre des Solokonzerts mit fünf originellen Beiträgen vertreten. Offensichtlich ist die Konfrontation des Einen mit den Vielen ein starkes Stimulans für die Kreativität des Komponisten: Nicht nur die psychologischen Implikationen des konzertanten Mit- und Gegeneinanders interessieren Larcher, Momente von Isolation und Ausgrenzung etwa oder das Ringen um Dominanz - oder aber, andersherum, die Überwältigung des Einzelnen durch das Kollektiv. Nicht minder reizvoll ist es, das Orchester so aufzufächern, dass die große Besetzung selbst als eine Versammlung von mehr oder minder zur Einheit verschmelzenden Individuen erscheint. Unterschiedlichste Instrumente können sich solistisch hervortun, verbinden sich in variablen Gruppierungen und bringen pointierte und vor allem hoch differenzierte Äußerungen hervor.

Die Aufgliederung der orchestralen Kräfte hat natürlich auch mit der Sorge um das alte Balanceproblem des Solokonzerts zu tun. Gewiss, wenn sie das Soloinstrument förmlich «unter Druck setzen» soll, kann die schiere Lautstärke des Klangkörpers eine spezifische Ausdrucksqualität transportieren. Andererseits besteht aber immer die Gefahr, dass die Entfaltung des eigentlich im Mittelpunkt stehenden Parts vom Orchester allzu sehr eingeschränkt wird. Im meisterlichen Klavierkonzert «Böse Zellen» von 2007 und auch im rasch danach entstandenen Violinkonzert für Isabelle Faust setzt Larcher neben den doppelten Bläsern eine reduzierte Streicherbesetzung mit nicht mehr als sechs respektive acht ersten Geigen ein - vergleichsweise kleine Register also, die über weite Strecken auch nicht als geschlossene Gruppe verwendet, sondern vielfach geteilt werden. Dies ermöglicht eine kammermusikalische Transparenz, die lediglich an dramaturgisch herausgehobenen Stellen massiveren Klangwirkungen Platz macht. Die außergewöhnliche Farbigkeit des Orchestersatzes rührt überdies von Instrumenten her, die im klassischen Solokonzert selten bis nie vorkamen: Die Palette umfasst Harfe, Klavier, Celesta und Akkordeon, dazu fünf Kalimbas - afrikanische Daumenklaviere - Kuhglocken, Flexaton, Wassergong, Vibraphon, Marimba, Crotales, Peitsche, Ratsche und Bratpfanne.

Die Geige, das höchste Instrument der Streicherfamilie, entspricht Larchers Vorliebe für blendend helle, bewusst angeschärfte, ja schrille Timbres in idealer Weise. Dennoch klingt die immense Repertoiretradition des 19. und frühen 20. Jahrhunderts stets mit - sei es die lyrische Intensität der Kantilene, die auftrumpfende Virtuosität athletischer Doppelgriffpassagen oder auch das folkloristisch-tänzerische Idiom des Balkans, in dem die Geige seit jeher eine zentrale Rolle spielt. Die mit «Slow» bezeichnete Eröffnung des Violinkonzerts bildet eine jener weiträumigen Idyllen, die bei Larcher an dieser Stelle häufiger begegnen. Sie scheinen so etwas wie einen angst- und sorgenfreien Urzustand zu schildern, vielleicht auch den Frieden vor den unweigerlich sich einstellenden Albträumen. Die ersten Takte der Violine zeichnen einen e-Moll-Dreiklang nach - gerade so, als ertasteten sie zufällig das Grundthema des ersten Contrapunctus aus Bachs «Kunst der Fuge». Sanft mischen sich weitere Instrumente mit Umspielungen des Dreiklangs ins Geschehen, während erst die Celesta, dann auch die Violine Ausschnitte aus der absteigenden e-Moll-Tonleiter ins Spiel bringen. Diese überaus suggestive Einleitung baut auf dem in den 1970er Jahren von dem Esten Arvo Pärt entwickelten «Tintinnabuli»-Stil auf. Tintinnabuli - abgeleitet vom lateinischen Wort «tintinnabulum» für «Klingel», «Schelle» - meint jene Satzweise, bei der eine Stimme sich in Dreiklängen bewegt, während die andere gleichmäßig den Schritten der diatonischen Skala folgt. Der Komponist legt mehrere solcher Bewegungen in unterschiedlichen rhythmischen Einheiten übereinander. Mittels subtiler Wechsel der Instrumentation versetzt er das vermeintlich grenzenlose Klangband in schwebende Rotation.

Typisch für Larchers Dramaturgie eines extremen emotionalen Tidenhubs: Der direkt anschließende schnelle Teil mit der Überschrift «Very fast» bringt einen polaren Kontrast in Bezug auf Tempo und Artikulation, Dynamik und Ausdruck. Schien die Musik gerade noch in der meditativen Ruhe mystischer Einkehr zu verharren, so kündigen die launigen Portamenti der Geige, die scharfen Akzente und energischen Rhythmen nun eine beinahe derbe Musiziersituation an. «Angeregt durch rumänische Volksmusik und deren Fortführung durch Béla Bartók, György Ligeti und andere, wollte ich versuchen, diese archaische Energie (wieder einmal) zu bündeln, zu fokussieren, auf den Boden zu bringen», schreibt Thomas Larcher in seinem Werkkommentar. Die manisch vorwärtsdrängende, in ihrer entfesselten Energie wie leerlaufende Bewegung des Soloparts kommt auf dem stratosphärisch hohen, viergestrichenen «c» vorübergehend zum Stillstand. Dazu lassen die mit Trommelschlägeln angeschlagenen Kuhglocken leise ein stoisches Pochen ertönen: Die Zeit steht, aber die Uhr tickt. Sogleich bereitet sich im Orchester eine weitere Steigerungswelle vor.

Auch der zweite Satz, «Flowing» überschrieben, setzt bei einem Gestus aus ferner Vergangenheit an. Larcher schreibt eine Passacaglia im Dreivierteltakt, eine Folge von Variationen über ein Bassmodell also. Passacaglien waren im Barockzeitalter sehr verbreitet; bekanntlich gestaltete Brahms das archaisierende Finale seiner vierten Symphonie nach diesem Konzept, und Dmitri Schostakowitsch nahm es unter anderem in seiner achten Symphonie und im ersten Violinkonzert wieder auf. Schostakowitschs Passacaglien erklingen in Situationen, in denen das Erlebnis schicksalhaft-tragischer Unausweichlichkeit zu vermitteln ist. Larchers Satz erzielt eine ganz ähnliche Wirkung. Sein «Bass» - in Wahrheit wird das harmonische Gerüst in unterschiedlichen Lagen und in wechselnder Instrumentation präsentiert - durchschreitet in zwölf Takten den Quintenzirkel. Auf jeden Takt fällt anfangs ein anderer Dur- oder Mollakkord. Dabei steigt die Tonfolge von C aus in Quinten auf und dann in Quarten wieder ab, sodass alle Töne der chromatischen Skala durchschritten werden. Indem die Variationen sukzessive höher ansetzen, schraubt sich die Musik in Halbtönen eine Oktave nach oben.

Über bizarre, mitunter stark geräuschhafte Scherzando-Passagen, in denen Zitatsplitter aus Beethovens neunter Symphonie und dem erwähnten ersten Violinkonzert Schostakowitschs aufblitzen, erreicht die Entwicklung beim Grundton «fis» - auf halber Strecke zwischen dem unteren und dem oberen «c» - eine katastrophische Klimax, leicht zu erkennen an einem gewaltigen Schlag des Tamtams. Larcher beschreibt diesen Moment als eine Art «Mitternacht», «bei deren Eintritt alle Uhren zwölf schlagen». In Klavier und Schlagwerk sind diese «Uhren» tatsächlich zu vernehmen - eine feine Huldigung an die Symmetrieachse im «Adagio» von Alban Bergs Kammerkonzert, wo das Klavier auf ganz ähnliche Weise die tiefste Nacht markiert. An diesem Punkt habe er die Entwicklung stoppen müssen, so Larchers Aussage im Werkkommentar: «Es ist, als hätte der Eintritt der Mitternacht ein Loch in die Erdkruste gerissen, ein Loch der Verwirrung, in das alle und vor allem das Soloinstrument hineingezogen werden.»

Die letzten Minuten lösen die eben noch so kompakten motorischen Impulse in Klangflächen aus zart verwischten Lasuren auf. Zwischen auf und nieder schweifenden Glissandi der Sologeige bringen sich auch die gebrochenen Molldreiklänge des ersten Anfangs wieder in Erinnerung. Bricht da ein neuer Morgen an? Das Spiel könnte jedenfalls von Neuem beginnen.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H.| Anselm Cybinski

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