Pjotr Iljitsch Tschaikowski

«Romeo und Julia» Fantasie-Ouvertüre

Sätze

  • Andante non tanto, quasi moderato - Allegro giusto - Moderato assai

Dauer

18 Min.

Entstehung

1870/1871/1880

Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Beziehung zu Milij Balakirew war komplex, ja schwierig. Balakirew, sprühend vor Originalität und Leidenschaft, hatte sich als maßgeblicher Kopf des so genannten «Mächtigen Häufleins», jener Gruppe mit Aleksandr Borodin, Modest Mussorgski, Cesar Cui und Nikolai Rimski-Korsakow, der Gründung einer nationalen Komponistenschule verschrieben, die nicht mehr westeuropäischen akademischen Regeln gehorchte, sondern auf Basis russischer Volksmusik zu genuinem Ausdruck finden sollte. Jemand mit fundierter musikalischer Ausbildung wie Tschaikowski musste ihm von vornherein suspekt sein; dessen Talent schätzte er jedoch sehr wohl, und er versuchte, ihn für seine Sache zu gewinnen. Tschaikowski wiederum gierte nach Anerkennung, wollte aber die dilettantischen Züge im Anti-Akademismus des Balakirew-Kreises nicht akzeptieren: Kenntnis und Techniken der europäischen Musikgeschichte schienen ihm unerlässliche Werkzeuge für die Entwicklung einer nationalen Kunstmusik, wenn diese höchsten Ansprüchen genügen sollte. Dennoch blieb es einzig und ausgerechnet Balakirew vorbehalten, Tschaikowski zu mehrfacher Umarbeitung eines Stücks zu bringen: Es handelte sich um die Fantasie-Ouvertüre zu Shakespeares «Romeo und Julia», Tschaikowskis erstem Meisterwerk voll leidenschaftlicher Intensität.

Balakirew hatte gerade die Widmung seines «Fatum» angenommen und die symphonische Dichtung im März 1869 in St. Petersburg dirigiert, gleichzeitig aber nicht mit bissiger Kritik gespart («nicht durchdacht genug und in Eile ge­schrieben»). Tschaikowski reagierte denkbar verunsichert, ja stürzte sogar in eine Schaf­fenskrise, nahm im August aber ­Bala­kirews Anregung zu einer «Romeo und Julia»-Kom­posi­tion dankbar an, bei der sich dieser gleich zu Beginn ein «wütendes Allegro mit Säbelhieben» wünschte. Immer noch irritiert, schrieb Tschaikowski im Oktober, es gehe ihm mit seinen Kom­­po­sitionsversuchen «wie dem Müt­terchen, welches seine un­ge­ratene Tochter so zum Ball führt, wie sie ist und sich bemüht, in dem Buckel und den Warzen noch etwas Anziehendes zu finden». Balakirews Ansturm, ihm die Skizzen zur Begutachtung zu schicken, hielt er längere Zeit stand, obwohl dieser sein Ehrenwort gab, keine Kritik zu äußern. Schließlich gab Tschaikowski doch nach – und Balakirew vergaß natürlich alle Versprechungen: «Das erste Thema gefällt mir gar nicht […], es hat den Charakter von Quartett-Themen Haydns, des Genies der spießbürgerlichen Musik, welche einen starken Durst nach Bier erweckt. […] Das erste Des-Dur-Thema ist sehr schön, wenn auch etwas verwest, aber das zweite in Des-Dur ist einfach wundervoll. Ich spiele es sehr oft und möchte Sie dafür abküssen. […] Wenn ich es selbst spiele, stelle ich mir vor, wie Sie in der Badewanne liegen und Artiha Padilla selbst Ihnen ihr Bäuchlein mit wohlriechendem Seifenschaum wäscht.» Ein denkbar herablassendes, zuletzt gar schlüpfriges Lob – hatte sich Tschaikowski mehr Anerkennung erwartet?

Erneut schmerzte ihn die Kritik, doch ließ er sich nicht mehr lähmen. Er komponierte stattdessen eine neue Einleitung (Andante non tanto, quasi moderato) im Stil einer alten (russischen) Choralmelodie, die im Geiste Liszts ein zweites Mal in anderer Tonart ansetzt – eine schmerzliche Vergangenheit scheint beschworen, gleichzeitig aber der Blick in die Ewigkeit gerichtet. Der Hauptteil (Allegro giusto) dieses adaptierten Sonatensatzes versinnbildlicht die wilden Kämpfe der verfeindeten Familien der Montagues und Capulets, bevor das zweite Thema die Liebe von Romeo und Julia aufblühen lässt. Diese beiden unversöhnlichen Welten prallen in der Durchführung aufeinander, aber Synthese kann es keine geben: Totenklage und Verklärung des Paars finden in der Coda (Moderato assai) ihren ergreifenden Ausdruck. Doch nicht der ursprünglich vorgesehene Trauermarsch, sondern brutale Orchesterschläge bilden den Schluss – die schmerzhafte Realität behält das letzte Wort.

© Grafenegg Kulturbetriebsges.m.b.H. | Walter Weidringer

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