Charles Ives

Symphonie Nr. 2

Sätze

  • Andante moderato –

  • Allegro molto (con spirito)

  • Adagio cantabile

  • Lento maestoso

  • Allegro molto vivace

Dauer

40 Min.

Entstehung

1900

«Long, long ago»: Hierzulande kennt man diese Hymne der Nostalgie mit dem Text «Lang, lang ist’s her», hält sie für ein deutsches Volkslied und erinnert sich, dass diverse Schlagersängerinnen und -sänger damit Evergreen-Erfolge feiern konnten. Der Song stammt jedoch ursprünglich vom 1839 verstorbenen Engländer Thomas Haynes Bayly, der nicht nur bei uns so gut wie vergessen ist. Seine Schöpfung jedoch wurde allgemein bekannt: In den USA ging das «Long, long ago» um die Mitte des 19. Jahrhunderts in jenes Reservoir von (Volks-)Liedern, Märschen und Kirchengesängen ein, das den Eingewanderten und ihren Nachkommen als kulturelles Gemeingut galt.

Aus diesem schöpfte dann der Komponist Charles Ives: Seine zweite Symphonie, rund um 1900 auf der Basis einer Reihe von älteren Werken entstanden, enthält in der Regel keine eigentlichen Zitate. Eher biegt Ives sich allerlei populäre Melodien zurecht, die zwischen Prärie und Saloon, Kirche und Jahrmarkt kursierten, oder er fragmentiert und setzt die Teile anders zusammen: Wer in dem Repertoire bewandert ist, kann etwa «Turkey in the Straw» heraushören, «Pig Town Fling», «Old black Joe», «Massa’s in de cold Ground», «Nettleton», «Wake Nicodemus», «Bringing in the Sheaves», «Where, o where are the Pea-green Freshmen?» und vieles mehr. Zum Verständnis nötig ist das alles ebenso wenig wie die Tatsache, dass Ives das mit Einsprengseln europäischer Kunstmusik vermischt, beispielsweise von Bach, Beethoven und Brahms. Denn es gelingt ihm, das Ganze in etwas Neues, Eigenes, Tiefes zu verwandeln. Man mag es eine vorweggenommene Postmoderne nennen; passender ist vermutlich, diesen integrativen Kunstbegriff als ein musikalisches Äquivalent zum viel zitierten Schmelztiegel USA zu begreifen. Jedenfalls lassen sich mühelos Parallelen zum Schaffen des 14 Jahre älteren Gustav Mahler ziehen, der in seine Symphonien auch die Klänge seiner Welt integriert hat: vom Naturlaut bis zu Volksliedtonfall und Wirtshaustanz, von Klezmer und Militärmusik bis zum Choral.

Aber hier wie dort verbinden sich die Elemente neu. Wenn in Ives’ zweiter Symphonie am Höhepunkt des Volksfest-Finales die Posaunen sogar noch den zuvor schon immer wieder angedeuteten Marsch «Columbia, the Gem of the Ocean» als ausführlichen Kontrapunkt schmettern, ist das für ihn in dieser Deutlichkeit eher die Ausnahme. Es führt aber, dem allgemeinen F-Dur-Feuerwerk zum Trotz, gewissermaßen logisch zum letzten Akkord, einer witzig-schrillen Dissonanz. Alle Zwölfe? Nein, nur elf – der Ton H fehlt. Systematiker wie sein Jahrgangskollege Arnold Schönberg war Ives eben nicht, zumindest nicht in der Musik. Apropos Schönberg: Der schrieb einmal in der Emigration in den USA die bewundernden Worte: «Ein großer Mann lebt in diesem Lande – ein Komponist. Er hat das Problem gelöst, wie man sich selbst treu bleiben und wie man lernen kann. Er reagiert auf Vernachlässigung mit Verachtung. Er braucht weder Lob noch Tadel zu akzeptieren. Sein Name ist Ives.»

Charles Ives gehört zu den immer noch zu wenig bekannten und erforschten, aber ungemein faszinierenden Komponistenpersönlichkeiten rund um die vorletzte Jahrhundertwende – und ist ein treffliches Beispiel dafür, dass die fanalartigen Anbrüche der Moderne sich nicht nur in den Musentempeln des alten Europas vollzogen haben, sondern fallweise auch am Schreibtisch eines US-amerikanischen Versicherungsexperten ersonnen worden und dann in der Schublade gelandet sind. Denn als solcher war der 1874 in Danbury, Connecticut, als Sohn eines Militärkapellmeisters geborene Charles Ives in seinem einträglichen Brotberuf tätig. Der unkonventionelle Musikbegriff, den sein Vater pflegte, hatte bestimmenden Einfluss: Gerne wird die Anekdote erzählt, George Ives habe seinen Sprössling auf den heimischen Kirchturm mitgenommen, während auf seine Veranlassung hin verschiedene Blasmusikgruppen durch den Ort marschierten und sich die gespielte Musik auf charakteristische Weise mischte. Polymetrik und Bi- oder Polytonalität waren vor diesem Hintergrund keine besonders modernistischen Techniken, sondern ganz natürliche Phänomene.

Der innovativen Haltung des Vaters blieb Ives auch nach dessen frühem Tod treu. In der Folge machte er die Musik zwar nicht zu seinem Beruf, jedoch zu seiner Leidenschaft. Er könne doch Frau und Kinder nicht an den eigenen Dissonanzen verhungern lassen, schrieb er als noch lediger Student kurz vor seinem Abschluss 1898. Ives ging danach ins Versicherungswesen und machte sich dort einen Namen mit seinen auf Wahrscheinlichkeitsrechnung basierenden Lebensversicherungssystemen. Als Komponist hingegen experimentierte er bis Mitte der 1920er-Jahre in seinen vielfach vorerst unbeachtet gebliebenen, zum Großteil programmatisch konzipierten Werken etwa mit Vierteltönen und der Einbeziehung des Zufalls. Dann jedoch gab er die Musik auf, nicht zuletzt aus gesundheitlichen Gründen. Erst spät erlangte Ives größere Bekanntheit: Viele seiner Ideen bildeten die Grundlage für John Cages offene Konzepte, mit denen dieser die europäische Avantgarde aufmischte. Zu den zentralen Themen in Ives’ Schaffen zählt tatsächlich das genuin Amerikanische.

Das hört man auch seiner zweiten Symphonie deutlich an, dem ersten großen Werk, das Ives nach dem Studium komponiert hat, dessen Uraufführung aber erst wesentlich später stattgefunden hat: 1951, mit dem New York Philharmonic unter Leonard Bernstein. Ives, damals im 76. Lebensjahr, war nicht zu dem Konzert angereist, das ihn und sein Schaffen aus der Obskurität holen konnte: Er begnügte sich mit der Radioübertragung, die er ebenso wortlos quittiert haben soll wie den Jubel des Publikums.

Die Symphonie umfasst fünf Sätze, wobei die ersten beiden ohne Pause aufeinanderfolgen und sich ausnehmen wie eine enorme langsame Einleitung, die vom eigentlichen, raschen ersten Satz gefolgt wird. Das eröffnende Andante moderato besitzt ernsten Charakter und steigt kontrapunktisch aus den tiefen Streichern empor. Das Geschehen verdichtet sich und lässt schon Anklänge an den «Columbia»-Marsch aufblitzen, die sich später mehren werden.

Wie eine heitere Spritztour an einem sonnigen Sonntagnachmittag beginnt dagegen das unmittelbar anschließende Allegro, das als Kontrast die liedhaft schlichten Holzbläser ins Rampenlicht bittet. Der Satz steigert sich zuletzt hymnisch und verflüchtigt sich dann mit knapper Geste. Im Adagio cantabile tauchen nicht zuletzt Fragmente von «America, the beautiful» in einer innigen, pastoralen Szenerie auf. Ins Ernste, Herbe wandelt sich dies im kurzen Lento maestoso, seinerseits eine Art von Einleitung zum letzten Satz. Der Stimmungsumschwung, den der «Columbia»-Marsch hier verheißt, tritt dann wirklich mit dem Finale ein.

In diesem brillanten Allegro molto vivace wirbeln allerlei Themen kontrapunktisch durcheinander, schon bekannte ebenso wie neue: ein wahrer Jahrmarktstrubel der Ausgelassenheit, der aber auch wunderbar lyrisch ausbalanciert wird, etwa durch das eingangs genannte «Long, long ago». Die verschiedensten Motive und Melodien scheinen miteinander zu konkurrieren und doch aufs Schönste, Ausgelassenste ineinanderzugreifen. Und der gleichfalls schon angesprochene, wild dissonante Schlussakkord versetzt den sogenannten «Bronx cheer» in den Konzertsaal: eine angeblich bei Sportveranstaltungen im New Yorker Stadtteil Bronx populär gewordene Geste für ernst oder humorvoll gemeinte Ablehnung in Form eines nachgeahmten Furzgeräuschs. Auf Leonard Bernstein geht die Tradition zurück, den eigentlich nur als Achtelnote in der Partitur verzeichneten Akkord lang auszudehnen. Was Charles Ives davon gehalten hat, ist nicht überliefert.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Walter Weidringer

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