Carl Nielsen

Symphonie Nr. 2 op. 16 «Die vier Temperamente»

Sätze

  • Allegro collerico

  • Allegro comodo e flemmatico

  • Andante malincolico

  • Allegro sanguineo

Dauer

30 Min.

Entstehung

1902

Als Hippokrates rund 400 v. Chr. seine Lehre von den vier Temperamenten verfasste, schuf er die erste Grundlage für eine psychologische Charakterisierung des Menschen. Es sind vier Grundtypen, die sich anekdotisch rasch darstellen lassen: Der Choleriker findet eine Fliege in seiner Suppe. Er beschwert sich lautstark beim Kellner und zieht aufgebraust von dannen. Die Fliege in der gleichen Suppe wird dem Sanguiniker Freude machen, denn er hat ja eine kostenlose Fleischeinlage bekommen. Dem Phlegmatiker ist die Fliege egal, er fischt das Insekt aus dem Teller und widmet sich danach der Suppe. Wenn die Suppe mit Fliege dem Melancholiker serviert wird, meint der resignierend: «Es war ja klar, dass so etwas ausgerechnet mir passiert.»

Die vier Temperamente – wir tragen sie alle in uns, und wenn sie annähernd gleich stark sind, gilt der Mensch als ausgeglichen. Die Temperamente bieten allein in ihrer Typisierung reichlich Stoff für künstlerische Auseinandersetzungen, sodass man sich beim Hören von Carl Nielsens zweiter Symphonie fragen kann, warum ein solches Werk nicht schon früher entstanden war. Nielsens Inspiration war ein Holzschnitt, den der Komponist in einer Dorfkneipe entdeckte. Er sah eine Gruppe von amüsanten Bildern, «in denen die ‹Temperamente› dargestellt […] waren. Der Choleriker saß zu Pferde; er hatte ein langes Schwert in der Hand, mit dem er wild durch die Luft schwenkte, die Augen quollen ihm aus dem Kopf, die Haare flatterten wild um sein Gesicht, das dermaßen durch Wut und teuflischen Hass verzerrt war, dass ich unwillkürlich in Lachen ausbrach. Die anderen drei Bilder waren im selben Stil, und meine Freunde und ich amüsierten uns köstlich […]. Aber wie seltsam die Dinge sich manchmal entwickeln! Ich, der laut und verächtlich […] gelacht hatte, dachte immer wieder an sie zurück, und eines schönen Tages fiel mir auf, dass diese abgeschmackten Bilder doch eine Art Kern oder Idee enthielten und […] außerdem auch eine musikalische Basis!»

Gesagt, komponiert. Wahrscheinlich im Herbst 1901 machte sich Nielsen an die Arbeit und entwarf den ersten Satz, Allegro collerico, dem Choleriker gewidmet: Aufstampfend schmettert die Musik los, wie eine streitlustige Fanfare stellt sich das marsch artige Thema vor, schon bald erwidert von einem anfänglich sanften Seitenthema, das von unruhigen Stößen aufgemischt wird. Der Choleriker ist weder mit der Welt noch mit sich im Reinen. Im Bauplan einer gestandenen Symphonie ergibt das für die nun einsetzende Durchführung viele Varianten, in denen die Ideen miteinander kombiniert werden. Gegen Ende verleiht ein Anflug von grimmigem Humor dem Satz noch mehr Würze, bevor er in der gleichen resoluten Art endet, mit der er begann.

Der Phlegmatiker im zweiten Satz, Allegro comodo e flemmatico, könnte einer Opernszene entnommen sein, in der jemand schüchtern dem Balltreiben im Walzertakt zuschaut – aber selbst keinesfalls tanzen wird. Nielsen selbst lieferte zu diesem Satz eine Geschichte über einen jungen Burschen, an dem die Welt vorbeizieht: «War er lustig oder ernst, lebhaft oder langsam in seinen Bewegungen? Weder noch! Sein Wesen war dort, wo die Vögel singen, […] wo die Sonne wärmt und der Wind einem sanft durch die Haare streicht.» Im folgenden Andante malincolico nimmt uns die Musik in das Innerste der menschlichen Seele mit, die grübelnd mit sich selbst beschäftigt ist. Es sind lange und verwobene Gedanken, in denen sich Streicher und Holzbläser umeinander ranken – ein auswegloses Labyrinth der Gefühle. Carl Nielsen sagte, sein Wille als Komponist habe «weniger Bedeutung als das, was die Töne aus sich selbst, aus dem innersten Wesen der Musik heraus, verlangen und aus drücken».

Den Begriff des «Rausschmeißers» mag man da und dort einem symphonischen Finale zuordnen; im Fall von Nielsens Zweiter ist es das einzig denkbare Wort. Das abschließende Allegro sanguineo lässt an Märchenszenen denken, in denen ein «Hans im Glück» durch die Welt hüpft. Ein Abenteuer jagt dem anderen nach, nur eine nachdenkliche Episode gegen Ende scheint die Laune zu trüben. All das verfliegt bald und wird vom Blech mit geschwollenem Kamm in einen jauchzenden Schlussmarsch geführt. Die vier Temperamente – und mit ihnen eine formvollendete Symphonie – sind erschaffen.

Nielsens musikalischer Stil lässt sich nur schwer einordnen. Mit seinen Zeitgenossen aus der quasi letzten romantischen Generation, darunter Gustav Mahler, Richard Strauss und Claude Debussy, hat er nur wenig gemeinsam. Der Däne war weder interessiert an (skandinavischer) Folklore noch an den existenziellen Auseinandersetzungen des Fin de Siecle. Seine Musiksprache ist erfrischend klar, als Inspirationen dienten ihm häufig philosophische Ideen, denen er mit großer Konsequenz nachspürte. Mit Recht gilt er neben Sibelius als bedeutendster Symphoniker Nordeuropas. Am 1. Dezember 1902 dirigierte er selbst die erfolgreiche Uraufführung seiner Zweiten in Kopenhagen. Sein Freund Ferruccio Busoni ermöglichte im Jahr darauf eine Einstudierung durch die Berliner Philharmoniker. Nielsens symphonische Charakterstudie über die «Vier Temperamente» wurde zu seinem populärsten Orchesterwerk.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Alexander Moore

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