Carl Nielsen

Symphonie Nr. 4 op. 29 «Das Unauslöschliche»

Sätze

  • Allegro (alla breve)

  • Poco allegretto

  • Poco adagio quasi andante

  • Allegro

Dauer

36 Min.

Vielleicht ist es gerade die Eigentümlichkeit, die herbe Unverwechselbarkeit der Tonsprache von Carl Nielsen, die den großen dänischen Komponisten und einen der bedeutendsten Symphoniker des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts überhaupt, in den Konzertsälen unserer Breiten noch nicht so recht hat heimisch werden lassen - ein Schicksal, das er etwa mit dem Finnen Jean Sibelius teilt. Gewiss erleichtert auch ein immer noch in manchen Köpfen verankertes, vermeintliches Qualitätsgefälle vom im wörtlichen wie im über­tragenen Sinne «zentralen» Europa zu seinen Rändern hin eine gewisse achsel­zuckende Arroganz. Mag Nielsen in seinen Anfängen sich durchaus an Vorbildern wie dem Dänen Niels Wilhelm Gade oder den Norwegern Edvard Grieg und Johan Svendsen orientiert haben, ist doch schon früh seine eigene stilistische Stimme zu vernehmen. Tatsächlich muss man Nielsen als einen Solitär betrachten, will man ihn in seiner Bedeutung erfassen, als einen Komponisten, der sich zum Ziel erkoren hatte, Musik zu schreiben «wie ein reines, scharfes Schwert».

«Die weitreichende Verselbständigung kontrapunktischer Satzweise und der durch sie regierten Konzentration auf die motivische Arbeit bei gleichzeitiger Plastizität der Rhythmik bedingen die allmähliche Lösung von formalen Ideen klassisch-romantischer Provenienz», beschreibt Norbert Bolin Nielsens Stil. Der hypertrophen Spätromantik mit ihrer «unendlichen Melodie» über chromatisiert-überfeinerter Harmonik setzt Nielsen ganz bewusst oft knapp und griffig formulierte Motive entgegen, die sich streng diatonisch geben, aus mittelalterlichen Modi oder der Pentatonik stammen: «Das Zusammenspiel von emanzipierter Melodik und bruitistischen Elementen (in den letzten vier Symphonien) mit dem Ergebnis von Klangflächenstruktur und -dynamik, suspendiert die Harmonik von ihrer ordnenden Wirkung im musikalischen Gewebe - sie gerät zum sekundären Faktor. Über das Stadium von erweiterter Tonalität und Polytonalität hinaus hat Nielsen allerdings, von einigen Passagen abgesehen, den konsequenten Schritt zur Dodekaphonie verweigert. Jeglichem Anflug von Sentimentalität, jeder Versuchung zur Klangseligkeit begegnet die Strenge des Satzes mit eigentümlicher Spröde; Nielsen kleidet durch die Prägnanz seiner Instrumentation und die Intensität thematisch-motivischer Arbeit seine Symphonik in distanzierte Herbheit, die die Grenze zu berechnender Kühle auch überschreiten kann.»
Die ersten drei Symphonien Nielsens lassen sich, einem Gedanken von Andrew Huth folgend, als «ein sich ausweitendes Bewußtsein von der Welt» lesen: Die Erste (1894) wäre demnach eine Art von geheimem Selbstbildnis, welchem in der Zweiten («Die vier Temperamente», 1902) die Verallgemeinerung in menschliche Typen gefolgt wäre, bevor dann die Dritte («Sinfonia espansiva», 1912) sogar mit Walzerklängen und textlosen Singstimmen die Urkraft des Lebens zu feiern scheint. Die heute Abend auf dem Programm stehende Symphonie Nr. 4 mit dem Beinamen «Das Unauslöschliche» hingegen, die international meistgespielte und am häufigsten aufgenommene Symphonie Nielsens, entstand in den Jahren 1914-16, spiegelt dagegen nicht nur den Ersten Weltkrieg, sondern auch persönliche Schwierigkeiten wie die Trennung von seiner Frau wider. Das Werk ist stark dialektisch geprägt und geht über die «Sinfonia espansiva» insofern hinaus, als «Komplexität und Widerspruch» sowie die Erkenntnis bedeutsam werden, «daß Konflikt ein wesentlicher Bestandteil des Lebens und des Fortschritts ist» (Huth). Somit macht die Vierte sowohl die Krise als auch deren Überwindung in Tönen erfahrbar - eine Symphonie, «die kein Programm hat, die aber das ausdrücken soll, was wir unter Lebensdrang oder Lebensäußerungen verstehen, also: alles was sich bewegt, was leben will, was weder gut noch böse, hoch noch niedrig, groß noch klein genannt werden kann, sondern bloß: - keine bestimmte Idee, sondern nur Leben und Bewegung, in einem Zusammenhang und gleichsam beständig fließend, ein Strom in einem einzigen großen Satz», wie Nielsen plante. In der Tat gehen die vier Sätze ohne Pause ineinander über, zeigen auch die Tendenz, ihre herkömmliche Typik zu verlieren bzw. sich einander anzunähern und bilden zusammen das, was der Nielsen-Experte Robert Simpson «progressive Tonalität» nennt: die ständige Verschiebung des tonalen Zentrums in einem modulatorisch formbildenden Prozess. Dabei gibt sich das Material außerordentlich widerborstig und zerfahren, durchziehen das Werk tiefgreifende Auseinandersetzungen zwischen dem terzen­seligen zweiten Thema des Kopfsatzes, das zunächst ganz lyrisch-pastoral daherkommt, aber sich nach und nach als Hauptgedanke des ganzen Werkes entpuppt und folgerichtig auch die breite Schlussapotheose des Finales ermöglicht. Die widerstreitenden Kräfte treten in Gestalt des kleinteilig-hektischen ersten Themas auf, das «zwar zu flächiger Expansion tendiert, aber auch zu Infiltration und Auflösung der thematischen Gegenseite» (Siegfried Oechsle). Sämtliche Sätze, in ihrer Typik einander ohnehin angenähert, sind von solchen, teils schockhaft wirkenden Kontrasten geprägt, die in allen musikalischen Parametern durchgeführt werden, ob nun kontrapunktisch, in den Klangfarben, in der Dynamik. Seinen quasi-theatralischen Höhepunkt findet dieses Verfahren aber im Finale in einem bis zum letzten Takt geführten Duell zweier Paar Pauken, die laut Fußnote in der Partitur so weit wie möglich voneinander entfernt vor dem Orchester aufzustellen sind und «bis zum Schluß, auch wenn sie piano spielen, doch einen gewissen drohenden Charakter beibehalten» müssen.

Die sich aufdrängenden Fragen hat Nielsen selbst so beantwortet: «Der Titel 'Det uudslukkelige' («Das Unauslöschliche») legt etwas nahe, das nur die Musik selbst ganz ausdrücken kann: den elementaren Lebens­willen. Nur Musik kann einen abstrakten Ausdruck des Lebens geben, im Gegensatz zu den anderen Künsten, die Abbilder und Symbole konstruieren müssen. Musik löst das Problem allein dadurch, daß sie sie selbst bleibt: denn Musik ist Leben, während die anderen Künste es bloß ab­bilden. Leben ist nicht zu unterdrücken und unauslöschlich; gestern, heute und morgen war, ist und wird das Leben Kampf sein, Konflikt, Erzeugen und Zerstören; und alles kehrt wieder. Musik ist Leben, und als solches unauslöschlich.»

© Grafenegg Kulturbetriebsgesellschaft m.b.H. | Walter Weidringer

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