Jean Sibelius

Symphonie Nr. 7 op. 105

Dauer

21 Min.

Entstehung

1924

Die Lebensjahre von Jean Sibelius fallen in eine Zeit, als sich die Welt ständig selbst neu erfand. In Sibelius' Geburtsjahr 1865 wurde Wagners «Tristan und Isolde» uraufgeführt, wenige Tage nach seinem Tod 1957 sandte die Raumsonde Sputnik 1 ihre ersten Radiosignale zur Erde. Dazwischen lagen zwei Weltkriege, der Zerfall des alten und die Anfänge des modernen Europas. Auch in der Musik war kaum ein Stein auf dem anderen geblieben: Während seines Wiener Studienjahres 1890/91 brannte der junge Sibelius für Anton Bruckner und stand Johannes Brahms skeptisch gegenüber - als er rund 40 Jahre später die Komponistenfeder endgültig weglegte, war die Zweite Wiener Schule längst begründet worden, Igor Strawinski hatte die Musikwelt gehörig durchgewirbelt, und der junge Olivier Messiaen hatte sich mit ersten Werken vorgestellt.

Dass Sibelius seinen Ruhestand rund 30 Jahre lang auskosten konnte und damit auch Karlheinz Stockhausen, Pierre Boulez und John Cage erlebte, machte ihn zur «lebenden Legende». Freilich war Sibelius da nur mehr ein schweigender Beobachter und hatte sich aus dem internationalen Musikbetrieb schon längst zurückgezogen. Er gehört zur letzten Generation der großen Romantiker und den ersten Mitgestaltern der Moderne - nur um von der Zeit selbst eingeholt zu werden, als «eine Erscheinung aus den Wäldern», wie er grüblerisch mutmaßte. Dabei provozierte seine Musik Beurteilungen, die kaum gegensätzlicher hätten ausfallen können und gar nicht notwendigerweise ihm selbst galten, sondern unterschiedlichen Standpunkten in einem sich zuspitzenden Prozess geschuldet waren. Während manche seine Musik als hoffnungslos rückständig ansahen, begeisterten sich Vertreter der sogenannten Spektralmusik in den 1980er- und 1990er-Jahren für seine ausgeklügelten und noch unerforschten Klangkonstellationen. Die welt- und musikhistorische Kulisse sowie sein überreiches OEuvre machen Jean Sibelius jedenfalls zu einer der interessantesten Musikerpersönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts.

Insgesamt komponierte Sibelius acht Symphonien; und doch ist die Symphonie Nr. 7 seine letzte. Ihr Nachfolgewerk gab er nie heraus und verbrannte es in den frühen 1940er-Jahren. Damit sind die symphonische Dichtung «Tapiola» (Uraufführung 1926) und die Siebente (Uraufführung 1924) die beiden letzten großen Orchesterwerke des Komponisten, der seine Heimat Finnland endgültig auf die große Weltkarte der Musik gesetzt hatte. Von der ersten bis zur sechsten Symphonie spannt sich ein großer Bogen, in dem sich Sibelius auf vielfache Weise verwirklichte. Waren die ersten beiden temperamentvolle Geniestreiche, zeigte sich Sibelius mit seiner dritten Symphonie als humorvoller Klassizist - um mit der Vierten «per aspera ad astra» («durch das Dunkel zu den Sternen») zu gehen. Die fünfte Symphonie wurde ein sonnengereiftes Freudenfest, die sechste ein geheimnisvolles, liebliches Idyll.

Über den Symphonien lässt sich ein großes gedankliches Thema ausmachen, nämlich Sibelius' intensive Beschäftigung mit der äußeren Form und dem inneren Gehalt - diese beiden Dinge waren für ihn eng verbunden, ja sie bedingten einander. Die Musik von Sibelius weist so gut wie immer einen organischen und nachvollziehbaren Wachstumsprozess auf: Es ist ein Keimen und Sprießen, in der sich das Neue aus dem Vorangegangenen ergibt. Und weil nicht jedes Wachstum auf gleiche Weise verläuft, war es für Sibelius nur naheliegend, nicht immer die gleichen Mittel zu wählen, um sich seiner selbstgestellten Aufgabe zu nähern. So finden sich bei ihm auch zwei dreisätzige Symphonien unter seinen sonst viersätzigen Werken dieser Gattung. Mit dem Bestreben, die Musik ständig entstehen und keimen zu lassen, steht Sibelius in einer symphonischen Tradition, zu deren Vertretern in mancher Hinsicht unter anderem Franz Schubert und Anton Bruckner zählen.

Schon entlang des Entstehungsprozesses der Symphonie Nr. 7 C-Dur op. 105 kann man das Denken von Sibelius gut nachvollziehen. Die ersten Ideen reichen zurück in die Jahre 1913/14, was die Symphonie zum ungleichen Schwesterwerk der Sechsten macht. Dann ist 1918 in einem Brief von Sibelius zu lesen: «Meine neuen Werke - zum Teil schon skizziert und im Plan fertig [...] Die Siebente Sinfonie: Freude des Lebens und Vitalität, mit appassionato Passagen.» Nach Abschluss der Sechsten konzentrierte er sich auf seine neue Symphonie - doch die Stimmung hatte sich dramatisch verdüstert: «... Wie unendlich tragisch ist doch das Schicksal eines alternden Tonsetzers! Es geht nicht mehr mit der gleichen Geschwindigkeit wie früher, und die Selbstkritik wächst ins Unmögliche.» Mehr als einmal in seinem Leben gelang es ihm, sich wieder einzufangen und aufzurichten - so auch hier. Anfang der 1920er-Jahre existierte die Symphonie Nr. 7 in einer viersätzigen Fassung; doch ab Sommer 1923 ging Sibelius den radikalen Schritt und konstruierte seine Symphonie als einsätzigen Monolith.

Bis heute herrscht keine Einigkeit darüber, wie das innere Wesen des Werks beschaffen ist. Sind es drei, vier oder doch mehr Teile? Gehen sie ineinander über oder überlagern sie sich? Ist das Thema die aufsteigende Skala zu Beginn, die pastorale Melodie danach oder letztlich doch das wiederkehrende, majestätische Motiv der Blechbläser? Jeder dieser Ansätze hat Verfechter und Kritiker. Letztlich bewegt man sich beim Versuch, diesem Werk mit herkömmlichen Begriffen und tradierten Systemen beizukommen, auf unsicherem Terrain. Diese Symphonie entzieht sich all dem - sie ist eine Welt für sich. Am ehesten noch könnte man sich so etwas wie «tektonische Verschiebungen» vorstellen, die sich unter den vielfältigen Musikphänomenen im Orchester abspielen: die aufsteigende Skala in einer alten Kirchentonart (Modus) zu Beginn führt am Ziel schon zum ersten von vielen harmonischen Flüssen. Kreiselnde Melodiestücke verdichten sich in schillernden Farben, um wieder in den Humus einzusickern, aus dem ständig neue Gedanken keimen. Alles ist so faszinierend verwoben, dass man sich dem Sog unmöglich entziehen kann. Man spürt, dass hier eine große, ja riesige Idee beschworen wird, die ihre geheime Ordnung nicht preisgibt. Sibelius sagte über seine Siebente: «Der Fluss entsteht aus zahllosen Zuflüssen, die alle ihren Weg suchen... die den Fluss bilden, bevor er breit und majestätisch dem Meer entgegenflutet. Der Strom des Wassers formt den Fluss: Er gleicht dem Strom der musikalischen Ideen, und das Flussbett, das er bildet, wäre der symphonischen Form gleichzusetzen.»

Die unglaubliche Schönheit der Symphonie Nr. 7 liegt in ihrer kunstvollen Wandelbarkeit. Alles findet seinen Platz, für alles ist Zeit - am Ende hat man die Erde umkreist und sie dabei gleichzeitig umarmt.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H.| Alexander Moore

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