Johann Sebastian Bach

Weihnachtsoratorium BWV 248, Kantate Nr. 1 («Jauchzet, frohlocket»)

Sätze

  • Chor: Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage

  • Rezitativ: Es begab sich aber zu der Zeit

  • Rezitativ: Nun wird mein liebster Bräutigam

  • Arie: Bereite dich, Zion

  • Choral: Wie soll ich dich empfangen

  • Rezitativ: Und sie gebar ihren ersten Sohn

  • Choral und Rezitativ: Er ist auf Erden kommen arm - Wer will die Liebe recht erhöhn

  • Arie: Großer Herr, o starker König

  • Choral: Ach mein herzliebes Jesulein

Dauer

29 Min.

Entstehung

1734

Johann Sebastian Bach war nicht nur ein Meister der Fuge, des Kontrapunkts und der Kunst, Tönen regelgerecht Leben einzuhauchen, sondern auch ein wahrer Spezialist für Wiederverwertung. Freilich bediente sich zu Bachs Zeit nicht nur er selbst schon existierender Werke, um vorhandene Themen neu zu verarbeiten: Die sogenannte «Parodie», das ist, entgegen der heute gebräuchlichen Wortbedeutung, keine lächerliche Variante eines Werkes, sondern die Zweitverwendung eines bestehenden Musikstücks (etwa indem man es mit einem neuen Text versah), war damals eine durchaus gebräuchliche Methode. Besonders heikel kann dieses Kompositionsverfahren allerdings dann sein, wenn Musik für weltliche Anlässe plötzlich in einer geistlich motivierten Komposition neue Verwendung findet, oder umgekehrt, Musik zur höheren Ehre Gottes kurzerhand in Alltagswerke zu mehr oder weniger banalem Zweck Eingang findet. Interessanterweise geschah in Bachs Fall diese Vorgehensweise in nur einer Richtung, nämlich, weltlichen Werken entnommene Musik später in geistlichen Kompositionen einfließen zu lassen. Eines der berühmtesten und populärsten, gleichzeitig gelungensten Beispiele dafür ist das Weihnachtsoratorium BWV 248, das in vielen Details auf älteren Werken beruht. Wenn Bach auf solch frühere, sehr wohl eigene Kompositionen zurückgriff, «dann kaum, um sich die Arbeit zu erleichtern und aus Bequemlichkeit schon vorhandene Musik zu verwenden, sondern um wichtiges Material durch dessen Einarbeitung in beständigere Kompositionen auf Dauer zu erhalten» (Christoph Wolff). Somit erstaunt es schon weniger, bedenkt man, dass geistliche Kompositionen einem Zwecke dienten, welcher Jahr für Jahr wiederkehrte, Anlasswerke zu Geburtstagen von Herrschern oder sonstigen Honoratioren jedoch kaum öfter als zum Anlass selbst gespielt wurden.

Die Entstehung des Weihnachtsoratoriums geht auf das Jahr 1734 zurück, in dem Bach für die drei Weihnachtsfeiertage, das Neujahrsfest, den Sonntag nach Neujahr und das Epiphaniasfest sechs Kantaten komponierte, sie zu einem Werk zusammenschloss und ihm den Namen Weihnachtsoratorium gab. Allerdings: Ein Oratorium im eigentlichen Sinne ist es nicht, geht es doch nicht um die geschlossene, dramatische Darstellung biblischer Geschichte, sondern vielmehr um die lose Aneinanderreihung der für den jeweiligen liturgischen Gebrauch bestimmten Themen rund um die Geburt Christi, erzählt von einem Evangelisten und erweitert um lyrische Betrachtungen. Während etwa der deutsche Musikkritiker und -pädagoge Werner Oehlmann (1901-1985) noch der Ansicht war, das Weihnachtsoratorium sei «zwar im liturgischen, aber nicht im künstlerischen Sinne eine Einheit», sehen spätere Generationen nicht zuletzt aufgrund der Tonartenverklammerung der Teile sehr wohl eine beabsichtigte Einheit (die erste, dritte und sechste Kantate sind in D-Dur komponiert, dazwischen stehen jeweils andere Tonarten, G-Dur in der zweiten, F-Dur in der vierten und A-Dur in der fünften Kantate). Letztlich ist die Frage, ob es sich nun um ein Oratorium im barocken Sinne handle, obsolet, da Bach das Kompendium nun einmal «Oratorium» genannt hat. Wichtiger ist, ob die Gepflogenheit, nur einzelne Teile aufzuführen, dem Werk angemessen ist. Und hier kann man, der ursprünglichen Intention entsprechend, freilich jede Kombination im Konzertsaal spielen – wurden die sechs Kantaten ja bei ihrer ersten Aufführung von Bach selbst auf die oben erwähnten sechs Feiertage aufgeteilt. Am gebräuchlichsten ist wohl die heute gespielte Variante, die ersten drei Kantaten für die drei Weihnachtsfeiertage allein aufzuführen, die gemeinsam einen sowohl dramaturgischen wie auch musikalischen Bogen ergeben.

Textlich hält sich Bach einerseits an das Lukas-Evangelium, andererseits an Material des Leipziger Dichters Picander (mit bürgerlichem Namen Christian Friedrich Henrici, 1700–1764), der mit Bach auch bei Werken wie der Matthäus-Passion BWV 244 oder der Kaffeekantate BWV 211 zusammengearbeitet hat. Die zwei Kompositionen, auf denen ein beträchtlicher Teil der heute gespielten Kantaten des Weihnachtsoratoriums basiert, sind die Glückwunschkantaten BWV 213 und 214, die beide aus dem Herbst 1733 stammen und zu bestimmten Geburtstagen komponiert worden sind: Die Kantate BWV 213 wurde am 5. September zum elften Geburtstag des sächsischen Kurprinzen Friedrich Christian aufgeführt, und die Kantate BWV 214 entstand für den Geburtstag der Kurfürstin Maria Josepha am 8. Dezember. Insofern sind die Beweggründe – eine Huldigung zum Geburtstag einer Herrscherin im Gegensatz zur Freude über die Geburt Christi – zwar unterschiedlich, doch sind beides Anlässe, die Jubel rechtfertigen.

Wie wichtig für Bach die gebührende Aufmerksamkeit gegenüber der herrschenden Klasse seiner Heimat war, zeigt ein Schreiben aus der Zeit. Der doch überall angesehene und berühmte Bach befand sich in seinem vierten Lebensjahrzehnt, als er 1723 seine Stelle als Thomaskantor in Leipzig antrat. Etwa zehn Jahre später – der Kurfürst August der Starke war im Februar des Jahres 1733 verstorben – wandte sich Bach in einem Schreiben an den Nachfolger auf dem kurfürstlichen Thron, Friedrich August II.: «Durchlauchtigster Churfürst, Gnädigster Herr, Ew. Königl. Hoheit überreiche in tieffster Devotion gegenwärtige geringe Arbeit von derjenigen Wißenschafft, welche ich in der Musique erlanget, mit ganz unterthänigster Bitte, Sie wollen dieselbe nicht nach der schlechten Composition, sonder nach Dero Welt berühmten Clemenz mit gnädigsten Augen anzusehen und mich darbey in Dero mächtigste Protection zu nehmen geruhen.» Dem Thronfolger hatte er eine Messe komponiert, mit dem Hintergedanken, doch zum Hofkomponisten aufzusteigen (was auch, etwa zwei Jahre später, geschah). Der Kurfürstin von Sachsen und Königin von Polen, Maria Josepha, hingegen widmete er die Kantate «Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!» BWV 214 – um auch an dieser Stelle gebührend seine Demut zu demonstrieren: In der neunsätzigen Kantate, die den Untertitel «Dramma per musica» trägt, lässt Bach Göttinnen aus der griechischen Mythologie der Königin huldigen. So kommt es, dass bei der Verwendung der Komposition für das Weihnachtsoratorium – der Huldigung der Geburt Christi – keine Diskrepanz zwischen Wort und Ton auftritt. Bach konzentrierte sich in seinen sakralen Werken überhaupt weniger auf das einzelne Wort als auf größere Zusammenhänge, darf man seinem Sohn Carl Philipp Emanuel Glauben schenken: «Bey den seligen Kirchensachen kann angeführt werden, daß er devot u. dem Inhalte gemäß gearbeitet habe, ohne comische Verwerfungen der Worte, ohne einzelne Worte auszudrücken, mit Hinterlassung des Ausdruckes des ganzen Verstandes, wodurch oft lächerliche Gedancken zum Vorschein kommen, welche zuweilen verständig seyn wollende und unverständige zur Bewunderung hinreißen.» Ein schönes Beispiel dafür ist die ursprüngliche weltliche Version des Eröffnungschors des Weihnachtsoratoriums, welche lautet: «Tönet, ihr Pauken! Erschallet, Trompeten! Klingende Saiten, erfüllet die Luft!» Bach setzt hier beinahe wörtlich den Text auch in der Musik um, lässt das Orchester mit Pauken eröffnen, setzt Trompeten nach und zuletzt folgen die Streicher. Zur gleichen Musik beginnt in der Parodie, dem Eröffnungschor des Weihnachtsoratoriums, der Chor mit dem Text: «Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage, / Rühmet, was heute der Höchste getan!» Damit ist die zuvor enge Verbindung von Ton und Wort aufgehoben, und es bleibt nur der höhere Sinn dahinter bestehen, der Jubel über ein freudiges Ereignis, das mit Begleitung von Pauken und Trompeten besungen wird.

Die erste Kantate erzählt die Geschichte von der Geburt Jesu, wobei die Gemeinde der Gläubigen im Text des Eröffnungschors («Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage») sofort direkt angesprochen wird. Die Weihnachtsgeschichte selbst erzählt der Evangelist in den Rezitativen, beginnend mit dem Hinweis auf die Volkszählung durch Kaiser Augustus («Es begab sich aber zu der Zeit»). Der Stil, in dem der Evangelist vorträgt, entspricht genau der aus den Passionen bekannten Vortragsweise. Die nachfolgende Alt-Arie «Bereite dich, Zion» verkündet in ernsthaftem, erwartungsvollem Tonfall die Ankunft des Heilands. An nächster Stelle setzt Bach wohl ganz bewusst einen Choral («Wie soll ich dich empfangen»), der aus den Passionen bekannt ist («O Haupt voll Blut und Wunden») und in der hier gesungenen Variante in a-moll auch in der Matthäuspassion, und zwar nach dem Tod Jesu, erklingt. Den Tod als integralen Bestandteil des Lebens darzustellen mag hier ebenso eine mögliche Absicht Bachs gewesen sein wie der Hinweis auf den Jesus bestimmten Erlösertod. Der Evangelist erzählt sodann von der Geburt des Kindes («Und sie gebar ihren ersten Sohn»); in einer von rezitativischen Momenten durchbrochenen Pastoralmusik erzählen sodann Chor und Solisten vom Ereignis – und zwar nicht freudig erregt, sondern ruhig und, dem Text entsprechend, besonnen: «Er ist auf Erden kommen arm». Oboen und Fagott umspielen den Chorsopran und den Bass-Solisten. Der Choral verklingt leise mit den Worten «Kyrieleis» («Herr, erbarme Dich»). Der Bass-Solist besingt dann enthusiastisch, von der Solo-Trompete umspielt, den «Großen Herrn» und «starken König», der wenig von irdischer Pracht hält und «in harten Krippen schlafen» muss. Am Schluss der ersten Kantate steht, wie bei Bachs Kantaten üblich, ein Choral («Ach mein herzliebes Jesulein»), der hier durch konzertierende Trompeten dem festlichen Charakter entsprechend erhöht wird.

© Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Markus Hennerfeind

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