Alfred Eschwé und die Magie der Neujahrskonzerte
Der Nestor des Tonkünstler-Neujahrskonzerts über seine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit dem Orchester, sein Vergnügen an der Moderation und Fragen der ProgrammgestaltungAm 28. Dezember 1998 haben Sie Ihr erstes Neujahrskonzert mit den Tonkünstlern im Wiener Musikverein dirigiert, Veranstalter war der Club für Kultur und Wirtschaft. Erinnern Sie sich noch an das Programm?
Nein, leider.
Ich habe es für Sie herausgesucht: ein reines Strauss-Programm! Die Ouvertüre zum «Zigeunerbaron» stand am Anfang, «An der schönen blauen Donau» am Schluss. Dazwischen gab’s den Frühlingsstimmen-Walzer und die Pizzicato-Polka und als letzte von vier Zugaben den unvermeidlichen Radetzky-Marsch. Auch trat schon damals eine Sopranistin mit den Tonkünstlern auf: Simina Ivan.
Natürlich! Ioan Holender hat sie damals als Soubrette an die Wiener Staatsoper engagiert. Ich erinnere mich aber auch an Programme, in denen zusätzlich noch ein Tenor mitgewirkt hat.
Waren schon die ersten Neujahrsserien der Tonkünstler im Musikverein Wien so erfolgreich, wie es die heutigen sind?
Schwierig zu sagen. Ich habe auch schon vorher Tonkünstler-Neujahrskonzerte dirigiert, freilich in größeren Abständen und mit einer anderen Konzeption. Das waren eher klassische Neujahrsprogramme in der Art, wie sie die Wiener Philharmoniker spielen. Wann wir den Schnitt gesetzt und die beiden wichtigen Änderungen realisiert haben, weiß ich gar nicht mehr so genau.
Das Format der Tonkünstler-Neujahrskonzerte hat sich ja bestens bewährt, bis heute: eine Mischung aus Oper, Operette und Orchestermusik – nicht nur aus der Strauss-Dynastie.
Genau. Ein Programm aus populärer Klassik; im ersten Konzertteil immer mit Opernarien und im zweiten Teil mit Ausschnitten aus Operetten. Die Moderation habe ich eingeführt, um die Distanz zwischen Podium und Publikum zu verringern.
Was ist das Geheimnis Ihrer beliebten Moderationen? Worauf achten Sie besonders?
Das gesprochene Wort darf niemals schulmeisterlich wirken, das ist sehr wichtig. Anspielungen auf aktuelle Begebenheiten kommen immer gut an, ebenso Anekdoten, persönliche Erlebnisse. Auf jeden Fall soll die Moderation unterhaltsam sein!
Zu diesem Zeitpunkt war Ihnen das Metier der Neujahrskonzerte längst vertraut, denn zuvor hatten andere Orchester Sie für ihre Neujahrsserien engagiert.
Von 1989 bis zum Jahrtausendwechsel war ich mit dem Wiener Johann Strauss Orchester in Japan unterwegs, dort haben wir die Werkauswahl auf die Strauss-Dynastie beschränkt.
Den Grund für eine entscheidende Veränderung in der Konzeption der Tonkünstler-Neujahrskonzerte haben Sie bereits genannt: den Wunsch nach mehr Nähe zum Publikum.
Das hat vor allem mit der Publikumsstruktur zu tun. In manchen kleineren Orten in Niederösterreich ist das Neujahrskonzert ein Volksfest – bis heute! In Biedermannsdorf hat mir einmal ein Bürgermeister ganz stolz erzählt, dass sich am Tag, an dem der Kartenvorverkauf im Gemeindeamt startet, bereits um 6 Uhr eine Warteschlange bildet, obwohl erst um 8 Uhr geöffnet wird.
Ihre Moderation ist inzwischen zu einem Markenzeichen der Tonkünstler-Neujahrsserie geworden. Nicht wenige Menschen kommen genau deswegen in die von Ihnen dirigierten Aufführungen.
Das freut mich.
In manchen kleineren Orten in Niederösterreich ist das Neujahrskonzert ein Volksfest – bis heute!
Aber nicht alle Tonkünstler-Neujahrskonzerte können Sie selbst leiten. Holen sich die Alternativdirigenten bei Ihnen Rat?
Manche fragen nach der Moderation. Ich biete dann mein Manuskript an, das aber nur aus Stichworten besteht, denn ich spreche lieber frei. So kann ich, sobald ich merke, dass das Publikum Interesse zeigt, meine Zwischentexte leicht erweitern.
Moderieren Sie vielleicht sogar noch lieber, als Sie dirigieren?
Ich moderiere sehr gern, die Reaktion des Publikums ist meistens positiv. Aber natürlich bin ich zuallererst Dirigent! Ich werde oft als Spezialist für die Strauss-Ära bezeichnet, aber meinen Lebensunterhalt bestreite ich als Operndirigent. Das ist meine wahre Leidenschaft.
Auf Ihre Initiative hin wird in den Neujahrskonzerten der Tonkünstler nicht mehr nur Strauss gespielt. Um etwas anders zu machen als die Philharmoniker?
Nein, das hat, offen gestanden, einen ganz egoistischen Grund. Ich hatte über so viele Jahre Strauss-Programme dirigiert, dass ich mich nach Abwechslung sehnte. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass die neue Mischung vom Publikum so positiv aufgenommen wurde. Viele Leute kamen auf mich zu, bedankten sich und sagten: Gott sei Dank, nicht mehr nur Strauss! Das gab mir den Mut, auch populäre Stücke aus dem 20. Jahrhundert ins Programm zu nehmen: Igor Strawinsky, Dmitri Schostakowitsch und Aram Chatschaturjan waren in den Programmen schon vertreten.
Was sagt unser Orchester dazu?
Die Musikerinnen und Musiker schätzen meine Zusammenstellungen, weil die Konzerte kurzweiliger werden. Mit jedem Stück wechselt der Stil, sie müssen sich in Sekundenschnelle umstellen. Damit ist mehr Vielfalt gegeben – aber auch mehr Konzentration erforderlich.
Wird das Zusammenstellen der Programme schwieriger oder leichter mit der Zeit?
Es wird fast schwieriger, weil ich viele Ideen habe, die sich nicht immer verwirklichen lassen. Durch die limitierte Orchesterbesetzung auf den oft sehr kleinen Bühnen sind viele Stücke nicht realisierbar. Manchmal umgehe ich dieses Problem, indem ich ein paar – hoffentlich unmerkliche – instrumentatorische Retuschen vornehme.
Wie kommen Sie von der Idee bis zur Fertigstellung des Programms?
Nun, ich habe immer noch den Ehrgeiz, fast nur Titel zu spielen, die wir in der Neujahrsserie der Tonkünstler noch nicht präsentiert haben. Manchmal fällt mir übrigens zuerst eine Moderation ein, und dann suche ich das passende Stück dazu aus. Auch den eher unangenehmen Fall, dass ich drei Tage vor dem ersten Konzert noch immer eine passende Einleitung für einen Programmpunkt suche, habe ich schon erlebt.
Wie lange vor den Aufführungen beginnen Sie über das Programm nachzudenken?
Das ist ein permanenter Prozess. Meistens lege ich mir im Laufe des Jahres eine Liste mit Titeln an, die für das Neujahrskonzert infrage kommen. Die Basis für das Programm sind die Gesangsnummern – und es ist gar nicht so einfach, vier Stücke zu finden, die von allen Solistinnen gesungen werden können. Manchmal muss ich ihre Wünsche erfüllen und Tonarten anpassen. Abwechslung ist auch ein wichtiges Kriterium. Das betrifft sowohl den Charakter als auch die Länge der Stücke. Auch sollten die Werke relativ bekannt sein. Und wenn sie dann noch lustig und ungewöhnlich sind, umso besser. Ein singendes Orchester oder überraschende Schüsse zum Beispiel sorgen immer für gute Stimmung.
New Year's Tunes to Set the Mood
Listen to the most beautiful pieces from past years in our playlist and get ready for the New Year's Concert 2026!Wann halten Sie ein Neujahrskonzert für gelungen? Unter welchen Umständen sind Sie zufrieden, sobald Sie von der Bühne gehen?
Wenn ich das Gefühl habe, dass sich das Publikum amüsiert hat und die Qualität des Orchesters zu schätzen wusste. Den Jubel nach dem Radetzky-Marsch gibt es immer, das ist kein Kriterium. Manchmal sind es jedoch die weniger beklatschten, aber auf höchstem Niveau gespielten Stücke, die mich mehr zufriedenstellen.
Wie gehen Sie mit Programmwünschen aus dem Publikum um?
Ich gehe gern auf Wünsche ein und berücksichtige auch Anregungen. Aber ein reines Wunschkonzert möchte ich nicht anbieten, dann würden wir immer den Donauwalzer spielen. Gerade davon wollte ich ja wegkommen.
Welche besonders lustige oder skurrile Begebenheit bei den Neujahrskonzerten werden Sie nicht vergessen?
Ach, da fallen mir einige ein. Bei einer Aufführung in einem kleinen Ort im Süden Wiens, der Name sei hier nicht genannt, sitzt immer die Prominenz vom Bürgermeister bis zum Kaplan in der ersten Reihe. In der Pause gibt es dann Champagner im Extra-Zimmer. Einmal blieb anschließend die erste Reihe leer und nach dem ersten Stück huschte das «Extrazimmer» herein. Ich begrüßte es nochmals herzlich und drückte mein Bedauern aus, dass das schönste Stück des Abends nun verpasst wäre, aber leider nicht wiederholt werden könne. Der Saal tobte – inklusive der Prominenz.
Noch eine Anekdote, bitte.
Bei einem der Neujahrskonzerte in Baden, die es früher ja auch gab, konnte ich mich während einer Moderation plötzlich nicht mehr erinnern, wie das nächste Stück begann. Ziemlich peinlich, denn ich dirigiere ja auswendig. Meine Rede wurde immer länger, weil ich dachte, der Anfang würde mir noch einfallen. Schließlich drehte ich mich um und gab einen unverbindlichen Auftakt. Das Orchester spielte – und meine Erinnerung war zurück.
Sie dirigieren alle Neujahrsprogramme auswendig, grundsätzlich?
Ich dirigiere und moderiere gern auswendig.
Und Sie haben das komplette Programm, wie man so sagt, schon drauf, sobald Sie in die erste Probe gehen?
Ich bereite mich immer sehr sorgfältig vor. Bekannte Walzer und Ouvertüren kann ich natürlich jederzeit abrufen. Andere Werke, die ich schon einmal dirigiert habe, sind nach ein paar Tagen wieder im Kopf. Aber neue Stücke erarbeite ich gründlich und erweitere dabei mein Repertoire.
In den Konzerten verzichten Sie dann auf die Partitur – aus Ehrgeiz?
Ich kann auf das Orchester mehr Einfluss nehmen, wenn ich selbst freier bin. Der Augenkontakt zu den Musikerinnen und Musikern ist beim Dirigieren unheimlich wichtig. Im Graben dirigiere ich übrigens niemals auswendig, da kann viel zu viel passieren.
Ich bin stolz auf diese Serie und darauf, wie sie sich entwickelt hat.
Macht Ihnen das Gesamtpaket Neujahrskonzert inklusive Stimmenauswahl, Programmierung, Probenarbeit mit den Tonkünstlern, Dirigat und Moderation noch immer Spaß?
Es bereitet mir sehr viel Freude, denn ich liebe meinen Beruf. Ein Resultat zu präsentieren, das nach langer Vorbereitung und intensiver Probenarbeit beim Orchester und beim Publikum gleichermaßen gut ankommt, ist immer ein wunderschönes Erlebnis. Dieser Prozess hat eine enorme Anziehungskraft.
Sie dirigieren die Tonkünstler seit Jahrzehnten: In Amstetten standen Sie am 2. Oktober 1980 erstmals an ihrem Pult. Wie hat sich Ihr Verhältnis zu unserem Orchester in dieser Zeit entwickelt?
Die Einstellung zu ihrem Beruf hat sich bei den Musikerinnen und Musikern grundlegend geändert. In meinen Anfangsjahren habe ich das Orchester auf vielen Ausfahrten begleitet und mich nicht immer beliebt gemacht, weil ich die oft etwas laxere Berufsauffassung mancher Orchestermitglieder kritisiert habe. Heute gibt es Dienst nach Vorschrift überhaupt nicht mehr! Die Qualität des Orchesters ist enorm gestiegen, und die Freude, mit der musiziert wird, überträgt sich ganz spontan auf das Publikum. Dann ist plötzlich Atmosphäre im Saal. Sehr oft habe ich das Gefühl, dass sich die Musikerinnen und Musiker an ihrer eigenen Leistung erfreuen. Dann geht bei mir der Daumen hoch; das Publikum sieht das gar nicht.
Manchmal schon.
Und wenn – es ist dann auch für die Leute ein positives Zeichen. Was sich außerdem verändert hat: Bei langen Busfahrten spreche ich oft mit Orchestermitgliedern über diverse Programmpunkte und merke, dass sie sich mit den Stücken und ihrer Rolle darin ausgiebig beschäftigt haben. Dieses Interesse war früher viel geringer.
Für die meisten unserer Musikerinnen und Musiker zählt die alljährliche Niederösterreich-Tournee mit dem Neujahrsprogramm wegen der überwältigenden Resonanz und der großen Nähe zum Publikum zu den Höhepunkten der Konzertsaison. Empfinden Sie ähnlich?
Als ich aufhörte, jährlich zum Jahreswechsel nach Japan zu fliegen, habe ich mich insgeheim gefragt, ob es die richtige Entscheidung sei, die Suntory-Hall in Tokio gegen die oftmals, sagen wir, einfachen Konzertsäle in Niederösterreich zu tauschen. Heute weiß ich: Die Euphorie des Publikums hier entschädigt für alles!
Während Ihrer jahrzehntelangen Zusammenarbeit mit unserem Orchester wären theoretisch viele Neuanfänge für Sie möglich gewesen – was motiviert Sie, dabeizubleiben?
Ganz einfach: Ich bin stolz auf diese Serie und darauf, wie sie sich entwickelt hat.
Interview: Ute van der Sanden
Anmerkung: Dieser Beitrag entstand für das Tonkünstler-Magazin «in puncto» und wurde zur Veröffentlichung an dieser Stelle aktualisiert.
Auf einen Blick
Alfred Eschwé: Berufener Sachwalter der Musik der Strauss-DynastieAlfred Eschwé wurde in Wien geboren und unter anderem von Hans Swarowsky und von Gustav Koslik, der von 1951 bis 1964 Chefdirigent des Tonkünstler-Orchesters war, musikalisch ausgebildet. Nach einigen Jahren in Deutschland wurde Eschwé von Eberhard Wächter 1989 an die Volksoper Wien berufen, wo er seitdem festes Ensemblemitglied ist. Zu seinen größten Erfolgen an der Volksoper gehörten Pjotr Iljitsch Tschaikowskis «Eugen Onegin», Sergej Prokofjews «Der feurige Engel», Giuseppe Verdis «La Traviata» und Richard Strauss’ «Salome». 2003 debütierte er mit Wolfgang Amadeus Mozarts «Die Zauberflöte» an der Wiener Staatsoper, wo er auch Gaetano Donizettis Oper «L’elisir d’amore» mit Anna Netrebko und Rolando Villazón in den Hauptrollen leitete. Regelmäßige Gastspiele führten ihn nach Turin, Catania, Triest, Palermo und Helsinki.
Seit 1999 ist Alfred Eschwé auch an der Hamburgischen Staatsoper zu erleben, an der Staatsoper Unter den Linden in Berlin, am Opernhaus Zürich, am Teatro di San Carlo in Neapel, an der Oper Köln sowie an der Bayerischen Staatsoper. 2009 debütierte er mit Mozarts «Die Zauberflöte» am New National Theatre in Tokio, wo er in den Folgejahren mehrmals auch Johann Strauss’ «Fledermaus» leitete. Alfred Eschwé gilt als berufener Sachwalter der Musik der Strauss-Dynastie, was nicht zuletzt durch zahlreiche CD-Aufnahmen belegt ist.
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