Joseph Marx
Das etwas andere KomponistenporträtEiner aus der Steiermark
Harald Haslmayr über Joseph Marx und die Quellen künstlerischer InspirationAlberstraße 18, 8010 Graz, Herz-Jesu-Gründerzeitviertel: Von meinem Balkon blicke ich direkt über den weiten Gartenhof hinüber zur Innenfassade des Hauses Rechbauerstraße 15, wo am 12. Mai 1882 Joseph Marx das Licht der Welt erblickte. Mein Arbeitsplatz nunmehr über drei Jahrzehnte ist das Palais Meran, zwei Gehminuten in die entgegengesetzte Richtung entfernt von meiner Wohnung und ältestes Gebäude der nunmehrigen Universität für Musik und darstellende Kunst, kurz Kunstuniversität Graz (KUG). Dessen Archiv konnte ich vor einigen Jahren zwei Joseph-Marx-«Reliquien» anvertrauen: Mein Kinder- und dann Hausarzt von 1969 bis 2020, Dr. Sepp Pailer, hatte nämlich als junger Turnusarzt gerade Nachtdienst, als Joseph Marx am 3. September 1964 in seinem 83. Lebensjahr im Landeskrankenhaus Graz verstarb. Vor einigen Jahren übergab er mir eine Locke des Meisters ad manus fideles – zu treuen Händen – zusammen mit jenem EKG, das in dieser Nacht den Rhythmus des immer langsamer schlagenden Künstlerherzens aufgezeichnet hatte – beides ist nun im Archiv der KUG aufbewahrt.
Der Vielleser Joseph Marx war ein enger Freund des Dirigenten Karl Böhm
Doch damit nicht genug: In meiner privaten Bibliothek finden sich zahlreiche Bücher Ex libris Joseph Marx mit seinem handschriftlichen Namenseintrag, die durch meine Bekanntschaft mit der Grazer Familie Böhm in meinen stolzen Besitz gelangten – der Vielleser Joseph Marx war ein enger Freund von Dr. Karl Böhm gewesen, der zwölf Jahre nach ihm, 1894, ebenfalls in Graz geboren worden war. Welche Freude also zu erfahren, dass das symphonische Werk von Joseph Marx nun von einem international so renommierten Klangkörper wie dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich unter seinem neuen Chef Fabien Gabel wieder verstärkt in dessen musikalisch-interpretatorischen Fokus gerückt werden wird, und welche Ehre für mich als Grazer von Geburt und Haltung, meinen steirischen Landsmann an dieser Stelle in holzschnittartiger Knappheit präsentieren zu dürfen!
Beginnen wir mit einem Paradox: War Joseph Marx in Österreich in den 30er- und 40er-Jahren der mit Abstand meistaufgeführte zeitgenössische Komponist, musste er ab den 50er-Jahren mit eigenen Augen das jähe Schwinden seines Werkes im öffentlichen Bewusstsein zu Kenntnis nehmen, und er kann heute mit Fug und Recht als ein sogar in unseren Breiten vergessener Komponist gelten. Dafür lassen sich gute Gründe anführen, doch werfen wir besser einen Blick auf die Chronologie seines kompositorischen Schaffens, das sich klar in drei Perioden einteilen lässt und den Einfluss vor allem von Claude Debussy, Alexander Skrjabin und Hugo Wolf an keiner Stelle verleugnet: Von 1910 bis 1912 entstanden jene Klavierlieder, die Marx schlagartig europaweit bekannt machten – ein musikalischer Senkrechtstart wie nur je einer! Viele von diesen mehr als 100 Liedern haben sich bis heute im Repertoire gehalten, 2010 widmete Angelika Kirchschlager ihnen eine eigene CD, 2001 hatte Renée Fleming gar in New York vier Marx-Lieder in ihre bejubelte CD «Night Songs» aufgenommen, und auch Thomas Hampson führt bis heute Marx-Lieder in seinem Programm.
Von 1911 bis 1914 widmete sich Marx dann der Kammermusik, von der sich vor allem die Trio-Fantasie in g-Moll im Repertoire gehalten hat. Von 1919 bis 1930 tritt schließlich der musikalische Epiker auf den Plan: Als erste Orchesterkomposition erscheint 1919 das «Romantische Klavierkonzert» in E-Dur, das im Juni 2026 von den Tonkünstlern vier Mal interpretiert werden wird und dessen Titel ein augenfällig programmatisches Bekenntnis zur Romantik darstellt. Kernstücke dieser Phase sind die opulente «Herbstsymphonie» und das hochvirtuose Klavierkonzert «Castelli Romani». Das erste Stück der dreiteiligen «Naturtrilogie», eine magische Beschwörung des Mondlichts mit dem Titel «Eine symphonische Nachtmusik», wird in dieser Saison sogar sechs Mal erklingen. Nach den drei Streichquartetten und den «Alt-Wiener Serenaden», die von 1941 bis 1942 gleichsam als ein resümierender Nachklang entstanden, verstummte Marx als Komponist, darin Gioacchino Rossini und Jean Sibelius gleich, für die ihm verbleibende Lebensspanne.
Hören, was gespielt wird
So klingt die Musik von Joseph Marx!Hochschulprofessor und Netzwerker, Musikmanager und Pädagoge
In diesen letzten 20 Jahren seines Lebens widmete sich Marx besonders seinen Tätigkeiten als Musikkritiker und Schriftsteller – seine «Betrachtungen eines romanischen Realisten» sind bis heute eine faszinierende Fundgrube musikästhetischer Erfahrungen geblieben. Zu Weltgeltung brachte es Marx jedoch vor allem als Hochschulprofessor, als modern und institutionell professionell agierender Netzwerker und Musikmanager ante litteram, und vor allem als unermüdlicher und höchst geschätzter Pädagoge: Seit seiner Bestellung zum Rektor der 1922 in Wien neu gegründeten Hochschule für Musik prägte er bis zu seinem Tod die Musiklandschaft Österreichs wie kein Zweiter, von seinen insgesamt 1.300 Schülern seien stellvertretend Friedrich Gulda, Kurt Schwertsik und Erik Werba genannt. Die noch vor wenigen Jahren lebhaft geführte Diskussion betreffend die Rolle von Marx im Ständestaat und in der Ostmark ist heute, ohne je konkrete Ergebnisse gezeitigt zu haben (Gernot Gruber), weitestgehend verebbt.
Über die europäischen Grenzen schwappte Marxens Ruhm als Musikpädagoge 1932, als ihn Kemal Atatürk persönlich dazu einlud, ein modernes Musikschulsystem für die junge Türkei zu schaffen, und nach mehreren Reisen nach Ankara war es 1932 schließlich so weit: Die Visionen von Marx wurden konkret umgesetzt, mit deren Ausführung wurden in weiterer Folge Paul Hindemith und Béla Bartók betraut. Vom Typ der äußeren Erscheinung eignete Marx weder die leptosome Lässigkeit eines Alban Berg noch die joviale Sprezzatura eines Freundes Richard Strauss und schon gar nicht die drahtige Konzentriertheit eines Gustav Mahler: von füllig-behaglicher Statur, erinnerte sein Auftreten meist an die so sinnlich wie unerschütterlich in sich ruhende epische Gravitas eines römischen Senators.
«Ich muss jetzt aufhören, mein Zug geht ja gleich heim nach Graz!»
Lebenslanger philosophischer Konservativismus
Als roten Faden, der den Zusammenhang zwischen der Persönlichkeit und dem so vielfältig gestreuten Wirken von Marx sowie jenen dieses Kurzporträts verbürgt, lässt sich – auf den ersten Blick vielleicht provokant unzeitgemäß, trotzdem aber zutreffend – seine emphatische Naturverehrung, ausgeprägt in den konkreten Erscheinungsformen des «Steirischen» namhaft machen, und dies in einer sowohl geistigen wie auch sentimentalen Bedeutung: In Graz war Joseph Marx Student des bedeutenden Logikers Alexius Meinong, dessen Lehre von der Intentionalität des menschlichen Bewusstseins Marx in seiner Dissertation «Über die Funktion von Intervall, Harmonie und Melodie beim Erfassen von Tonkomplexen» für eine Theorie musikalischer Gestaltqualitäten fruchtbar machte. So erwies sich die für ihn abstrakt-mathematisch scheinende Konstruktion einer Zwölftonreihe mit diesem phänomenologischen Gedankenansatz, der auf die Intentionalität des menschlichen Bewusstseins aufbaute, vollkommen unvereinbar, worin der Grund für den lebenslang-zähen, philosophischen und auch «instinktiven» Konservativismus von Joseph Marx zu suchen sein mag.
In autobiografischer Hinsicht ließ Marx zeitlebens keinerlei Zweifel an seiner innigen Bindung an seine steirische Heimat aufkommen. Die Sommermonate seiner Kindheit und Jugend verbrachte er in den Weinbergen seiner Familie im idyllischen Weindorf Radenci, wenige Kilometer südöstlich von Bad Radkersburg im heutigen Slowenien gelegen. Muße und Ruhe zum Komponieren fand er in seinem Landhaus in Grambach bei Graz, ausschließlich in diesem von ihm selbst so bezeichneten «Tusculum», mit Blick über das Grazer Becken bis hinüber zur Koralpe und über das südsteirische Weinland bis hin zu den fernglänzenden untersteirischen Hügelketten, entstanden sämtliche seiner Kompositionen. In diesem Haus, das heute nicht mehr besteht, war über lange Jahre hindurch auch Anna Hansa, zu Gast, jene – mit Dr. Friedrich Hansa verheiratete – Sängerin also, die 1910 in ihren Liederabenden dem Liedschaffen von Marx zur Weltgeltung verholfen hatte. Trotz seiner Wohnung in der Traungasse 6 im dritten Wiener Gemeindebezirk, die heute eine Gedenktafel ziert, fühlte sich Marx stets als Grazer: So berichtet einer seiner prominentesten Schüler, der bereits erwähnte Doyen der österreichischen Musikwissenschaft Prof. Dr. Gernot Gruber, dass Marx seine Vorlesung in Wien an Freitagnachmittagen meistens mit den hektischen Worten unterbrach: «Ich muss jetzt aufhören, mein Zug geht ja gleich heim nach Graz!»
In inniger Verehrung für den steirischen Landsmann Hugo Wolf
Doch lassen wir abschließend Joseph Marx selbst zu Wort kommen, wenn er 1960 zur 100. Wiederkehr des Geburtstags seines innig verehrten untersteirischen Landsmannes Hugo Wolf dessen Kindheitsgegend beschreibt: «Wer diese gottgesegnete Landschaft kennt, auf Höhenwanderungen und Hängen des Bacherngebirges das farbige Leuchten des Herbstes und den sinnverwirrenden Frühling der Wälder erleben durfte, wo der Kuckuck tausendmal ruft, während es von den Obstbäumen in weißen Wolken auf lila Veilchen Wiesen niederschneit – wer sich an all dem immer wieder berauscht, wie an ewig Unverlierbarem, der findet in Wolfs Liedern süßes Anklingen dieser Stimmungen, in einem leise erblühenden Akkord, in einer zarten Melodie, die selig zum Himmel strebt, wie Frühlingsbirken am Abend. Wenn dann der Südwind durch die Äste fährt und weiße Blütenstaublawinen niederstäubt, oder wenn im Herbst die Windräder harfenartig anklingen, silbrig fein wie Celesten des Herbstes, der Horizont in Nebeln verschwimmt und das Meer ahnen läßt, dann wird schöpferische Phantasie rege.»
Wurden je die schöpferischen Quellen musikalischer Inspiration zutreffender und schöner beschreiben?
Prof. Dr. Harald Haslmayr
Auf einen Blick
Das Wichtigste über Joseph MarxJoseph Marx, am 11. Mai 1882 als Sohn des Arztes in Graz geboren, begann schon während seiner Gymnasialzeit zu komponieren. Vor knapp 100 Jahren war er der mit Abstand meistaufgeführte zeitgenössische Komponist in Österreich. Heute dagegen kann er als ein sogar in unseren Breiten vergessener Komponist gelten. Sein kompositorisches Schaffen wurde stark von Claude Debussy, Alexander Skrjabin und Hugo Wolf beeinflusst und lässt sich in drei Perioden einteilen: Bis 1912 entstanden die Klavierlieder, die Marx schlagartig bekannt machten, von 1911 bis 1914 widmete er sich der Kammermusik, von der sich vor allem die Trio-Fantasie in g-Moll im Repertoire gehalten hat. Von 1919 bis 1930 tritt der musikalische Epiker auf den Plan; als erste Orchesterkomposition erscheint 1919 das «Romantische Klavierkonzert» in E-Dur.
Weitere Kernstücke dieser Phase sind die opulente «Herbstsymphonie» und das hochvirtuose Klavierkonzert «Castelli Romani». Das erste Stück der dreiteiligen «Naturtrilogie», eine magische Beschwörung des Mondlichts mit dem Titel «Eine symphonische Nachtmusik», wird in der aktuellen Saison mit dem Tonkünstler-Orchester sechs Mal erklingen. Nach den drei Streichquartetten und den «Alt-Wiener Serenaden», die bis 1942 als resümierender Nachklang entstanden, verstummte Marx als Komponist.
In den letzten 20 Jahren seines Lebens widmete er sich besonders seinen Tätigkeiten als Musikkritiker und Schriftsteller. Er war Rektor der in Wien neu gegründeten Hochschule für Musik und prägte bis zu seinem Tod die Musiklandschaft Österreichs. Friedrich Gulda, Kurt Schwertsik und Erik Werba zählten zu seinen 1.300 Schülern. 1932 lud ihn der erste Präsident der Republik Türkei, Kemal Atatürk, ein, ein modernes Musikschulsystem für die Türkei zu schaffen.
Joseph Marx starb am 3. September 1964 in seinem 83. Lebensjahr in Graz.