Archiv: Sabine Meyer spielt Mozart

Wien Musikverein Großer Saal Musikverein | Großer Saal

Interpreten

  • Sabine Meyer, Bassettklarinette
  • Yutaka Sado, Dirigent

Programm

Es dürfte kein Musikzentrum auf der Welt geben, das Sabine Meyer in den mehr als 30 Jahren ihrer Karriere nicht besucht und bezaubert hätte. Die deutsche Klarinettistin, die 1983 von Herbert von Karajan als erste Frau bei den Berliner Philharmonikern engagiert wurde, gastierte als Solistin bei mehr als 300 Orchestern im In- und Ausland. Für ihre Auftritte mit den Tonkünstlern entschied sie sich für das Klarinettenkonzert von Wolfgang Amadeus Mozart, eines der wenigen Werke der klassischen Musik, dessen bloße Erwähnung eine klingende Einladung bedeutet. Mit der Wahl von Kompositionen von Joseph Haydn und Johannes Brahms bekennt sich Chefdirigent Yutaka Sado erneut zur großen europäischen Tradition der Symphonik – bereits seinen Einstand bei den Tonkünstlern im Oktober 2015 gestaltete er mit Musik von Haydn und Brahms.

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Joseph Haydn

Symphonie e-Moll Hob. I:44 «Trauersymphonie»

Sätze

  • Allegro con brio

  • Menuetto. Allegretto - Trio

  • Adagio

  • Finale. Presto

Dauer

24 Min.

Entstehung

ca. 1771

Der deutsche Dichter und Dramatiker Friedrich Maximilian Klinger (1752 - 1831) ist heutzutage weithin vergessen, und seine Werke fristen unbeachtet ein tristes Dasein in den Archiven. Und doch hat er seine unauslöschliche Spur hinterlassen und einer ganzen, freilich kurzlebigen Epoche (etwa Mitte der 1760er bis Mitte der 1780er Jahre) ihren Namen gegeben, indem der Titel eines seiner Stücke zum Synonym einer neuen literarischen Strömung wurde: «Sturm und Drang» heißt Klingers Drama (1776), das der Bewegung aus der rückschauenden Distanz eines halben Jahrhunderts das griffige Schlagwort lieferte. Ursprünglich hatte Klinger es freilich «Der Wirrwarr» genannt - und so nimmt es nicht wunder, dass diese Epoche der deutschen Literatur zunächst als chaotisch-widerständige Haltung den Zielen der Aufklärung gegenüber eingeschätzt wurde. Doch hatten die Vertreter keineswegs die platte Zurückdrängung der Vernunft zugunsten eines reinen Irrationalismus auf ihre Fahnen geschrieben, sondern zielten auf die Versöhnung von, wie man heute sagen würde, Kopf und Bauch - von Vernunft und Gefühl. Auch zur Natur wollte man in ein neues, innig einfühlendes Verhältnis treten. Das angestrebte Gleichgewicht machte allerdings erst die Entfesselung eines enormen Gefühlsüberschwangs nötig, der das Defizit ausgleichen sollte. Denn die künstlerische Jugend probte nun ganz dezidiert den Aufstand gegen die althergebrachten Autoritäten und ihre auf Tradition fußenden Reglements. Als «junge Wilde» opponierten die Vertreter der neuen Dichtergeneration gegen den starren Unterricht in den Akademien und vertrauten lieber der Kraft des «Originalgenies»: Die individuellen Fähigkeiten des zu Höherem geborenen künstlerischen Menschen, der sein Erleben und Empfinden in eine ganz eigene Form brächte, wäre mehr wert als alle erlernbaren Regeln, die doch bloß als Einengung wirkten. Denn solche Krücken habe ihr vor Kraft strotzendes, gesundes Genie nicht nötig, waren die Jungen überzeugt. Die Welt und das Leben in ihr sollte nicht in ewig gleiche Formen gepresst werden, sondern die Kunst sollte die Welt flexibel und zutreffend widerspiegeln: Sozialkritik und gesellschaftliche Utopie zählten zu den zentralen Themen. Die aufmüpfigen Originalgenies und ihre literarischen Helden, die sie vornehmlich auf die Theaterbühne stellten, waren dadurch in Zwiespalt und Konflikt gefangen, forderten kühn Freiheit, haderten mit den unbeugsamen Regeln der bestehenden Weltordnung, die oft an familiären Konflikten gezeigt wurden, waren in den Augen der Gesellschaft vielfach geächtet und von Melancholie und Depression bedroht. Formale Fesseln wurden gesprengt, antike Ideale wie die Einheit von Zeit, Raum und Handlung über Bord geworfen: Kurzszenen, «Fetzenszenen» und Episodenreihungen verdrängten die traditionelle Dramaturgie; Ausrufe, Auslassungen, Kraftausdrücke und derbe Mundartbegriffe holten die Sprache von den Kothurnen. Shakespeare wurde das neue Vorbild.
Über Umwege hat der «Sturm und Drang» auch in der Musik seine Spuren hinterlassen: Zumal die betont experimentelle Phase, welche Joseph Haydn von der Mitte der 1760er Jahre bis 1772 durchlief, wurde und wird bis heute vielfach mit diesem Epitheton bedacht - auch wenn renommierte Haydn-Forscher nicht müde werden, dies als irreführend zu brandmarken. Es gehe, so etwa Ludwig Finscher, viel mehr um die allgemeiner zu verstehende «Tendenz, durch Moll-Tonarten und die Übernahme von Elementen der Opernsprache wie Orchester-Tremolo, Synkopenketten, große Intervalle, schroffe Kontraste, Rezitativ-Formeln die Sprache der Symphonie anzureichern, zu vertiefen, ja überhaupt erst zum Reden zu bringen.»
Dieses neue, betont gestische Komponieren wurde zunächst vor allem in und um Wien sowie in Paris populär, womit sich Joseph Haydn erneut als Bindeglied zwischen diesen musikalischen Metropolen erweist. Vermutlich 1771/72 in Esterháza komponiert und 1772 bei Breitkopf annonciert, kann auch die Symphonie Nr. 44 e-moll mit dem apokryphen Beinamen «Trauersymphonie» (Haydn soll sich das Adagio als Begräbnismusik gewünscht haben) auf eine reiche Rezeptionsgeschichte in Paris zurückblicken.
Den Stirnsatz beherrscht ein energisches Unisono-Motiv in Halbenoten, das in großen Schritten vom Grundton über die Quint zur Oktav aufsteigt, um dann einen Halbton abzusinken: Zusammen mit Seufzermotiven, pochenden Achtelnoten und vielfach sequenzierten Sechzehntelfiguren ist damit das gesamte Material dieses von klagender Strenge geprägten Allegro con brio exponiert, denn Haydn verzichtet aus Gründen der Ausdrucksdichte hier wie so oft auf ein kontrastierendes zweites Thema. Formal ähnlich gebaut und inhaltlich in ganz ähnlicher Weise dramatisch geschürzt ist das Presto-Finale mit seinem Gestus hektischer Erregung - wobei zumal in den Ecksätzen durch kontrapunktische Kulminationen und durch die in leeren Quinten, also ohne Entscheidung zwischen Dur und Moll, verhallenden Schlüsse eine archaisch-harte Wirkung erzielt wird. Das Menuett folgt an zweiter Stelle, wie es Haydn in vielen Streichquartetten hält - und doch handelt es sich hier um eine Überraschung, da dies sonst nur als eine in frischerem Tempo erklingende Antwort auf ein eröffnendes Moderato geschieht. Hier jedoch fungiert das e-moll-Menuett als langsamerer Satz - ein Kontrast, der gleichzeitig dessen Struktur besser verstehen lässt: Es handelt sich im Wesentlichen um einen zweistimmigen Kanon zwischen Ober- und Unterstimmen, wobei der Abstand erst einen Takt, später zwei Takte beträgt. Das zunächst idyllisch in Terzen niedersinkende E-Dur-Trio verzeichnet dennoch die gleichen großen dynamischen Kontraste der ganzen Symphonie, deren Bandbreite, nicht selbstverständlich für diese Zeit, vom Pianissimo bis zum Fortissimo reicht. Lyrische Emphase und Empfindsamkeit prägen hingegen das Adagio, dessen sanfte Tröstungen aber von Mollwendungen nicht verschont bleiben.
© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Walter Weidringer

Wolfgang Amadeus Mozart

Konzert für Klarinette und Orchester A-Dur KV 622 (Fassung für Bassettklarinette)

Sätze

  • Allegro

  • Adagio

  • Rondo. Allegro

Dauer

27 Min.

Entstehung

1787/91

Als Wolfgang Amadeus Mozart sein Konzert für Klarinette und Orchester in A-Dur KV 622 schrieb, stand er bereits im letzten Jahr seines Lebens. Wie die Nummer des Werkverzeichnisses nahelegt, handelt es sich hier um sein letztes Konzert, ja um eines seiner letzten Werke überhaupt: Es entstand 1791, nur zwei Monate vor seinem Tod und zählt längst zu den Standardwerken für jeden Klarinettisten und zu einer der populärsten Kompositionen des gesamten Konzertrepertoires.

Die Klarinette war zu Mozarts Zeit ein noch recht neues Mitglied der Holzbläserfamilie. Sie wurde erst um 1700 von dem Nürnberger Instrumentenbauer Johann Christoph Denner entwickelt. Da der Klang des Instruments in hoher Lage dem einer Clarin-Trompete ähnelte, bekam es den Namen «Clarinette», war also zunächst eigentlich ein «Trompetchen» und vermutlich noch weit davon entfernt, «den Ton des empfindsamen Herzens» zu treffen, den Friedrich Daniel Schubart ihr in seinen 1784 verfassten «Briefen zu einer Ästhetik der Tonkunst» zuschrieb. Daher setzte sich die Klarinette nur langsam durch und war noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein keineswegs in allen Orchestern vertreten.

Dennoch hatte Mozart mehrfach Gelegenheit, ihre Möglichkeiten zu studieren und in eigenen Kompositionen zu erkunden. Durchwegs eigenständig tritt sie in Mozarts Œuvre nur dreimal in Erscheinung: im sogenannten Kegelstatt-Trio KV 498, im Klarinettenquintett KV 581 und schließlich in seinem Klarinettenkonzert. Alle drei Werke sind Mozarts Bekanntschaft mit Anton Paul Stadler (1753 – 1812) zu verdanken. Stadler war seit 1782 Mitglied der kaiserlichen Hofkapelle, ein virtuoser Klarinettist, der auch komponierte und sich mit der klanglichen und technischen Verbesserung seines Instruments befasste. Das von ihm bevorzugte Modell war die Bassettklarinette, für die ihm Mozart sein Konzert schrieb, eine Mischform aus Klarinette und Bassetthorn mit einem nach unten erweiterten Tonumfang. Da das Instrument bald außer Gebrauch kam und Mozarts Manuskripte verlorengingen, wurde nach Mozarts Tod eine für die modernere Klarinette eingerichtete Fassung des Werkes publiziert.

Erst im 20. Jahrhundert befasste man sich wieder mit seiner ursprünglichen Gestalt. 1977 wurde die rekonstruierte Fassung von Ernst Hess veröffentlicht, die der Originalfassung so nahe kommt, wie auf Grund der Quellenlage nur möglich. Hess, Komponist, Dirigent und Mozart-Forscher aus Zürich, stützte sich auf ein in Winterthur aufbewahrtes Autograph von Mozart, eine Skizze von 199 Takten des ersten Satzes, notiert für eine Klarinette, die bis zum tiefen C geht. Außerdem lag ihm eine Rezension des Erstdruckes von Mozarts Konzert aus der «Allgemeinen Musikalischen Zeitung» von 1802 vor, die Abweichungen von Mozarts Original mit Notenbeispielen belegt und ebenfalls die ursprüngliche Bestimmung für die Bassettklarinette bestätigt. Schließlich fand der Klarinettist Hans Rudolf Stalder mit Ernst Uebel in Markneukirchen einen Instrumentenbauer, der bereit war, eine Bassettklarinette nachzubauen. Auf diesem Instrument erklang Mozarts Klarinettenkonzert mit Stalder beim Mozartfest 1968 in Augsburg erstmals wieder in seiner − freilich immer noch hypothetischen – Originalfassung und wird seitdem  gelegentlich auch so wieder aufgeführt. Häufiger ist allerdings die inzwischen eingebürgerte Version zu hören.

Mozarts Klarinettenkonzert weicht nicht von der üblichen Konzertform mit drei Sätzen ab und zeigt doch dank seiner auf das Wesen des Soloinstruments ausgerichteten Gestaltungsmittel einen höchst individuellen Charakter. Ein kammermusikalisch sparsam besetztes Orchester mit je zwei Flöten, Fagotten und Hörnern sowie Streichern stützen den vorwiegend gesanglich angelegten Klarinettenpart, umspielen ihn, ohne je in den Vordergrund zu treten, und nur im ersten Satz (Allegro) bereitet es mit einem ausgedehnten Vorspiel den Auftritt des Soloinstruments vor. Die Klarinette nimmt das dort präsentierte Hauptthema auf und macht es sich zu Eigen, indem sie, ihre hohen und tiefen Register spielerisch gegeneinander stellend, mit sich selbst dialogisiert. In dem so eröffneten Klangraum bleibt das Orchester weitgehend im Hintergrund, und keine Solokadenz ist nötig, um die Klarinette in ihrer Dominanz zu bestätigen.

Auch der Beginn des zweiten Satzes (Adagio) gehört sogleich ihr. Über einer verhaltenen Streicherbegleitung intoniert sie eine Kantilene jenes «preghiera»- (Gebets-)Typs, mit dem die Gräfin in ihrer Cavatina in «Le nozze di Figaro» den Gott der Liebe beschwört. Fernab aller Deutungsversuche spricht die Sachlage gewiss für Mozarts Wertschätzung der Klarinette, die mit seinem Konzert den ersten Triumph ihrer solistischen Karriere erlebte. Alles in diesem tief inspirierten Satz ist darauf gerichtet, ihren sonoren und wandlungsfähigen Klang, ihr schmiegsames Cantabile auszuspielen. Das Finale (Rondo. Allegro) schließt sich kontrastierend daran an, tänzerisch im 6/8-Takt mit brillanten Passagen für die Klarinette und getragen von ganz irdischer Heiterkeit, die Mozarts Musik schließlich doch wieder zurück auf die Erde holt.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Andrea Wolter

Johannes Brahms

Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68

Sätze

  • Un poco sostenuto - Allegro - Meno Allegro

  • Andante sostenuto

  • Un poco Allegretto e grazioso

  • Adagio - Più Andante - Allegro non troppo, ma con brio - Più Allegro

Dauer

42 Min.

Entstehung

1876

Johannes Brahms galt zu Lebzeiten als «Erbe» und «legitimer Nachfolger» Beethovens. Das Bonmot des Dirigenten Hans von Bülow, Brahms’ Erste Symphonie sei die «Zehnte» von Beethoven, hat diesen Ruf untermauert. Die Einschätzung, Brahms habe die klassischen Ideale hoch gehalten und die von der Wiener Klassik ausgeprägten Gattungen der Symphonie und des Streichquartetts sowie die Sonaten- und Variationsform in Beethovens Sinn erfüllt, hat sich bis heute erhalten. Daran konnte und kann auch die Erkenntnis Arnold Schönbergs nicht rütteln, dass Brahms die traditionellen Fundamente mit neuen Verarbeitungsmethoden in der so genannten entwickelnden Variation und in harmonischen Belangen modernisiert und zum Teil aufgebrochen hat. Der Romantiker Brahms: ein Klassiker mit Zukunft.

Eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Der angehende Komponist Brahms empfand Beethovens kompositorische Hinterlassenschaft geradezu als übermächtig. Zu dem Dirigenten Hermann Levi meinte Brahms: «Ich werde nie eine Symphonie komponieren! Du hast keinen Begriff davon, wie es unsereinem zumute ist, wenn er immer so einen Riesen hinter sich marschieren hört.» Tatsächlich umging Brahms lange Zeit die Symphonie, er wich ihr aus, obwohl es ihn zu ihr drängte. Die Monumentalität des Ersten Klavierkonzertes ist darauf zurückzuführen, dass Brahms mit dem musikalischen Material ursprünglich symphonische Pläne hatte. Auch als der junge Komponist für das von ihm geleitete Orchester in Detmold komponierte, verbarg er seine symphonischen Ambitionen hinter einer anderen Gattung, in diesem Fall der Serenade. Die erste Serenade D-Dur kommt eigentlich als veritable und imposante Symphonie daher und wird erst durch eine Erhöhung der Satzanzahl und starke kammermusikalische wie tänzerische Impulse in der Art einer Suite aufgelockert. Thematische Beethoven-Bezüge sind aber auch in diesem Werk unüberhörbar.

An Beethoven erinnerte dann auch die Hörer der Uraufführung der Ersten Symphonie c-moll op. 68 von Brahms das Hauptthema des Finalsatzes, das im Aufbau seiner melodischen Sequenzen dem «Freude»-Thema der Neunten Symphonie ähnelte (besonders darauf nahm wohl auch Hans von Bülow mit seiner überspitzten Bemerkung Bezug). Wie bei Beethovens Fünfter Symphonie wiederum ist auch bei Brahms der Finalsatz als Höhepunkt und Lösung der symphonischen Konflikte angelegt. Nach einer düsteren c-moll-Einleitung zum letzten Satz hellt ein feierliches Hörnerthema die Stimmung nach C-Dur auf. Ein Choral leitet über in das hymnische, weit geschwungene Hauptthema, das so stark an Beethovens Neunte gemahnt. Die Themen werden von Brahms in spannenden Entwicklungen auf einen strahlenden Durchbruch in der Koda hingeführt – einen Durchbruch ins Licht, genauso wie in Beethovens Fünfter Symphonie. Die symphonische Kurve verläuft bei Beethoven wie bei Brahms von der düsteren und schicksalsschwangeren Einleitung der Symphonie zur Apotheose, von c-moll nach C-Dur.

Den Hauptteil des ersten Satzes in c-moll hat Brahms bereits im Jahr 1862 komponiert, dann geriet aber dieses Symphonie-Unternehmen vorerst noch einmal ins Stocken. An seinen Freund, den Geiger Joseph Joachim, schrieb Brahms: «Hinter Symphonie von J. B. magst Du einstweilen ein ? setzen.» Es dauerte weitere zwölf Jahre, bis Brahms die Arbeit an der Symphonie wieder aufnahm, dann aber mit großen Schritten aus dem Schatten des Riesen Beethoven hervortrat. Er knüpfte dort an, wo Beethoven als Symphoniker geendet hatte. So schuf Brahms mit der Einleitung der Symphonie einen Keim, in dem bereits das gesamte thematische Material der Symphonie enthalten ist. Aus den zwei gegenläufigen chromatischen Figuren in den Streichern und den Bläsern entwickelte Brahms die Hauptthemen des ersten bis dritten Satzes und die Einleitung zum Finale. Dabei spielen auch die harmonischen Felder der Motive eine wichtige Rolle und werden Gegenstand einer Entwicklung. Mit solchen Kompositionstechniken emanzipierte sich Brahms von Beethoven.

Nach dem erbitterten symphonischen Ringen voller Synkopen, zerklüfteter Dreiklangsbrechungen und abrupter Wechsel zwischen Piano und Forte im ersten Satz wird der zweite Satz zum ruhenden Gegenpol: Im innig anhebenden Andante übernimmt die Oboe mehrmals die melodische Führung. Nach einigen fließenden Steigerungen endet der Satz in einer wunderschönen Stimmung mit berührendem Violinsolo und sanft aufsteigenden Dreiklangszerlegungen.

Die anmutige Klarinettenmelodie des dritten Satzes ist raffiniert gebaut: Ihre zweite Periode ist exakt die Umkehrung der ersten Periode. In der mitreißenden Steigerung des Mittelteils kündigt Brahms schon den Durchbruch des Finales an. «Freude, Freude!» scheinen die Instrumente zu rufen, ehe sie zu ruhigen Variationen des ersten Satzteils zurückkehren.

Die Uraufführung der Symphonie fand im November 1876 in Karlsruhe statt. Der Erfolg des Werkes fiel ähnlich triumphal aus wie seine Koda.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Rainer Lepuschitz