Archiv: Leidenschaftliche Akkordeon-Rhythmen

Grafenegg Wolkenturm Wolkenturm

Interpreten

  • Ksenija Sidorova, Akkordeon
  • Mei-Ann Chen, Dirigentin

Programm

Emmanuel Chabrier
«España» Rhapsodie für Orchester
Joachim Schmeißer
«Carmen's Spiel» Konzertstück für Akkordeon und Orchester (nach Georges Bizet)
- Pause -
Maurice Ravel

Den Süden in den Fingern. Das Akkordeon ist mehr als ein Instrument. Es ist ein Lebensgefühl. Kaum jemand macht das so deutlich wie die lettische Akkordeonistin Ksenija Sidorova. Nach Auftritten in London wurde sie von der «Times» als «echte Entdeckung» gefeiert, seither begeistert sie die ganze Welt. In Grafenegg wird sie gemeinsam mit dem Tonkünstler-Orchester zwei unterschiedliche Welten beschreiten: das Bandoneon-Konzert von Piazzolla mit all seinen südamerikanischen Tangomelancholien und die spanische Welt der «Carmen» von Georges Bizet – eine temperamentvoll aufgeladene Sommernacht.

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Maurice Ravel

«Daphnis et Chloé» Suite Nr. 2

Sätze

  • Lever du jour - Pantomime. Lent - Danse générale. Lent

Dauer

18 Min.

Entstehung

1907/1912

Maurice Ravel schrieb kurz nach der nicht allzu erfolgreichen Uraufführung des Balletts «Daphnis et Chloé» im Jahre 1912 an den Direktor der Pariser Opéra: «Es war für mich eine so ununterbrochene Tortur, dass mir vorerst jede Lust auf ein ähnliches Unternehmen vergällt ist.» Was war geschehen? Am selben Abend war auch Claude Debussys «Prélude à  l’après-midi d’un faune» erstmals tänzerisch interpretiert worden, wobei die betont erotische Verkörperung des Fauns durch Vaclav Nijinsky einen mittleren Skandal verursachte, der das öffentliche Interesse an «Daphnis» zu Unrecht in den Hintergrund drängte.

1909 hatte Sergej Diaghilew Ravel um eine Ballettmusik für seine «Ballets russes» gebeten und als Sujet den (unter anderen von Goethe bewunderten) spätantiken Liebesroman «Hirtengeschichten von Daphnis und Chloé» des Longos von Lesbos (2./3. Jahrhundert) vorgeschlagen, der von zwei bei Hirten heranwachsenden Findelkindern handelt, die Schritt für Schritt gemeinsam die Liebe entdecken. Michail Fokine fokussierte dessen Handlung geschickt auf Chloés Entführung durch Piraten, die kein Geringerer als der Gott Pan in die Flucht schlägt und so die Liebenden wieder vereint.

Allerdings machte Fokines komplexe Choreografie zu Ravels ohnehin schon vertrackter Komposition (die abschließende «Danse générale» etwa steht im für damalige Ballett-Gepflogenheiten ganz ungewöhnlichen 5/4-Takt) den Tänzern der Uraufführung arg zu schaffen. So scheint es kaum verwunderlich, dass Ravels außerordentliche Partitur ihren Siegeszug zunächst in Form zweier Suiten auf den Konzertpodien antrat, wo deren ganz individuelle Meisterschaft umso deutlicher hörbar wurde, bevor das Werk auch auf der Bühne volle Rehabilitierung erfuhr.

Die zweite Suite, 1913 veröffentlicht, umfasst den letzten Teil der Komposition: «Lever du jour» malt im Licht der aufgehenden Sonne eine prächtige Morgenlandschaft. Das Lied von der Nymphe Syrinx (mit Flötensolo) bildet die Überleitung zur «Pantomime», in der Daphnis mit Chloé vereint wird, bevor die «Danse générale» einen orgiastischen Schlusstaumel entfacht.

Ein «großes musikalisches Freskogemälde» hatte Ravel laut eigener Aussage mit «Daphnis et Chloé» im Sinn, «weniger auf Archaik bedacht als auf Treue zu dem Griechenland meiner Träume» – keine Konstruktion eines vorgeblichen Naturalismus also, sondern die ästhetisch idealisierte Überhöhung der Wirklichkeit. Das schließt ein Element ein, auf das der Untertitel des Balletts («Symphonie chorégraphique») verweist: «Das Werk ist symphonisch gebaut, nach einem sehr strengen Plan und mittels einer kleinen Anzahl von Motiven, deren Durchführung die symphonische Einheit sichern.» Dadurch bändigt Ravel die enorme Farbenpracht seines fast ins Monumentale gewendeten Schäferspiels, in der auch die menschliche Stimme textlos in die Palette des großen Orchesters integriert wird. Dennoch bleiben die Valeurs stets «rein», sollen sich nicht in pauschaler Mischung ineinander verlieren, sondern durch klare, scharfe Konturen voneinander abgesetzt sein: Erst das bringt die Partitur zum schönsten Irisieren.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Walter Weidringer

Astor Piazzolla

Konzert für Bandoneon und Orchester «Aconcagua»

Sätze

  • Allegro marcato

  • Moderato

  • Presto

Dauer

21 Min.

Entstehung

1979

Astor Piazzollas Leben als Tango-Komponist begann mit einem Schimpfwort. Es kam aus dem Mund der französischen Kompositionslehrerin Nadia Boulanger, zu der Piazzolla aus Argentinien zum Studium nach Paris gekommen war. Er legte ihr komplizierte Kompositionsversuche mit Einflüssen von Ravel bis Strawinski vor, getraute sich aber nicht, ihr zu sagen, dass er eigentlich Tango-Musiker sei. Boulanger entdeckte aber doch seine wahre Begabung und riet ihm, sich in Hinkunft treu zu sein und Tangos zu komponieren. Auf diese Weise begann Piazzolla, vom typischen Instrument (des Bandoneons) aus, das weiter zu entwickeln, was er in seinem Heimatland an Tangomusik aufgesogen und eingeatmet hat. Viele von Piazzollas Tangos waren nicht mehr im traditionellen Sinne tanzbar, sondern in erster Linie Musik zum Zuhören, Erleben, Mitfühlen. Die Harmonie des Tangos weitete er mit Mitteln des Jazz aus. Die Spieltechnik der Instrumente hat er durch Anleihen aus der Neuen Musik modernisiert. Trotz aller Neuerungen bleibt aber das Wesentliche des Tangos erhalten: die typischen synkopischen Rhythmen, die harmonischen Wendungen, die Stakkatos und die melancholische Stimmung.

Piazzolla schuf viele Einzel-Tangos, aber auch zyklische Kompositionen, musikdramatische Werke und Konzerte, darunter jenes mit dem Titel «Aconcagua», benannt nach dem in den Anden gelegenen, mit 6.962 Metern höchsten Berg Südamerikas. Piazzolla befand sich auf dem Gipfel seines musikalischen Schaffens, als er 1979 dieses Konzert im Auftrag des aus Polen stammenden und in Argentinien erfolgreichen Dirigenten Simón Blech schrieb. Wohl ist der Charakter eines Chopin-Nocturnes im langsamen zweiten Satz des Konzertes eine – unbewusste oder bewusste – Reverenz vor dem aus Polen stammenden Auftraggeber. Den Klagegesang des Bandoneons untermalen Solostreicher, Harfen und schließlich das ganze Orchester. Treten hier Tangorhythmen nur peripher in Erscheinung, so dominieren sie die Ecksätze deutlicher, wenngleich auch innerhalb anderer Ausdrucksformen: einer Art Rhapsodie mit frei sich entfaltenden Grundmustern und einer nachdenklichen Kadenz des Soloinstruments im ersten Satz und im Finale einem turbulenten neobarocken Concerto-Satz. Mitten drin bricht er ab. Es setzt ein langsamer, pulsierender Tango ein: «Melancolico Final».

© Grafenegg Kulturbetriebsges.m.b.H. | Rainer Lepuschitz

Maurice Ravel

Boléro

Sätze

  • Tempo die Boléro, moderato assai

Dauer

16 Min.

Entstehung

1929

Maurice Ravel formulierte es einmal ganz lakonisch so: «Ich habe nur ein Meisterwerk geschaffen, das ist der ‹Boléro›, leider enthält er keine Musik.» – Was sich wie beinharte, überzogene Selbstkritik ausnimmt, ist freilich bloß die nüchterne Analyse eines vom Komponisten einmal ausdrücklich so bezeichneten «Experiments»: Es existiert wohl keine zweite Viertelstunde in der abendländischen Musikgeschichte, in der die gegensätzlichen Prinzipien von Abwechslung und Wiederholung so exzessiv und gleichsam «nackt» gegeneinander ausgespielt würden wie hier. In seiner «Monotonie und Monomanie, seiner Starrheit, unerbittlichen Mechanik und einzigartigen Gleichförmigkeit» (Attila Csampai) scheint das Werk trotz gewaltigen Orchesterapparats die Idee der Mehrstimmigkeit gar grundsätzlich zu leugnen. Denn Ravel reduziert hier das Phänomen Musik in radikaler Unerbittlichkeit auf die Anwendung eines einzigen Verfahrens: jenes der Variation. Und zwar gerade nicht in der üblichen Form der Abwandlung einer melodischen Bewegung mittels Erweiterung oder Reduktion, sondern einzig über Modifikationen von deren Klangfarbe.

Nach einer knappen Einleitung, die den allgegenwärtigen Boléro-Rhythmus der kleinen Trommel über einer denkbar simplen, gezupften C-Dur-Bassformel inauguriert, werden zwei Themen A und B in der starren Abfolge AABB beständig wiederholt: anmutig und rein tönt das erste (A), eine schwerelos wirkende Arabeske (zunächst Flöte, dann B-Klarinette); unfein, fast anstößig dagegen das zweite (B) mit seinen widerspenstigen Synkopen in vom Blues geprägter Chromatik (Fagott, gefolgt von der frechen Es-Klarinette). Unmerklich werden Trommel-Rhythmus und Bass kontinuierlich durch weitere Instrumente verstärkt, während Oboe d’amore, dann im Verein Flöte und gestopfte Trompete jeweils das A-Thema wiederholen, gefolgt von Tenor- sowie Sopranino-Saxophon mit ihren Varianten des B-Themas.

Dass sich Ravel aber weder mit den wechselnden Farbwerten bloßer solistischer Reihung noch mit reiner Addition der instrumentalen Kräfte zufrieden gibt, zeigt schon der nächste Einsatz. In einer wahrlich ausgefuchsten Kombination treten da Piccoloflöten, Horn und Celesta mit dem A-Thema hervor, spielen aber gleichzeitig in verschiedenen Tonarten: Zum C-Dur der Celesta kommen Horn und 2. Piccolo in G-Dur, während sich das erste in E-Dur darüber legt – eine glitzernd-irisierende Kolorierung, die einer Orgelmixtur gleicht.

Eine Tabelle aller Instrumentierungsfinessen würde wohl der strikt rationalen Planung des Werkes am ehesten gerecht werden – doch dadurch wäre man abgelenkt von der magisch-rituellen Wirkung, die der Boléro in erster Linie entfacht: Denn selbst wer das AABB-Schema eine Weile aufmerksam mitzuverfolgen versucht, verliert sich irgendwann unweigerlich in dem unerhörten Sog der Musik, die in einem riesigen Crescendo anschwillt. Eine gewaltige Steigerung baut sich auf, bis schließlich das unverdoppelte Melodiepaar AB folgt, worauf die Orchester-Maschinerie nach 328 Takten schließlich außer Kontrolle gerät und «abhebt»: eine ekstatische E-Dur-Explosion lässt das bisher herrschende C-Dur zerbersten. Nur mit einem gewaltsamen Modulations-Manöver kann das überhitzte Triebwerk wieder in sein C-Dur-Gleis zurückgezwungen werden – heulende Posaunen­glissandi und ein kollektiver Aufschrei prägen die knappen Schluss­takte.

Für die Tänzerin Bronislava Nijinska als Ballettmusik entstanden und am 11. November 1928 in der Pariser Oper uraufgeführt, hat sich der Boléro in der Folge zu einem der beliebtesten Stücke der klassischen Musik überhaupt, aber auch zu einer der härtesten Konzert-Herausforderungen für Orchester und Dirigenten entwickelt: Stupende instrumentale Virtuosität und ein kühler Kopf beim strikten Durchhalten des relativ langsamen Tempos sind unabdingbar. Dazu formulierte Ravel selbst anlässlich denkbar unterschiedlicher Aufführungen unter Arturo Toscanini und Wilhelm Furtwängler das Paradoxon: «Wenn man den Boléro schnell spielt, so scheint er lang; wenn man ihn aber langsam spielt, so erscheint er kurz.»

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Walter Weidringer