Archiv: Grieg & Sibelius

Wien Musikverein Großer Saal Musikverein | Großer Saal

Interpreten

  • Benjamin Beilman, Violine
  • Tabita Berglund, Dirigentin

Programm

Musik, die von Herzen kommt und zu Herzen geht: Mit Tabita Berglund am Pult begleiten die Tonkünstler den «skandinavischen Faust» Peer Gynt nach Noten Edvard Griegs auf Reisen durch Welt und Seele, die ihn von der Sahara in die Halle des Bergkönigs führt. Im Finale von Jean Sibelius’ großartig-rhapsodischem Violinkonzert, das Benjamin Beilman mit Feuer erfüllt, wollte ein britischer Kritiker gar eine «Polonaise für Polarbären» erkennen. Da ist es nur mehr ein Bärensprung ins reale Polen, wo Witold Lutosławski Einflüsse aus Volksmusik, Barock und Moderne zu einem hinreißenden Virtuosenstück fürs ganze Orchester steigert.

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Edvard Grieg

Peer-Gynt-Suite Nr. 1 op. 46

Sätze

  • Morgenstimmung, Allegretto pastorale

  • Ases Tod, Andante doloroso

  • Anitras Tanz, Tempo di Mazurka

  • In der Halle des Bergkönigs

Dauer

15 Min.

Es ist eine bunte, abenteuerliche und märchenhafte Welt, in die Henrik Ibsen seine Leserschaft mit dem Drama «Peer Gynt» entführt. Zunächst als «Lesedrama» konzipiert, schildert «Peer Gynt» die Lebensgeschichte eines fantasiebegabten Bauernsohns, der der Enge seiner Herkunft zu entkommen trachtet, sich in Liebes- und Entführungsabenteuer stürzt, dann aber in die Welt zieht und in Marokko durch Sklavenhandel reich wird. Betrügereien seiner Geschäftspartner versetzen ihn bald wieder in die Armut; alt und mittellos kehrt Peer Gynt in seine Heimat zurück, wo er aber durch die Liebe seiner Jugendfreundin Solvejg, die ihm durch all die Jahre die Treue gehalten hat, aufgefangen wird.

Ibsens «Peer Gynt» erweist sich als sehr erfolgreich, und so beschließt der Dichter, das Werk als Bühnendrama auszuführen und es auch mit Musik zu versehen, was im Theater dieser Zeit durchaus üblich ist. Seine Wahl fällt auf Edvard Grieg, der sich in der Musikwelt bereits einen Namen gemacht hat, und Ibsen schlägt ihm in einem ausführlichen Brief vom 23. Jänner 1875 nicht nur vor, die Musik zu «Peer Gynt» zu komponieren, sondern hat bereits sehr genaue Vorstellungen, an welchen Stellen Musik welcher Art erklingen solle. Grieg nimmt den Vorschlag sofort an, und so entsteht eine umfangreiche Bühnenmusik von insgesamt 26 Nummern; in dieser Mischung von Theaterspiel und Musik wird «Peer Gynt» am 24. Februar 1876 in Christiania – heute Oslo – uraufgeführt.

Grieg zweifelt allerdings an der Aussicht auf eine europaweite Verbreitung des gemeinsamen Werks, und daher beschließt er 1888, einzelne Sätze aus dem dramatischen Kontext zu lösen und zu einer Orchestersuite zusammenzustellen. Mit Bedacht wählt er besonders «griffige», vom Publikum akklamierte Nummern: Auf die «Morgenstimmung», die wohl zum populärsten Werk Griegs überhaupt geworden ist, folgen «Ases Tod», «Anitras Tanz» und «In der Halle des Bergkönigs». Diese Abfolge hat mit der Position der Nummern in der ursprünglichen Schauspielmusik nichts zu tun; so erklingt etwa die «Morgenstimmung» im Drama erst im Schlussteil, der die Läuterung des alt gewordenen Peer Gynt thematisiert. Grieg lässt sich bei der Konzeption der Suite offensichtlich bloß vom Prinzip der musikalischen Dramaturgie leiten, und der Erfolg gibt ihm recht.

Die Morgenstimmung beginnt mit einer wiegenden, zart bewegten Melodie in der Flöte, die von der Oboe abgelöst wird – wir erleben einen frühen Morgen mit Vogelgesang, und in der sich steigernden Entwicklung beherrschen immer mehr Licht und Sonne das Geschehen: Die Melodie wird vom Streicherchor übernommen, die Klangintensität nimmt stetig zu. Auf die Höhepunkte im Glanz des vollen Orchesters folgt ein Abebben, das jedoch nichts Resignatives an sich hat; eher symbolisiert die wiederkehrende Flötenmelodie des Beginns ein Verharren in der Stimmung von Beglückung und Hoffnung.

In Ases Tod tritt Peer Gynt an das Sterbelager seiner Mutter Ase und versucht, sie mit fantasievollen Berichten abzulenken; die Mutter hört glücklich lächelnd zu, schläft ein und hat einen sanften Tod. Eine langgezogene, aufsteigende Melodie verkörpert die melancholische, aber nicht tragische Stimmung dieser Szene, und sehr eindrucksvoll weiß Grieg das «Hinüberdämmern» der alten Frau zu zeichnen: Die Melodie erklingt in ihrer Umkehrung; sie sinkt nun hinab und wird so zum musikalischen Gleichnis für das Verlöschen eines Lebens.

Anitras Tanz steht für eine der afrikanischen Episoden im bewegten Leben des Peer Gynt: Anitra, die schöne Tochter eines arabischen Fürsten, versucht, ihn mit einem aufreizenden Tanz zu verführen. Ein tänzerisch bewegtes Thema beherrscht mit zahlreichen Wiederholungen und Umformungen die Szene; raffinierte Klangmischungen und häufiges Pizzicato der Streicher stehen im Dienst eines «orientalischen» Kolorits, das den Verführungskünsten der schönen Tänzerin den spezifischen Reiz gibt.

Die Episode In der Halle des Bergkönigs, die Grieg an den Schluss der Suite stellt, ist als stetes, großes Crescendo angelegt. Peer gerät – in einer traumhaften Fantasie – in das Reich des «Bergkönigs» und wird von dessen Trollen gepeinigt und verfolgt. Ein markantes Marschthema erscheint zunächst leise in den Bässen, wird von anderen Instrumentengruppen übernommen und steigert sich zu wildem Taumel. Entfesselter «Lärm» mit Pauken und Becken markiert schließlich das «Zusammenkrachen» des Berges, der die Trolle unter sich begräbt – ein schaurig-fantastischer, gleichwohl wirkungsvoller Abschluss der farbenreichen Szenenfolge.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H. | Thomas Leibnitz

Jean Sibelius

Konzert für Violine und Orchester d-Moll op. 47

Sätze

  • Allegro moderato

  • Adagio di molto

  • Allegro, ma non tanto

Dauer

33 Min.

Jean Sibelius’ Konzert für Violine und Orchester rückt die Violine eindeutig in den Mittelpunkt des Geschehens und überträgt dem Soloinstrument quasi die «Titelrolle». Von der Tra­dition der symphonisch angelegten Form weggehend, erzielt der Kom­ponist eine Synthese zwischen dem Symphonischen und dem Vir­tuo­sen. Das Hauptthema wird immer von der Violine vorgestellt, die Musik entwickelt sich nicht mehr aus einem Dialog zwischen Violine und Orchester, wie es beispielsweise in der Wiener Klas­sik üblich war, sondern mehr aus strukturellen Wech­seln zwischen dem Solopart und der Begleitung. Der Kom­po­nist teilt we­sen­tliche Bestandteile eines Instrumental­kon­zer­tes der Solo­vio­li­ne zu, so ist sie mitunter auch mit Auf­gaben be­traut, die traditionellerweise dem gesamten Orchester zufallen würden.

Der erste Satz (Allegro moderato) leitet mit einer für Sibelius typischen Streicherkulisse ein, die die Spielfläche in vorsichtigen Wipp­bewegungen «con sordino» mit der Farbe d-moll grundiert. Die Solovioline stellt sich mit einer melancholischen Kantilene vor und lässt augenblicklich erkennen, dass diese Musik aus ei­ner Gegend kommt, in der Tageslicht zum Kostbarsten gehört. Gleich­­zeitig kann man aber auch Sehnsucht und unterdrückte Ge­­fühle hinter den Noten erahnen, die im weiteren Verlauf im­mer hörbarer werden und Anflüge von rhapsodischem Tem­pe­ra­ment zeigen. Das melodische Geschehen entwickelt sich, die Violine vergrößert allmählich ihren Spielraum und ertastet die Weite des Raumes, der ihr im gesamten Werk reichlich zuteil wird. Lange Arpeggio-Bewegungen und Sprünge weiten den Ton­­­­umfang des Soloparts immer mehr aus und beschleunigen die Bewegung, die in der ersten Solokadenz mündet. Mit vornehm klingenden Sexten-Bewegungen leitet die Violine das zweite Thema des Satzes ein und führt das Geschehen erneut zu einem wild-romantischen Höhepunkt, das nach einem Auf­brau­sen in Wartestellung verharrt: Durch einen kühnen Sprung spannt die Violine nun eine Feder, die eine weitere Solokadenz in Gang setzt. Schon nach diesen wenigen Minuten kann die Violine genug Material aus dem bisher Erklungenen schöpfen, um sich nach einer Erinnerung an die wichtigsten Elemente der Weiterentwicklung zuzuwenden. Das Orchester «assistiert» hier der Violine bei neuen virtuosen Streifzügen und stellt danach ein ei­genes Seitenthema vor, das zum Schluss des Satzes wiederum von der Violine kommentiert und abgerundet wird. Die letzten Tak­te des ersten Satzes wecken Erinnerungen an die virtuosen Fi­nali in den Violinkonzerten von Felix Mendelssohn und Max Bruch.

Im zweiten Satz (Adagio di molto) stellt Sibelius ein weit ausgreifendes und trotzdem schlicht gehaltenes Thema vor, das eben­mäßig und ohne übertriebenes Pathos erklingt. Der eigent­li­che Reiz des langsamen Satzes liegt in seinen verborgenen Qualitäten und dem Tiefgang, der durch subtile Zurückhaltung er­zielt wird. Die Solovioline besticht durch gleichzeitig gespielte Rhythmen, gebrochene Oktavenreihen und feingliedrige Trio­len­­figuren – einmal mehr zeigt sich, dass echte Virtuosität niemals allein durch technische Perfektion oder gar Geschwindig­keit erreicht werden kann. Die Farben, die Sibelius einsetzt, ge­ben tiefen Einblick in seine profunde Kenntnis des Instru­men­tes und seiner Verbundenheit zu ihm. Von der bittersüßen In­nigkeit in den tiefen Lagen bis zum dreigestrichenen D, das die Violine gegen Ende des Satzes als Ausdruck innerster Gefühle erklimmt, reicht hier die Palette. Mit einer Reprise des Haupt­the­mas schließt sich der Adagio-Kreis wieder.

Als «Polonaise für einen Eisbären» bezeichnete ein britischer Musikwissenschaftler den dritten Satz (Allegro ma non tanto) des Violin­konzertes. Die freien Assoziationen zu diesem Finale reichen noch weiter, so fand ein Biograf von Sibelius, dass die Musik klinge «als hätte ihr Schöpfer den Großteil seines Lebens an den Ufern der Donau verbracht.» Und tatsächlich weicht jegliche Zurückhaltung, auskomponierte Lichtkargheit und zartherbes Flair einem tänzerischen und übermütig auf­trump­­fenden The­ma, das rhythmisch einprägsam heran­galop­piert. Die freie Asso­­zi­ation mit den Donau­gestaden scheint leicht nachvollziehbar: wir­beln­­des Wasser, aufbrausendes Tem­pe­ra­ment und erregtes Gemüt dominieren die Er­öf­fnung dieses Satzes. Das Seiten­the­ma, das vom Orchester vorgestellt wird, fügt sich präzise in den Charakter des Satzes ein. Die punk­tierten Streicher­be­we­gun­gen verwandeln sich bald in eine etwas gehemmte Un­ter­malung: Plöt­z­­lich legt die Violine die Mas­­ke des jugendlichen Esprits ab, be­schwört mit irrlichternden Flageolett-Figu­ren hexen­haf­te Fratzen he­rauf, die kaum greifbar he­rum­­schwir­ren. Die lan­ge Schlusssteigerung wird wiederum von ausufernder Virtuosität ge­prägt: das Solo­instrument greift auf die Eröf­fnung des Kon­zertes zu, erweitert den Tonraum und führt noch einmal ein Skelett des Hauptthemas vor – all das aber in der ausgelassenen und le­bens­bejahenden Kraft, die den Charakter des Finales ausmacht. Eine letzte Fanfare des Orchesters ist die Steigleiter, an der die Violine ihren großen Schlusslauf beginnt, um am Ende völlig selbständig himmelwärts zu schießen und das Werk «von oben» – so wollte Sibelius diesen Satz gespielt ha­ben – zu beschließen.

© Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore

Witold Lutoslawski

Konzert für Orchester

Sätze

  • Intrada. Allegro maestoso

  • Capriccio notturno e arioso. Vivace

  • Passacaglia, Toccata e Corale. Andante con moto

Dauer

29 Min.

Entstehung

1954

Witold LutosŁawski hatte schon als kleiner Bub verstanden, dass verheerende Konflikte, Unterdrückung, Gewalt und politische Willkür zu den finstersten Erscheinungen der menschlichen Ordnung gehören. 1913 in Warschau als Sohn adeliger Eltern geboren, wuchs er in einer politisch engagierten Familie auf. Sein Vater Józef war in der demokratischen Bewegung «Endecja» aktiv und setzte sich während des ersten Weltkriegs für eine Unabhängigkeit Polens vom zaristischen Russland ein. Um die Entwicklungen aus der Nähe verfolgen zu können, reiste er mit seiner Familie und seinem Bruder Marian nach Moskau. Die beiden Revolutionen im Februar und Oktober 1917 änderten alles, Russland stieg aus dem Kriegsgeschehen aus und verordnete den ehemaligen zaristischen Provinzen den Frieden. Für das seit 1815 im Rahmen des Wiener Kongresses geteilte Polen bedeutete das immer noch keine Unabhängigkeit, die Bemühungen der Lutosławskis waren im Konflikt mit der jungen Sowjetunion. Man verhaftete die Brüder und setzte einen Prozess an. Der gerade fünfjährige Witold konnte seinen Vater noch einmal im Gefängnis besuchen, bevor dieser noch vor (!) der Gerichtsverhandlung von einem Erschießungskommando hingerichtet wurde.

Nach Warschau zurückgekehrt, lernte Witold Klavier und Violine, später studierte er Komposition und Mathematik. Seine Pläne, nach dem Studienabschluss 1937 nach Paris zu gehen, zerschlugen sich durch den Ausbruch des zweiten Weltkriegs. Als ausgebildeter Funker geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus der er bald fliehen konnte. Nach Warschau zurückgekehrt, schlug sich Witold Lutosławski mit seinem Freund und Komponistenkollegen Andrzej Panufnik als Klavierduo in Kaffeehäusern durch. Es war die einzige Möglichkeit für polnische Bürger, live Musik zu hören, denn Konzerte waren von den Nazis als öffentliche Versammlung verboten worden. Lutosławski arbeitete in dieser Zeit an seiner ersten Symphonie, die Skizzen konnte er glücklicherweise retten, als er 1944 aus Warschau fliehen musste, um später in seine völlig zerstörte Heimatstadt zurückzukehren.

Nach dem Krieg war man in Polen emsig damit beschäftigt, das Leben rasch in ruhige Bahnen zu bringen. Als neu gewählter Generalsekretär der polnischen Komponistenvereinigung präsentierte Witold Lutosławski 1948 seine vollendete erste Symphonie der Öffentlichkeit und damit auch der politischen Führung unter Stalins eisernem Griff. Und wie auch bei anderen Zeitgenossen, etwa Schostakowitsch und Prokofjew, lautete auch hier das Urteil auf «Formalismus» - womit die Ideologen in Moskau so gut wie alles in den kunstästhetischen Orkus verdammten, was in ihren Augen nicht leicht fasslich und allzu gebildet war. Die Kunst hatte dem Volk in dienender und erfreuender Funktion zur Verfügung zu stehen, jede weitere Anregung war unerwünscht, ja sogar gefährlich.

Nein, Lutosławski hatte es bis dahin nicht leicht gehabt und wusste nur allzu gut, dass jede Zeit ihre Umstände mit sich bringt, auf die man sich einzustellen hatte. Aber wie konnte er Künstler sein und auf seine innere Stimme hören, wenn Genosse Stalin alles übertönte? Lutosławski schrieb Gebrauchsmusik für den Rundfunk und das Theater, pädagogische Klavierstücke und Kinderlieder. Der Lutosławski der späteren Jahre, der mit völlig neuen Zugängen zur Musik überraschte und sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Erfolg gegen so manche verbreitete Mode stemmte, war in den Nachkriegsjahren noch nicht geboren. Die späten 1940er-Jahre waren der Konsolidierung gewidmet. Und doch ergab ein Auftrag von Witold Rowicki, dem Chefdirigenten der Warschauer Philharmoniker, eine günstige Gelegenheit, um sich kompositorisch zu verwirklichen. Rowicki hatte Lutosławskis Kleine Suite gehört, die für das Radio entstanden war. Für sein Orchester bestellte der Dirigent im Jahr 1950 etwas «Größeres und Brillanteres». Lutosławski wählte bewusst den Titel «Konzert für Orchester», einerseits in Anlehnung an seinen Komponistenkollegen Béla Bartók, andererseits als Ehrung an das Orchester und seiner Mitglieder – ein subtiles Plädoyer für die Individualität. Im Wissen, dass der kommunistische Machtapparat Polens ihn sehr genau beobachtete, verwendete er eine Sammlung von Volksmelodien aus Masowien (die Gegend rund um Warschau), um seinem Werk die verlangte Volksverbundenheit zu geben.

Das Konzert für Orchester zeigt sich an der Oberfläche als liebevolle Hommage an die polnische Volksmusik und garantiert derart die von der Kulturbürokratie geforderte Verständlichkeit. Allerdings greift Lutosławskis die Folklore nur recht oberflächlich auf, die Melodien dienen als Rohmaterial. Sie werden mit neuen Harmonien, atonalen Kontrapunkten und neobarocken Satzformen kombiniert und haben somit nur geringen Einfluss auf die endgültige Gestalt der Musik. Lutosławski manövrierte so an den auferlegten Beschränkungen elegant vorbei und schrieb ein anspruchsvolles und zugleich persönlich gefärbtes Werk.

Die Satztitel entlehnte Lutosławski aus dem Frühbarock, die einen Kontrast zum folkloristischen Grundton der Musik bilden. Die einleitende Intrada steigert sich bis zu einem ersten Höhepunkt, das pathetisch-breite Thema leitet sich aus motivischen Splittern des Violoncellos ab, in Folge verarbeitet Lutosławski die musikalischen Gedanken zu einem komplexen Geflecht – dabei behält er jedoch stets eine verblüffende Fasslichkeit bei. Die Intrada wendet sich schließlich fast magischen Sphären zu: Über Flageolett-Klängen mit repetierten Tönen der Celesta erklingen die Anfangsmotive wie aus einer Traumwelt.

Das Capriccio notturno e arioso ist dreiteilig angelegt: In gehetzter Stimmung flirren die Töne umher, um schließlich vom ernsten Arioso des Mittelteils abgelöst zu werden. Die Schwere der Musik wird alsbald wieder vom huschenden Capriccio-Charakter abgelöst. Der spätere Lutosławski blitzt hier schon hervor, wenn die Blasinstrumente fast schon geräuschhaft eingesetzt werden und einen kleinen Vorgeschmack auf die kompositorische Freiheit späterer Jahre geben.

Die abschließende Passacaglia, Toccata e Corale ist der Höhepunkt des Konzerts für Orchester. Das gesamte Finale legt Lutosławski als eine Abfolge von Überraschungsmomenten an: Die Basslinie der Passacaglia wandert durch das ganze Orchester, durchbrochen von schrillen Einwürfen der Blechbläser. Die energisch vorwärtsstrebende Toccata wird vom Choral (Corale) in den Oboen und Klarinetten unterbrochen, bis eine unscheinbare Steigerung plötzlich die Überhand gewinnt und das Konzert in einem spektakulären Finale zum effektvollen Abschluss bringt.

Lutosławskis Konzert für Orchester wurde nach vierjähriger Kompositionszeit am 26. November 1954 in Warschau uraufgeführt. Das Werk machte seinen Schöpfer schlagartig auf beiden Seiten des eisernen Vorhangs bekannt, er selbst distanzierte sich später gern von seinem Konzert und meinte lapidar: «Ich mag dieses Werk von mir nicht besonders, aber es hat sich offenbar einige Frische bewahrt.» Die besagte Frische ist nur eine von vielen Qualitäten dieser Musik – nicht zuletzt ist das Konzert für Orchester bis heute ein unangefochtener Klassiker des 20. Jahrhunderts.

© NÖ Tonkünstler Betriebsges.m.b.H. | Alexander Moore