Archiv: Lieben Sie Nielsen

Wien Musikverein Großer Saal Musikverein | Großer Saal

Interpreten

  • Albert Hosp, Moderation
  • Dmitry Matvienko, Dirigent

Programm

Ein statisches Flirren der Bratschen, zu dem sich zwei Fagotte mit einer rätselhaft klagenden Melodie gesellen: Schon der Beginn von Carl Nielsens fünfter Symphonie scheint «aus dem Weltraum» zu kommen, wie ein Nielsen-Forscher einmal feststellte. Unbeschreibliches entwickelt sich daraus: ein dramatischer Wechsel von prachtvoller Melodik und beängstigenden Schlagzeugattacken, von Niederschmetterndem und Erhebendem. Gut und Böse, Licht und Dunkel, Tat und Traum scheinen zu kämpfen. Albert Hosp und die Tonkünstler unter Dmitry Matvienko sind die Reiseführer auf einer unvergesslichen Entdeckungstour durch wenig bekanntes symphonisches Terrain.

Auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht: Alle Konzerte der Reihe «Erklärt. Erlebt!» haben eine Pause! Weitere Informationen zum Format und zum Ablauf gibt es hier.

Mein Besuch

0 Einträge Eintrag

Voraussichtliche Besuchszeit

Liste senden
Carl Nielsen

Symphonie Nr. 5 op. 50

Sätze

  • Tempo giusto - Adagio

  • Allegro - Presto - Andante poco tranquillo

Dauer

38 Min.

Carl Nielsens Symphonie Nr. 5 entstand zwischen 1920 und 1922. Die erste Hälfte schrieb Nielsen in dem Haus Højbo in Tibberup, das ihm seine Freunde, der Fabrikant Carl Johan Michaelsen und seine Frau Vera, zur Verfügung gestellt hatten; ihnen wurde das Werk zum Dank später gewidmet. Am 30. März 1921 war der erste Satz beendet, doch dann geriet Nielsen in eine Schreibblockade. Er machte sich zunächst an eine Auftragskomposition, die Kantate «Fynsk Foraar» (Frühling auf Fünen). Erst im Herbst ging er wieder an die Symphonie und vollendete sie am 15. Jänner 1922. Nielsen selbst gab nur zehn Tage später, am 24. Jänner, mit dem Orchester der Musikvereinigung in Kopenhagen die Uraufführung, die ein lebhaftes Echo fand. Nielsen hat den meisten seiner Symphonien Untertitel beigegeben, nicht jedoch der Fünften, über die er sich am 24. Januar 1922 in der Zeitung Politiken wie folgt äußerte: «Auch meine erste Symphonie bekam keinen Namen. Dann kamen ‹Die vier Temperamente›, die ‹Espansiva› und ‹Das Unauslöschliche›, doch sind dies eigentlich nur unterschiedliche Namen für stets das Gleiche, für das Einzige, das Musik auszudrücken vermag, wenn alles gesagt und getan ist: Die Kraft der Ruhe gegenüber der Kraft des Aktiven. Wenn ich für meine Fünfte einen Namen finden müßte, würde er etwas Ähnliches ausdrücken. Es ist mir jedoch nicht gelungen, das eine Wort zu finden, das gleichermaßen charakteristisch und nicht zu prätentiös dafür wäre – so habe ich es gelassen.» Die dem Werk zugrundeliegende Idee beschrieb er so: «Ich rolle einen Felsen einen Hügel hinauf, benutze meine Kraft, um den Stein auf den Gipfel zu bringen. Dort ruht der Fels still. Die Energie ist darin gebunden, bis ich ihn anstoße, die Energie wird wieder freigesetzt und der Stein rollt herab. Doch das ist kein ‹Programm›! Solche Erklärungen und Anleitungen des ‹Gehalts› können nur schlecht sein, führen den Hörer in die Irre und verderben die Allgemeingültigkeit des Werkes.» In der Tat findet sich auf der Rückseite der Entwurfpartitur Nielsens Vermerk: «Dunkle, ruhende Kräfte / erwachte Kräfte.» Zudem enthält der Höhepunkt des ersten Satzes die kuriose Anweisung für den Trommler, er möge «auf eine Art und Weise improvisieren, als ob er um jeden Preis den Fortschritt des Orchesters aufhalten möchte». Doch auch ohne solche Erklärungsversuche spürt der Hörer, dass in dieser zweiteilig gehaltenen Symphonie elementare Kräfte am Werke sind.

Der erste Satz beginnt mit einem Streicher-Teppich, über den sich ein ausgedehntes Thema spannt, ähnlich wie in Bruckners Siebenter, mehr noch der ersten Symphonie von Tschaikowski, zunächst von den Fagotten vorgestellt. Doch bald greifen störende Elemente ein. Nach etwa zehn Minuten scheint ein choral-artiges, wiederum in seiner Inbrunst an Bruckner erinnerndes Adagio-Thema Frieden stiften zu wollen, doch dies entpuppt sich als trügerisch, und schließlich türmt sich der Satz zu einem gewaltigen Höhepunkt mit der erwähnten Schlagzeug-Kadenz auf. Die Art und Weise, wie dieser wilde Marsch über alles hinwegfegt und nur noch Schutt und Asche hinter sich lässt, nimmt auf verstörende Weise den ersten Satz der «Leningrader»-Symphonie von Schostakowitsch vorweg.

Im zweiten Teil versucht Nielsen, die Ordnung wiederherzustellen, denn der Satz beginnt mit einer herkömmlichen Sonaten-Exposition zweier Themen – ein schwungvolles Allegro und ein wiegendes, von der Oboe begonnenes Seitenthema. Doch die angepeilte Sonatenform fällt vor den Ohren des Hörers auseinander: Anstelle der zu erwartenden Durchführung stehen zwei Fugen – eine schnelle und eine langsame. Anders als in der vierten Symphonie, in der die regenerativen Kräfte des Intuitiven sich als «Das Unauslöschliche» erweisen, soll hier in der Ratio die «Lösung» liegen: In der barocken Semantik galt die Fuge als Symbol «höchster Ordnung». Doch beide führen ins Nichts, und auch die als Coda fungierende Reprise des Satzbeginns wirkt eher verzweifelt. Der ganze Satz kreist praktisch in sich selbst gefangen; darüber kann auch der kurze, bombastische Dur-Schluss dieses tragischen Werkes nicht hinwegtäuschen. Es ist kein Wunder, dass man später zu dem Eindruck kam, Nielsen habe in seiner Fünften den zweiten Weltkrieg vorausgeahnt.

© Grafenegg Kulturbetriebsgesellschaft m.b.H. | Benjamin Gunnar-Cohrs