György Ligeti

«Atmosphères» für Orchester

Dauer

9 Min.

György Ligeti, 1923 in Siebenbürgen geboren, wollte eigentlich Physik und Mathematik studieren; da ihm aber 1941 aufgrund seiner jüdischen Herkunft der Zugang zur Universität verwehrt wurde, verlegte er sich auf die Musik. Nach dem Ende des Krieges wollte Ligeti seine Studien bei Béla Bartók fortsetzen, doch starb dieser, bevor er aus seinem amerikanischen Exil nach Ungarn zurückkehren konnte. Sándor Veress und Ferenc Farkas wurden daraufhin seine wichtigsten Lehrer. Von 1950 bis 1956 unterrichtete Ligeti an der Budapester Musikhochschule, wobei ihn die Enge des kommunistischen Regimes immer stärker belastete. «In der stalinistischen Diktatur war selbst Folklore nur in politisch korrekter Form erlaubt, zurechtgebogen gemäß den Normen des sozialistischen Realismus.» ­(György Ligeti) Die leise Öffnung nach Westen im Frühjahr 1956 beflügelte ihn dann ungemein, konnte er doch erstmals vergleichsweise ungehindert seiner Leidenschaft frönen, neue und vor allem neueste musikalische Entwicklungen zu studieren. Die brutale Niederschlagung der Freiheitsbewegung im November 1956 durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen und neuerlich zu erwartende Repressionen in weit größerem Ausmaße ließen Ligeti keine Wahl: Wie viele andere floh auch er, gemeinsam mit seiner Frau Vera, in den Westen und kam im Dezember 1956 nach Wien. Sein Weg führte ihn wenig später weiter nach Köln, wo er sich intensiv mit allen neuen musikalischen Strömungen auseinandersetzte. Mit den beiden Orchesterwerken «Apparitions» (das 1960 als Sensation gefeiert wurde) und vor allem «Atmosphères» (am 22. Oktober 1961 in Donaueschingen uraufgeführt) war Ligeti schlagartig international beachtet. Allerdings blieb er bei der damaligen Entwicklung keineswegs stehen sondern forschte weiter, suchte und fand neue Ausdruckswelten. Davon zeugen Werke wie etwa «Poème Symphonique» für 100 Metronome, die «Aventures» für drei Sänger und sieben Instrumentalisten, «Lux aeterna» für 16stimmigen gemischten Chor a cappella, die Oper «Le Grand Macabre», weitere Orchesterstücke oder seine Etüden und sonstigen höchst originellen Werke für Klavier. Er lebte später überwiegend in Hamburg (dort unterrichtete er von 1973 bis 1989 an der Musikhochschule) und, seit 1967 österreichischer Staatsbürger, in Wien, wo er auch seine letzten Lebensjahre verbrachte. Ligeti starb im Juni 2006; er erhielt ein Ehrengrab der Gemeinde Wien am Zentralfriedhof.

Ligeti selbst erläutert die «Atmosphères» folgendermaßen: «Ich nahm mir vor, in meinem nächsten Werk [nach den «Apparitions»] die Dualität von klaren Einzelgestalten und dichten Verschlingungen auszuschalten und die musikalische Form nur aus dem klanglichen ‚Hintergrund’ hervorgehen zu lassen, wobei dieser ‚Hintergrund’ nicht mehr als solcher bezeichnet werden kann, da kein ‚Vordergrund’ mehr vorhanden ist. Es handelt sich nun um ein den ganzen musikalischen Raum gleichmäßig ausfüllendes feinfasriges Gewebe, dessen interne Bewegungen und Veränderungen die Artikulation der Form bestimmen. (…) Es gibt in der auf diese Weise entstandenen Form keine gegensätzlichen Elemente und keine Wechselwirkungen mehr; die verschiedenen Zustände des musikalischen Materials lösen einander ab, oder es wandelt sich einer fast unmerkbar in den andern um, ohne dass es zu kausalen Zusammenhängen innerhalb des Formverlaufs käme.» In dieser Erläuterung des schon Anfang der Fünfziger Jahre erdachten, aber erst 1961 ausgeführten Werkes sind vor allem zwei Dinge wesentlich: Einerseits verweist Ligeti auf die quasi unmerkliche Entwicklung des Stückes von einem Abschnitt zum nächsten. «Atmosphères» besteht aus 22 Teilen unterschiedlicher Länge, die allesamt individuell gegliedert sind und aus dichten chromatischen Clustern (Klangtrauben) bestehen. Andererseits heißt das «den ganzen musikalischen Raum gleichmäßig ausfüllende feinfasrige Gewebe» für den Dirigenten, die Töne einzelner Instrumente unter Hintanstellung jeglicher Individualität nur im Zusammenklang der Textur hörbar zu machen. Ligeti bringt das anderenorts nochmals auf den Punkt: «Es fehlt darin jede Art von Figur oder rhythmische Gestalt. Die Form besteht ausschließlich aus Transformationen der Klangfarbe und Lautstärke.» Ganze 73 Systeme umfasst die Partitur, im Laufe derer erstens lange Liegetöne, die untereinander Schwebungen erzeugen, zweitens irisierende Bewegungen im kleinsten Tonraum sowie als dritte Variante mosaikartige Klangflächen hinter- und übereinander geschichtet werden – wobei sich hinter all dem auch noch, freilich unhörbar, komplexe kontrapunktische Techniken verbergen. An der dramatischsten Stelle der Komposition, am Schnittpunkt des siebenten und achten Teils, schweben nur mehr wenige Bläser in höchsten Höhen, als schroff mit größter Heftigkeit acht Kontrabässe dreinfahren: Ein wahrer Sturz in den Orkus! Andreas E. Beurmann und Albrecht Schneider beschrieben den Gesamtverlauf der «Atmosphères» vielleicht am Treffendsten: «Ein zartes Einschwingen, ein Kommen aus dem Nichts, fünf Bereiche eines äußerst langsamen dynamischen An- und Abschwellens und das Verschwinden im Nichts, Symbol des Titels dieser  Musik, Atmosphären, Lufthüllen.»

© Grafenegg Kulturbetriebsgesellschaft m.b.H. | Markus Hennerfeind

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