Toru Takemitsu

«Family Tree» für Erzählerin und Orchester

Sätze

  • Once upon a Time

  • Grandpa

  • Grandma

  • Dad

  • Mom

  • A distant Place

Dauer

25 Min.

Entstehung

1992

Ein Mädchen im Teenageralter blättert ein Familienalbum durch und stößt dabei auf schmerzliche Wahrheiten: Ein «Family Tree» – ein Stammbaum – ist es, der hier mit dem Untertitel «Musikalische Dichtung für junge Leute» erklingt und der so gar nicht der Idee eines musikalischen Märchens a la «Peter und der Wolf» oder «Der Karneval der Tiere» entspricht, der auch dezidiert nicht allzu junge Leute, sondern eher reifere Jugendliche und Erwachsene jeden Alters ansprechen dürfte. Wie kann man sich einen solchen Stammbaum in einer vollkommen digitalisierten Welt vorstellen?

Am besten ohne Zuhilfenahme aller elektronischen Hilfsmittel. Es könnte ein schon etwas abgegriffenes Album sein, eine Fotomappe oder ein Stammbuch. Darin eingeheftet oder eingeklebt, schwarz-weiß oder in schon etwas vergilbten Farben: Fotos von Familienangehörigen. Ja, man erkennt sie gerade noch, aber die Dargestellten erscheinen einem anders, als man sie in der täglichen Erinnerung vor Augen hat. Es ist auch schon lange her, seit diese Fotos aufgenommen worden waren, die durchblätternde Person war damals noch weit jünger, in Momenten gerade neugeboren, dann fünf, sechs Jahre vielleicht oder nur wenig älter. Sie hat diese Fotos, diese Bilder so lange nicht gesehen, und sie sieht sie heute – mit dem Abstand der seither vergangenen Jahre – anders. Damals lag vielleicht mehr Selbstverständlichkeit, mehr Gleichgültigkeit in den Eindrücken. Heute berühren sie andere Ebenen, sind andere Erfahrungswerte hinzugekommen: Ja, Erinnern kann etwas sehr Schönes sein. Aber es kann auch aufwühlen und traurig machen.

Mit Toru Takemitsu hat sich einer der prominentesten japanischen Komponisten der jüngeren Geschichte dieser «Handlung» angenommen, die eigentlich kaum eine Handlung ist, sondern ein Ablauf von Gefühlen und Impulsen. Takemitsu zählt zu den produktivsten Tonschöpfern des 20. Jahrhunderts. 1930 in Tokio geboren, wuchs er teilweise in China auf. Seine Schulausbildung sollte er zwar in Japan erhalten, doch durch die Einberufung zum Militär gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit nur 13 Jahren verlief diese brüchig und in musikalischer Hinsicht weitgehend autodidaktisch. Die Kriegserfahrung, die er als «bitterste Zeit» bezeichnete, prägte sein künftiges Leben. Der Sieg der USA über Japan ermöglichte ihm freilich bald eine enge Berührung mit der «westlichen», vor allem der französischen und der nordamerikanischen Musik, darunter auch die aktuellsten Strömungen.

Kurz erhielt er Unterricht bei dem Japaner Yasuji Kiyose, letztlich unternahm er aber auch seine weiteren Studien weitgehend selbstständig. Wichtig waren für ihn nun sowohl Parallelen, die er zwischen seiner Arbeit und der Musique concrete des Franzosen Pierre Schaeffer entdeckte, als auch in sein Schaffen einfließende Elemente der japanischen Musiktradition, die er zeitgemäß einsetzte. Daneben ist in seinen ersten international wahrgenommenen Werken durchaus auch ein Bezug zur Wiener Schule um den Schönberg-Kreis zu erkennen. Weiters griff er in seinem vielgestaltigen OEuvre Anregungen und Ideen von Igor Strawinski bis John Cage auf, was ihn bald zu einem zentralen Vertreter der Neuen Musik seiner Zeit machte und zugleich das Interesse für das japanische Musikschaffen auf den internationalen Bühnen und in den Konzertsälen im Allgemeinen förderte.

Unter den vielen Personalen, welche die Bedeutung seines Schaffens unterstrichen, ist aus österreichischer Sicht der ihm gewidmete Schwerpunkt beim Festival «Wien Modern» 1993 zu nennen. Einem breiten Spektrum an originalen japanischen Instrumenten kann man in seiner Musik ebenso begegnen wie asiatischer Modalität und auch Elementen des Jazz. Wie viele andere Komponisten seiner Generation, die einst als führende Vertreter einer progressiv orientierten Avantgarde galten, wandte sich Takemitsu in späterer Folge – in seinem Fall etwa ab Beginn der 1980er-Jahre – einer allgemein verständlicheren Tonsprache zu, in der Parameter wie Diatonik und melodische Gestaltungsmittel Platz fanden. 1996 starb Toru Takemitsu mitten in einem Opernprojekt 65-jährig an einer Lungenentzündung als Komplikation während einer Krebsbehandlung.

«Family Tree» gilt nicht nur als eines seiner repräsentativsten letzten Werke und – mit mehr als 80 Aufführungen seit seinem Tod – eines seiner postum viel gespielten, es ist auch ein zentrales Beispiel für den Spätstil des Komponisten. Experimentelle Techniken der Nachkriegszeit sind in diesem Erzählstück fast völlig ausgespart. Sie spiegeln sich allenfalls in der ausgefeilten Nutzung handwerklicher Aspekte. Aus dem oben skizzierten Erlebnis der unerwarteten Begegnung mit der eigenen familiären Vergangenheit, das in ähnlicher Weise jede und jeder schon einmal hatte oder noch haben könnte, schufen der japanische Schriftsteller Shuntaro Tanikawa (deutsche Übersetzung von Irmela Hijiya-Kirschnereit) und Takemitsu ein sechsteiliges Werk für Sprecherin und Orchester. Das Alter des die Bilder studierenden und beschreibenden Mädchens ist von den Autoren als 15-jährig vorgegeben – kein Kind mehr, aber auch kein bereits völlig ausgereifter Mensch. Was die Sprecherin in ihrem Stammbaum sieht, auf ihrem Weg durch diesen erfährt, kann und wird sie prägen.

«Family Tree» ist durchaus kein in sich geschlossenes familiäres Idyll. Viel Schmerz und Leid sind darin eingewoben, und dieses Schmerzliche des Textes umfängt Takemitsu mit seiner Musik. Gerade dadurch aber, dass der Schmerz angesprochen wird, anklingt und nicht darüber hinwegzutäuschen versucht wird, liegt darin auch Heilendes, Tröstliches. Es sind impressionistische Klänge, die im ersten Moment an die Farbigkeit der Musik der Franzosen um Claude Debussy und Maurice Ravel bis zu Olivier Messiaen denken lassen. Mit ihnen führt Takemitsu in eine märchenhaft-erzählende Welt ein, in der die Sprechstimme die Stammbaum-Bilder beschreibt und von den Instrumenten illustrierende Stütze erfährt. Die Satztitel führen vom eigenen frühen Erleben oder Erträumen in «Es war einmal» über die Erinnerungen an die vier zentralen Figuren der Familie – Großeltern und Eltern – bis zu «Weit, weit weg», in dem all das Gewesene weit zurückliegt und vielleicht auch in dieser Vergangenheit bleiben soll. Leben und Tod, Schrecken und Harmlosigkeit liegen in den sechs Bildern dicht an-, bei- und übereinander. Die Zuhörenden, die Lesenden sind aufgefordert, ihre persönlichen Schlüsse aus diesem Stammbaum zu ziehen – vielleicht am eigenen «Family Tree» orientiert.

© Niederösterreichische Tonkünstler Betriebsgesellschaft m.b.H.| Christian Heindl

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